FRONTPAGE

«Friederike Heimann: In der Feuerkette der Epoche. Über Gertrud Kolmar»

Von Ingrid Isermann

 

Erst ihr Nachlass offenbarte: Sie war eine der bedeutendsten Lyrikerinnen des 20. Jahrhunderts. Friederike Heimann zeichnet in ihrer Biografie ein sehr persönliches und berührendes Porträt von Gertrud Kolmar (1894-1943), die ihr Leben als jüdische Dichterin in Deutschland schmerzlich erfahren und zum Thema ihres lyrischen und erzählerischen Werks gemacht hat.

 

Ihre Lyrik überlebte, denn ihre Manuskripte hatte Gertrud Kolmar in der Schweiz bei ihrer Schwester sichern können. Zum 80. Todestag im März 2023 erscheint eine ausführliche Biografie über das Leben der grossen in Vergessenheit geratenen Lyrikerin. Zu ihren Lebzeiten erschienen aus ihrem umfangreichen dichterischen Werk nur drei Gedichtbände: Gedichte, Preußische Wappen und Die Frau und die Tiere.
 
Gertrud Kolmar entschied sich gegen eine Flucht aus Deutschland und blieb bei ihrem Vater in Berlin. Sie musste Zwangsarbeit in der Rüstungsindustrie leisten und schrieb nachts an ihren Gedichten. 1943 wurde sie im Verlauf der sogenannten Fabrikaktion deportiert und in Auschwitz ermordet.

 

Gertrud Kolmar war die Tochter des jüdischen Rechtsanwaltes Ludwig Chodziesner (1861–1943) und seiner Frau Elise, geborene Schoenflies (1872–1930), sie war die Cousine von Walter Benjamin und dessen Bruder Georg Benjamin. Gertrud Kolmar wuchs im Charlottenburger Westend auf, dem heutigen Berliner Westend, und besuchte nach mehreren privaten Berliner Mädchenschulen 1911/12 eine haus- und landwirtschaftliche Frauenschule in Elbisbach bei Leipzig. Sie lernte Russisch und absolvierte 1915/16 ein Seminar für Sprachlehrerinnen in Berlin mit einem Diplom für Englisch und Französisch. Zu dieser Zeit hatte sie eine Liebesbeziehung mit einem Offizier, die mit einer Abtreibung und der anschliessenden Trennung endete.
 
1917 erschien ihr erster Gedichtband unter dem Pseudonym Gertrud Kolmar. Das Pseudonym erklärt sich aus der Herkunft ihres Familiennamens von der Stadt Chodziesen in der damaligen preussischen Provinz Posen, die 1878 in Kolmar umbenannt worden war. In den Jahren 1917/18 arbeitete Gertrud Kolmar als Zensorin im Kriegsgefangenenlager Rohrbeck/ Döberitz bei Berlin.
 
1921 zog die Familie Chodziesner in die Berliner Innenstadt, anschliessend 1923 nach Falkensee bei Spandau in die Villenkolonie Finkenkrug. Gertrud war während dieser Zeit Erzieherin in verschiedenen Berliner Familien, 1927 ging sie in dieser Funktion auch nach Hamburg und unternahm eine Studienreise nach Frankreich mit Aufenthalten in Paris und Dijon. Ab 1928 übernahm sie wegen einer schweren Erkrankung der Mutter die Führung des elterlichen Haushalts und arbeitete daneben als Sekretärin für ihren Vater, seinetwegen blieb sie nach 1933 in Deutschland, während ihren Geschwistern die Flucht gelang.
 
Ende der 1920er-Jahre erschienen einzelne ihrer Gedichte in literarischen Zeitschriften und Anthologien. 1934 wurde ihr zweiter Gedichtband Preußische Wappen im Verlag Die Rabenpresse von Victor Otto Stomps publiziert. Diese Veröffentlichung brachte den Verlag auf eine Liste unerwünschter Verlage des Börsenvereins des deutschen Buchhandels, von dem er dann boykottiert wurde. Kolmar durfte ab 1936 nicht mehr unter ihrem Künstlernamen publizieren, sondern nur noch unter ihrem Familiennamen Chodziesner.
 
Ihr dritter Gedichtband Die Frau und die Tiere, der im August 1938 im Verlag Erwin Löwe erschien, wurde nach der Reichspogromnacht vom 9. November 1938 in Zusammenhang mit der Auflösung der jüdischen Buchverlage verramscht.
Die Familie Chodziesner wurde infolge der verschärften Verfolgung der jüdischen Bevölkerung noch im November 1938 zum Verkauf ihres Hauses in Finkenkrug und zum Umzug in eine Etagenwohnung in einem „Judenhaus“ in Berlin-Schöneberg gezwungen.
Ab Juli 1941 musste Gertrud Kolmar Zwangsarbeit in der Rüstungsindustrie leisten. Ihr Vater wurde im September 1942 in das Ghetto Theresienstadt deportiert und starb dort im Februar 1943. Gertrud Kolmar wurde am 27. Februar 1943 im Verlauf der Fabrikaktion verhaftet und am 2. März 1943 im 32. Osttransport des RSHA ins Konzentrationslager Auschwitz deportiert und ermordet.

 
Der Autorin Friedrike Heimann gelingt es in ihrer Biografie, das tragische Leben von Gertrud Kolmar anschaulich und lebendig zu erzählen, die die Bedeutung der grossen Lyrikerin ins Zentrum rückt. 

 
ZITATE
 
Ich bin fremd.
Weil sich die Menschen
Nicht zu mir wagen,
Will ich mit Türmen gegürtet sein,
Die steile, steingraue Mützen tragen
In Wolken hinein.

 

 

Leseprobe:
Gertrud Kolmar blieb in Berlin. Sie hatte ihren alten, gebrechlichen Vater nicht allein zurücklassen wollen und gemeinsam gelang es ihnen nicht mehr, noch rechtzeitig aus Deutschland herauszukommen. An das Leben im Bayerischen Viertel jedoch hat sie sich nicht mehr gewöhnen können. Man muss nur die heute überall aufgestellten weißen Gedenktafeln in diesen Straßen zur Kenntnis nehmen, auf denen in schwarzer Schrift die fortgesetzten diskriminierenden Maßnahmen gegen Juden in jenen Jahren dokumentiert werden, um sichtbar vor Augen zu haben, warum dies unmöglich sein musste: Juden durften kein öffentliches Amt mehr übernehmen oder öffentlich künstlerisch tätig sein, Jüdinnen wurde die Anerkennung als Hebamme versagt, jüdische Kinder durften keine öffentlichen Schulen mehr besuchen und ab 1942 dann überhaupt keine Schulen mehr, Juden durften nur noch in Ausnahmefällen öffentliche Verkehrsmittel benutzen, Juden durften nur noch gelb markierte Bänke benutzen, Juden mussten ihre Wohnungen mit einem »Judenstern« kennzeichnen, Juden durften keine Zeitungen mehr kaufen, Juden wurde der Erwerb von Zigaretten versagt, und so weiter und so fort. Nicht mehr dürfen, ist versagt, ist untersagt, ist verboten, müssen, zwangsweise … Die Straßen, und nicht nur sie, wurden fremd. Und das buchstäblich. Nach einer Verordnung vom 25.7.1938 waren alle Straßen im Bayerischen Viertel, die Namen von Juden trugen, umbenannt worden. Auch die nach dem Gründer des Viertels und Architekten des Viktoria-Luise-Platz benannte Haberlandstraße wurde umgeändert in Treuchtlinger und Nördlinger Straße.
Wenige Monate nach ihrem erzwungenen Umzug schreibt Gertrud Kolmar in einem Brief vom 13. / 14. Mai 1939 an ihre jüngste Schwester Hilde Wenzel, die bereits im Frühjahr 1938 Deutschland verlassen hatte und in die Schweiz emigriert war, dass sie sich ja durchaus bemühe ihrer »hiesigen ›landschaftlichen‹ oder vielmehr ›unlandschaftlichen‹ Umgebung Teilnahme zu erweisen«, ihr dies jedoch nicht gelingen wolle:
Nun werden wir bald ein halbes Jahr hier sein, und ich bringe es einfach nicht fertig, zu dieser Gegend in ein Verhältnis – ein erträgliches oder unerträgliches – zu kommen; ich bin hier so fremd wie am ersten Tag.
Fremd fühlt sie sich in dieser Situation der Enteignung, Entrechtung und schließlich endgültiger Ausgrenzung, wie nicht wirklich innerlich anwesend, unfähig einer Teilnahme an einer Welt, die ihr jegliches Recht auf Teilhabe entzogen hat. Der eigenen Familie gegenüber jedoch blieb Gertrud voller Anteilnahme und Fürsorglichkeit bis zuletzt. So schreibt sie am 28. Januar 1940, ungefähr sechs Wochen nach Theas und Wölfchens Abreise, an ihren in England gestrandeten Bruder Georg, dass sie gerade sehr viel an »Thea und den Kleinen« denken müsse: »Ja, fast noch mehr an den Kleinen als an Thea, da er ja in letzter Zeit, während Thea meist unterwegs war, besonders oft in meine Obhut kam.«
Und vielleicht auch um den abwesenden Vater ein wenig zu trösten, erzählt sie ihm von einem gemeinsamen Spiel:
Ich besitze so eine bewegliche, japanische Papierfigur, die Hilde vor Jahren auf dem Weihnachtsmarkt kaufte ; sie kann und man kann mit ihr allerlei Kunststücke machen, weshalb Wolfgang sie den ›Grundstücksmann‹ nannte – ›Grundstück‹ war ihm bekannter als ›Kunststück‹. Dieser ›Grundstücksmann‹ ersetzte uns einen ganzen Sackvoll Spielsachen, wir konnten uns mit ihm ›stundenlang amüsieren‹, und Vati behauptet, daß er noch niemals Wolfgang so lachen gehört hätte wie bei diesem Spiel. Wer mag jetzt mit ihm spielen? Und nun gehe ich jeden Morgen, wenn ich höre, daß es am Briefschlitz klappt, erwartungsvoll zur Tür, in der Hoffnung Nachricht zu finden, bis jetzt umsonst …
Immer wieder banges Warten auf Post. Oft waren die Briefe wochenlang unterwegs, und man konnte nie sicher sein, ob sie auch wirklich ankamen und welche bedrohlichen Botschaften sie dann enthielten.
An seine Tante und an die Begegnungen mit ihr habe er eigentlich keine wirkliche Erinnerung mehr, behauptete wiederum Ben. Er habe seine Tante Trude vor allem durch die Augen seines Vaters kennengelernt, der manchmal von seiner Schwester gesprochen habe und der nicht nur mit Respekt ihre Dichtungen erwähnte, sondern auch ihre anderen Fähigkeiten hervorhob, die mit ihrer besonderen Sprachbegabung zusammenhingen, wie ihre Tätigkeit als Dolmetscherin im Kriegsgefangenenlager Döberitz während des Ersten Weltkrieges oder später dann als Sprachlehrerin und Übersetzerin. Und wenn überhaupt einmal Erinnerungen an seine ersten Lebensjahre in Berlin erwachten, dann würde er ihnen eher mit Misstrauen begegnen. Er habe inzwischen so viel über all dies gelesen und gehört, dass er nicht mehr genau wisse, was wirkliche Erinnerung sei oder vielleicht nur etwas, das er irgendwo aufgeschnappt habe.

 

Friederike Heimann studierte Germanistik, Politologie und Soziologie an der Freien Universität Berlin. Ihr Schwerpunt ist deutsch-jüdische Literatur, sie promovierte über Gertrud Kolmar. Seit 2014 engagiert sie sich im Jüdischen Salon am Grindel in Hamburg. Friedrike Heimann lebt in Hamburg.

 

Friederike Heimann
In der Feuerkette der Epoche
Über Gertrud Kolmar

Suhrkamp Verlag, Berlin 2023

Gebunden mit Schutzumschlag

462 Seiten, CHF 41.90
978-3-633-54318-2
Jüdischer Verlag, 1. Auflage

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