FRONTPAGE

«Alfonsina Storni: Meine Seele hat kein Geschlecht»

Von Ingrid Isermann

 

Zum 75. Todestag der schweizerisch-argentinischen Dichterin Alfonsina Storni ist im Limmat Verlag eine neue Publikation mit Erzählungen, Kolumnen, Provokationen und Gedichten erschienen, herausgegeben von Hildegard E. Keller. Das Buch zeigt die Dichterin von bisher unbekannten Seiten.

Am 18. Oktober 1938 reist Alfonsina Storni nach Mar del Plata, schreibt ihr letztes Gedicht «Ich gehe schlafen», schickt es an die Redaktion der Zeitung «La Nación» und wirft sich in den ersten Morgenstunden des 25. Oktober von einer Mole ins Meer. Der dramatische Schlusspunkt unter das Leben einer Frau, die heute als Feministin der ersten Stunde wiederentdeckt und gefeiert wird.

Der Lebensweg der Dichterin, deren Weg von einem kleinen Tessiner Dorf, Sala Capriasca, nach Rosario in Argentinien führte, fasziniert. Zeitlebens hat Storni als Journalistin und Schriftstellerin in einer Fremdsprache, in Spanisch, publiziert. In Argentinien ist sie seit langem ein Shootingstar, in ihrer Heimat, der Schweiz, ist sie nur einem kleinen Kreis bekannt.

 

«Ich bin eine Frau des 20. Jahrhunderts», sagte Alfonsina Sorni über sich selbst. Sie engagierte sich mit Idealismus, Witz und unkonventioneller Dichtung gegen gesellschaftliche Rollenbilder. In Argentinien wurde sie zu einer nationalen Legende, auf dem südamerikanischen Kontinent zu einer der frühesten feministischen  Schriftstellerinnen, doch in ihrer ersten Heimat, der Schweiz, blieb sie praktisch unbekannt.

Hildegard E. Keller, Literaturkritikerin und Professorin an den Universitäten Zürich und Bloomington, IN/USA, hat in ihrer Publikation als Herausgeberin fünf Gründe genannt, warum man Alfonsina Storni lesen sollte. Wer sich einmal auf diese eindringlichen, aus dem Leben gegriffenen Skizzen, Porträts und Gedichte eingelassen hat, den lassen sie nicht mehr los. Alfonsina Stornis Gedichte sind von einer Präsenz, deren Ton man selten vernimmt.

 

Fünf Gründe für Alfonsina Storni

Selbsterklärend – Männer von heute lesen Alfonsina Storni, weil ihre Gedichte poetische Zärtlichkeit in die Welt tragen und die Autorin darin noch immer ihr Herz verschenkt.

Skelett – Alfonsina Storni ist die berühmteste Schweizer Schriftstellerin, die in einer Nicht-Landessprache schrieb. Storni destruierte die für ihre Zeit charakteristische Forderung, eine Frau habe in jeder Hinsicht unerfahren in die Ehe zu gehen und welt- und lebensunkundig drin zu verbleiben (und so auch ihre Kinder zu erziehen).

Weil es einen Mythos um sie gibt, den nur Lesende überprüfen können – Alfonsina Storni ist legendär in Argentinien und ganz Lateinamerika. Generationen von Schülern lernten Gedichte von ihr auswendig. Fragt man Menschen auf den Strassen von Buenos Aires, so findet es kaum jemand für nötig, ihren Familiennamen zu nennen. Es gibt nur Alfonsina und die kennt jeder Taxifahrer: «Alfonsina? Die ging doch in Mar del Plata ins Meer».

Weil sie eine der ersten rasenden Reporterinnen war – Storni wurde unter ihrem Namen und unter dem männlich klingenden Pseudonym Tao Lao zur rasenden Reporterin – nicht wie später Egon Erwin Kirsch, indem sie die halbe Welt bereiste, sondern indem sie innerhalb des Mikrokosmos von Buenos Aires blieb. Dort forderte sie als multiple journalistische Persona ihre eigene Sicht der Dinge ein und publizierte «cronicas», literarische Reportagen oder wie auch immer man das lateinamerikanische Genre zwischen literarischer Fiktion und Journalismus nennen mag.

Weil die Grossstadt ihr Revier war – Storni verfügte über ein unerhört scharfes Auge und ein schon unheimliches Gespür für die Grossstadt, für urbane Lebensmuster, modernes Konsumverhalten und die Art und Weise, wie sich Frauen und Männer in der Öffentlichkeit zeigten.

Das Buch ist in sieben Werkgruppen gegliedert und enthält zwei Essays, fiktionale und auch autobiografisch geprägte Erzählungen, Aphorismen und Reisenotizen, eine Auswahl von Kolumnen, repräsentative Gedichte sowie autobiografische Texte und Interviews.

Hildegard E. Keller (Auszug)

 

Am 25. Oktober 2013, ihrem 75. Todestag, wird Alfonsina Storni im Kino RiffRaff im Rahmen der Veranstaltungsreihe «Zürich liest» einem interessierten Publikum vorgestellt. Das Kino ist bis auf den letzten Platz besetzt. Hildegard E. Keller orientiert über Stornis Herkunft, die schon früh Grenzüberschreitungen erforderte, wuchs sie doch in Lateinamerika auf, wohin ihre Eltern vier Jahre nach ihrer Geburt 1896 nach San Juan an den Fuss der Anden auswanderten, wo sich auch die drei älteren Brüder mit ihren Familien angesiedelt hatten.

1901 der Umzug nach Rosario, wo die Familie zunächst von den Einnahmen der Mutter als Hauslehrerin lebt. Der Vater eröffnet das «Café Suizo», mit dem er 1904 in Konkurs geht. Mutter und Tochter arbeiten fortan als Näherinnen und Schneiderinnen. 1906 stirbt der Vater und die fünfzehnjährige Alfonsina wird 1907 in die Theatertruppe von José Tallavi aufgenommen und reist eine Saison lang als Schauspielerin auf Tournee durch Argentinien.
1909 beginnt sie am neu eröffneten Lehrerinnenseminar in Coronda ein Studium und arbeitet ab 1911 als Landlehrerin in der Primarschule von Rosario. Erste Gedichte in Zeitungen und Zeitschriften werden publiziert. Ende des Jahres zieht Storni nach Buenos Aires. Sie ist schwanger und bringt ihren Sohn Alejandro am 21. April 1912 auf die Welt. Über den Kindsvater schweigt sie und bleibt unverheiratet.

 

«Zu enger Mythos»

Alfonsina Storni hat ab 1916 mehrere Gedichtbände veröffentlicht und publizierte als Feuilletonmitarbeiterin regelmässig Erzählungen und Kolumnen, erforschte die Goldenen Zwanziger Jahre in Buenos Aires und beobachtete die Menschen im Grossstadtdschungel, die Frauen, die Männer, beim Flanieren, beim Shopping, beim Tango, aber vor allem bei der Arbeit. Sie schrieb kämpferisch, mit leichter Eleganz und graziler Ironie über die Geschlechterverhältnisse. Ihre Erzählungen, die spielerische Experimente umfassten, näherten sich dem Surrealismus an. Dabei ging es ihr wesentlich um den weiblichen Blick, die weibliche Perspektive in einer patriarchalen Gesellschaft wie der argentinischen, die sie gewitzt attackierte und für sich «die Freiheit eines Mannes» einforderte.

 

«Eine Katze, die an der Leine ist, kann nur zerren und fauchen…», so Keller. Doch der enge Mythos sollte durchbrochen werden, auch mit dieser Publikation, die eine breitere Auswahl an Schriften präsentiert. Alfonsina Storni habe sich stets ihre Offenheit bewahrt und schrieb 1932: «Ich möchte nochmals neu beginnen…». Sie ist nicht zu reduzieren auf einen bestimmten Stil, ob als Rebellin oder als Feministin, sie wollte sich nie wiederholen, schrieb avantgardistische Sonette und erweiterte ihr Repertoire mit Pamphleten, Satiren oder ironischen Betrachtungen über die Moral des Mannes, vieles ausserhalb bekannter Gattungen, die nicht ohne weiteres ihr zugeschrieben wurden und sie ein Stück weit auch isolierten. Es gibt bis jetzt noch keinen geordneten Nachlass von Alfonsina Stornis Werken, die Schritt für Schritt wiederentdeckt werden.

Tatiana Crivelli, im Tessin aufgewachsen und Professorin für italienische Literatur, unterstrich in ihren Ausführungen die besondere Lebenssituation der Dichterin, deren Fotos aus ihrem Leben über die Leinwand glitten.

Die Schauspielerin Mona Petri («Verliebte Feinde») las an der Buch- und Filmpräsentation im RiffRaff bewegende Gedichte und Texte vor, untermalt vom Gitarristen Veet J. Ohnemus. Anschliessend wurde der Film «Alfonsinas blaue Momente» von Carter Ross und Elisabeth E. Keller in einer Farbsymphonie mit unterlegten Gedichten von Alfonsina Storni und der Stimme von Emily Louise Mange in Englisch präsentiert.

 

 

 

Über die Traurigkeit von Buenos Aires

 

Traurige, gerade Strassen, gräulich und gleich

Wo manchmal ein Stück Himmel aufragt

Ihre dunkeln Fassaden und der Asphalt am Boden

Löschten meine lauwarmen Frühlingsträume aus.

Wie oft bin ich auf ihnen herumgeirrt, zerstreut, verloren

Im gräuleichen Dunst, der langsam, wie eine Zier, aufsteigt.

An ihrer Monotonie leidet nun meine Seele.

«Alfonsina!» – Ruf mich nicht mehr, ich antworte nicht.

Wenn ich in einem deiner Häuser, Buenos Aires, sterbe

Und dabei an einem Herbsttag deinen gefangenen Himmel sehe

Wird mich der schwere Grabstein nicht überraschen.

Denn zwischen deinen geraden Strassen, bestrichen von

deinem Fluss

Erloschen, neblig, desolat und dunkel

War ich, als ich umherirrte, bereits begraben.

 

 

Ich gehe schlafen

 

Zähne aus Blüten und eine Haube aus Tau

Hände aus Kräutern, du, meine feine Amme.

Mach mein Bett bereit, mit Leintüchern aus Erde

Und einer dicken Decke aus gezupftem Moos.

Bald geh ich schlafen, meine Amme, bring mich ins Bett.

Stell mir ein Lämpchen hin

Irgendein Sternbild, das dir gefällt.

Mir ist jedes recht. Ein klein wenig näher bitte.

Lass mich allein. – Du hörst die Knospen aufbrechen

Von oben wiegt in Himmelsfuss dich leise

Und ein Vogel zeichnet eine Melodie dazu

Damit du vergisst… Danke. Ach, noch eine Bitte:

Falls er noch einmal telefoniert

Sag ihm, es habe nun keinen Zweck mehr, ich sei gegangen.

 

 

An einen Marsbewohner

Gibt es dich wirklich auf dem roten Planeten?
Hast du wie ich feine Hände zum Greifen
Einen Mund zum Lachen, ein Herz zum Dichten
Und eine Seele, verwaltet von zarten Nerven?

Aber ragen vielleicht in deiner Welt die Städte
Wie triste Grabmäler auf? Verwüstete sie das Schwert?
Ist dort schon alles gesagt? Stellst du mit deinem Planeten
Ein weiteres geleertes Glas zur Grossen Harmonie?

Wenn du wie ein Erdenbewohner bist, was kümmert mich denn
Dass du dich bei mir melden könntest und hier unten zu Besuch
kämst?

Ich suche neue Wesen draussen im Weltraum.

Anmutige Körper, Besitzer des himmlischen Geheimnisses
Vom geglückten Leben. Wenn du das aber nicht bist
Wenn sich alles nur wiederholt, schweig, du traurige Kreatur!

 

Hildegard Elisabeth Keller, Herausgeberin, ist Literaturkritikerin im «Literaturclub» des Schweizer Fernsehens, Professorin für deutsche Literatur an der Indiana University in Bloomington, Indiana/USA, und Titularprofessorin an der Universität Zürich sowie Jury-Mitglied für den Ingeborg Bachmann-Preis in Klagenfurt.

(Siehe auch «Fegefeuer der Ideale», Starke Schweizer Frauen, Limmat Verlag 2011, Daniele Muscionico über Alfonsina Storni, Archiv Literatur, Literatur & Kunst)

 

 

Alfonsina Storni

Meine Seele hat kein Geschlecht

Erzählungen, Kolumnen, Provokationen

Herausgegeben von Hildegard Elisabeth Keller

mit einem Vorwort von Elke Heidenreich

Limmat Verlag 2013

320 S., gebunden

CHF 44.00 € 38.00

ISBN 978-3-85791-717-2

Auch der 1995 im orte-Verlag erschienene Band mit zweisprachigen Gedichten ist noch erhältlich.

 

Alfonsina Storni

«Verse an die Traurigkeit»

orte-Verlag 1995

spanisch-deutsch

übersetzt von Hans Erich Lampl

mit einem Nachwort von Werner Bucher

www.orteverlag.ch

 

 

«Moderne Poesie in der Schweiz»

Eine Anthologie von Roger Perret

 

113 Jahre Poesie: Diese Anthologie spiegelt das poetische Schaffen in der Schweiz im 20. Jahrhundert bis heute. Die poetische Moderne beginnt in der Schweiz um 1900 mit einer Frau, die noch immer fast unbekannt ist, Constance Schwartzlin-Berberat, und sie beginnt mit Blaise Cendrars, Robert Walser und Adolf Wölfli. In einer ungewöhnlichen Chronologie folgt die Anthologie dem Lauf der Zeit. Sie ist so komponiert, dass unter den Gedichten Schwingungen und Resonanzräume entstehen, ein poetisches Gespräch, nicht als Zeitdiagnose, sondern eine Art Tiefenstrom der Geschichte.

 

So sprechen Emmy Ball-Hennings mit Annemarie Schwarzenbach, Paul Klee mit Sonja Sekula, Hermann Hesse und Jörg Steiner mit Louis Soutter oder Erika Burkart mit Luisa Famos und Anne Perrier. Poesie wird hier erstmals in ihrer ganzen Breite präsentiert, lyrische Prosa ist ebenso berücksichtigt wie Wort-Bild-Arbeiten, Mundartgedichte oder Songtexte von Mani Matter über Endo Anakonda bis Sophie Hunger. Neben den Landessprachen sind die von Aus- und Eingewanderten vertreten, alle fremdsprachigen Texte sind in deutscher Übertragung wie im Original wiedergegeben, gegen sechshundert Werke von rund zweihundertfünfzig Autorinnen und Autoren in ihrer ganzen reichhaltigen und überraschenden Vielfalt erhalten hier eine «kleine Poesie-Herberge».
Soweit die Selbstdefinition des Herausgebers Roger Perret, dessen umfangreiche Anthologie ohne Zweifel verdienstvoll ist. Der Titel «Moderne Poesie» scheint zwar etwas altertümlich, vielleicht ist es schon die Postmoderne Poesie oder aber es braucht die Poesie keine «modernen» Zuordnungen, weil sie schon immer war und ist, von der Antike bis heute, von Homer über Sappho bis Rilke, der auch hier vertreten ist, weil er sich in der Schweiz, dem «Wartesaal Gottes» aufhielt.

 

Auch sonst gibt es viele Entdeckungen zu machen, von jüngeren und jungen AutorInnen, wie Svenja Herrmann, Rolf Hermann, Raphael Urweider, Vera Piller  (1949-1983), Lisa Elsässer, wenngleich zahlreiche Lyriker fehlen, Namen wie Ingeborg Kaiser, Gabriele Markus, Iren Baumann, Jacqueline Crevoisier, Radka Donnell, Wanda Schmid, Hugo Ramnek, Jochen Kelter, Monika Schnyder, Peter Weibel und viele andere. Insofern erhebt die Anthologie auch nicht den Anspruch, vollumfänglich die Schweizer LyrikerInnen-Szene abzubilden. Und es ist dem Herausgeber vorbehalten, eine Auswahl seiner Präferenzen zu treffen. Dass es keine «Zeitdiagnosen» sind, kann nicht unwidersprochen bleiben, denn natürlich sind Gedichte auch immer Seismographen und Zeugen der Befindlichkeit der Zeitgenossenschaft. Nicht nur Blaise Cendrars, Robert Walsers oder Alfonsina Stornis wundervolle Gedichte legen hiervon Zeugnis ab.

 

 

Roger Perret (Hrg)

Moderne Poesie in der Schweiz

Eine Anthologie

Limmat Verlag Zürich, 2013

Migros-Kulturprozent

640 S., 40 Abb., 4farbig und s/w, Leinen

CHF 54.00. € 48.00

ISBN 978-3-85791-726-4

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