FRONTPAGE

Helen Meier: «Kleine Beweise der Freundschaft»

Von Charles Linsmayer

Bewegende Texte zu Zeit und Ewigkeit

Helen Meier ist wieder da! Acht Jahre nach «Schlafwandel» liegt nun unter dem Titel «Kleine Beweise der Freundschaft» ein Buch von ihr vor, das es in sich hat! Kein Alterswerk, obwohl Alter und Tod thematisiert sind wie noch nie im Werk der Ostschweizerin, nein, ein Buch, das ebenso frech und provokativ daherkommt, wie man es von Helen Meier gewöhnt ist, seit sie mit «Trockenwiese» 1984 als bald Sechzigjährige auf einmal da war und einer ganzen Generation junger Frauen, die larmoyant über ihre desolate Situation und ihre Selbstfindung räsonierten, den Schneid abkaufte!

 

Geschichten…

Der Band ist eingeteilt in Geschichten und Texte. Wobei erstere Erzählungen sind, wie man sie von Helen Meier kennt: abgründig, unsentimental, die menschlichen Gebresten und Unzulänglichkeiten liebevoll auf die Schippe nehmend.
«Oben» zum Beispiel ist die Schilderung eines alternden Schriftstellers oder einer Schriftstellerin, der oder die eine Grube schaufelt, von der er oder sie ahnt, dass es sein/ihr Grab sein wird. Aber natürlich geht es nicht um dieses Vordergründige, sondern letztlich um das Schreiben, das Weiterschreiben, wenn man das Gefühl hat, man sei als alt und unbrauchbar abgestempelt, um das Schreiben und damit auch das Leben «trotz allem»!
Oder «Mein Herz ist betrübt», ein veritabler Rosenkrieg zwischen einem Achtzigjährigen, dem es vor seiner sechsundachtzigjährigen Frau graust. Einmal stellt sie sich tot, und er lässt sie einfach liegen, ein andermal produziert sie vor dem Haus mit dem Gartenschlauch eine Eisbahn, über die er beim Nachhausekommen stolpert und von ihr hilflos mit gebrochenem Schenkelhals liegengelassen wird. Eine böse, pfiffige, freche Geschichte, wie sie in dieser Drastik und Abgründigkeit nur Helen Meier schreiben kann.
Schliesslich «Kleine Beweise der Freundschaft», die Erzählung, die dem Band den Titel gegeben hat. Da holt eine Hausangestellte in der Ferienabwesenheit ihres Patrons, eines Arztes, ihren dementen Vater in die Villa. Der gräbt den Garten um und endet schliesslich als Opfer eines Verkehrsunfalls. Sie macht aus Fett ein Kunstwerk und vergräbt es. Hat sie dem Vater noch ein paar glückliche Momente gönnen wollen? Hat sie bewusst seinen Tod in Kauf genommen? Wie oft bei Helen Meier könnte man sich über diese Geschichte hintersinnen, so rätselhaft und unlösbar bleibt sie einem in Erinnerung.

 

 

… und Texte

Der zweite Teil, die «Texte», sind Essays, Erörterungen, Überlegungen, Thesen, Gedankenspiele zu den Themen Leben und Tod, Alter und Gott, Existenz und Nichts, die Bewältigung des Alltags, den Umgang mit Angst, Langeweile, Sinnlosigkeit, Hoffnung und Hoffnungslosigkeit. Fast nichts ist Erinnerung, alles ist Gegenwart eines alten Menschen, der radikal und schonungslos auf sich selbst und die anderen blickt.
Gottlos sind die Texte aber nicht, auch wenn Gott permanent in Frage gestellt und ihm zugerufen wird: Treten Sie ab! Obwohl er als Erfindung des Menschen erkannt wird, ist Gott doch mit Hoffnung verbunden, und am Ende geht es doch nicht ohne ihn, wird ein Religionsphilosoph zitiert, der gesagt hat, wir lebten einzig wegen Gottes liebendem Blick auf uns. Isa, die Erzählerin, macht sich auf, nach diesem Buch zu suchen, «nach der Klarheit eines Geistes, dem Süden des Lichts.»
Helen Meiers neue Erzählungen und Texte sind durchwegs auf der Höhe ihrer beträchtlichen künstlerischen und sprachlichen Möglichkeiten, und wenn sie sich mit Alter, Krankheit und Tod befassen, so widmen sie sich mit Verve und aus eigenen Erfahrungen heraus einem Bereich, der in unserer Literatur viel zu wenig zur Geltung kommt, obwohl vielleicht das Tiefste aus ihnen herausgelesen werden kann, was zu unserer Existenz, zum Sinn des Daseins und zu Zeit und Ewigkeit zu sagen ist.

 

 

Helen Meier
Kleine Beweise der Freundschaft
Geschichten und Texte.
Xanthippe-Verlag, Zürich 2014,
191 Seiten, Fr. 26.90

ISBN 978-3-905795-32-5

 

 

Helen Meier, geboren 1929 in Mels SG, war zuerst Primarlehrerin. Nach Auslandaufenthalten in England, Frankreich und Italien studierte sie Sprachen und Pädagogik an der Universität Freiburg. Sie arbeitete in der Flüchtlingshilfe des Schweizerischen Roten Kreuzes und war später als Sonderschullehrerin in Heiden tätig. 1984 überraschte sie die Jury des Ingeborg-Bachmann-Wettbewerbs mit einem Text über einen lernbehinderten Schüler und erhielt für ihre Erzählung «Lichtempfindlich» das Ernst-Willner-Stipendium. Auf den späten Erstling «Trockenwiese» folgten einige Erzählbände und Romane. Die Autorin lebt in Trogen AR.

 

 

Buchtipp Literatur & Kunst:

 

 

Charles Linsmayer: «Schreib oder stirb»

 

Von Manfred Papst

Gründlichkeit, Sorgfalt, Umsicht, Fleiss: Das sind wohl die ersten Begriffe, die einem einfallen, wenn man das Schaffen des Germanisten und Publizisten Charles Linsmayer würdigen möchte. Wir verdanken diesem unermüdlichen Gelehrten zahllose Editionen von wichtigen Werken der Schweizer Literatur, bei denen die «Nachworte» oft zum Buch im Buch wurden.

 

Ohne die vielbändigen Reihen «Frühling der Gegenwart» und «Reprinted by Huber» wüssten wir weit weniger über die Romane, Erzählungen und Gedichte, die im vergangenen Jahrhundert in der viersprachigen Schweiz entstanden sind. Wir nehmen diese Ausgaben immer wieder gern zur Hand und staunen, welch ungeheure Stoffmassen Charles Linsmayers ordnender Geist geprüft hat und uns mit Augenmass, Klugheit, reicher Kenntnis präsentiert.

Es wäre indes falsch, unseren Autor auf die Rolle des Dokumentaristen und Editors zu reduzieren. Er hat ein genuines Gespür für literarische Qualität, er führt eine sichere Feder, und er beherrscht auch die kleine Form. Das zeigt sich nirgends deutlicher als im vorliegenden Band, der auf engstem Raum 129 Schicksale von Autorinnen und Autoren aus aller Welt darbietet. Mit diesen Porträts zeigt Linsmayer, dass er nicht nur in der Schweizer Literatur zu Hause ist, sondern sie einzubetten versteht in einen weiteren Zusammenhang. Nichts scheint diesem Bücher-Vielfrass, der in seiner Eremitage in Zürich-Hottingen gut 40’000 Bände um sich schart, fremd zu sein. Als Lektor und Feuilletonredaktor hat er es ein Leben lang mit den verschiedensten Kulturen zu tun gehabt. Davon profitieren wir jetzt.
Die Porträts, die Charles Linsmayer in diesem Band vorlegt, folgen strengen Vorgaben. Die Länge der biografischen Texte ist so genau definiert wie jene der zugehörigen Zitate. Ob uns mit Wolfgang Borchert der Urheber eines schmalen Werks vorgestellt wird oder ein vielschreibender Titan wie Balzac oder Simenon, ob es um einen kanonisierten Klassiker wie Henry Fielding geht oder um fast vergessene Aussenseiter wie Guido Looser und Erich Weinert – die Zeilenzahl ist stets nahezu die gleiche. Das ist eine grosse Herausforderung. Wie soll man einen Kleist, einen Kafka, einen Apollinaire und Primo Levi auf einer Seite darstellen? Charles Linsmayer zeigt, dass es möglich ist.
Seine Kurzessays sind Porträtskizzen im klassischen Sinn des Worts. Bleistift- oder Tuschzeichnungen, die blitzartig das Wesentliche einer Figur erfassen. Sie haben nicht den Charakter elaborierter Ölgemälde, für das endlose ermüdende Sitzungen nötig waren. Gerade deshalb wirken sie spontaner als diese. Gleichwohl bleiben sie dem Geist der Sorgfalt, auch dem der Fairness verpflichtet. Linsmayer skizziert, aber er karikiert nicht. Er erhebt sich nicht über die von ihm porträtierten Personen. Sein Grundanliegen ist es, Unbekanntes zu entdecken, Verkanntes zu würdigen. Aber er lobt nicht nur. Bisweilen mischt sich in seine Charakterisierungen auch subtile Kritik – beispielsweise, wenn er Ferdinand Freiligraths Weg vom Revolutionär zum Filialleiter der „General Bank of Switzerland“ in London nachzeichnet oder Arnolt Bronnens halsbrecherische ideologische Kehrtwendungen benennt .
Immer wieder gelingt es Linsmayer, solides Grundwissen zu vermitteln und gleichzeitig Mehrwerte zu liefern. Er holt seine Leser ab. Niemand muss sich ausgeschlossen fühlen. Zu jedem Autor, zu jeder Autorin gibt Linsmayer in knapper, konzentrierter Form die Eckdaten: Geburts- und Todesdatum – auch, mit bemerkenswerter Insistenz, die Todesart. Herkunft, Muttersprache, Nationalität und Ausbildung werden ebenso erwähnt wie die Hauptwerke und der zeitgeschichtliche Kontext.
Diese Daten und Fakten könnte freilich auch ein gutes Lexikon beisteuern. Aber Charles Linsmayer bleibt nicht bei diesen Informationen. Er bietet sie zwar – in souverän gedrängter Form, welche die Erfahrung des Journalisten verrät –, aber er geht auch weit über sie hinaus. Mit Zitaten aus dem Werk, mit sprechenden Details aus der Biografie, mit einem Aperçu oder einer Anekdote stellt er die jeweilige Person plastisch vor uns hin. Zudem fallen ihm die überraschendsten literaturgeschichtlichen Bezüge ein. Der peruanische Erzähler Ciro Alegría erinnert ihn an Zola, James Fenimore Coopers Wandlung vom Visionär zum Reaktionär vergleicht er pointiert mit Jeremias Gotthelfs entsprechender Entwicklung, und von Halldor Laxness, dem isländischen Nobelpreisträger des Jahres 1948, springt er mühelos zu Max Frisch: In «Gerpla» und «Wilhelm Tell für die Schule» sieht er den gleichen Impetus der Verfremdung nationaler Mythen am Werk. Auch auf die plausible Linie, die er von Amiel zu Victor Klemperer zieht, muss man erst einmal kommen!
Charles Linsmayers Neugier kennt keine Grenzen. Beliebig ist die Auswahl seiner „129 Schicksale“ gleichwohl nicht. Mehreres fällt in diesem Zusammenhang auf. Zum ersten interessiert sich Linsmayer hier nicht für die etablierten Autoren des Säkulums. Zu Joyce und Proust, zu Thomas Mann und Valdimir Nabokov, zu Philip Roth und Friedrich Dürrenmatt muss er nichts mehr sagen. Er hält sich lieber an die Randfiguren, die Sonderlinge, die Aussenseiter. Für sie hat er ein besonderes Faible. Das heisst nun aber nicht, dass in seinem Buch nur poetae minores vorkämen. Das Gegenteil ist der Fall. Giganten wie Nikolaj Gogol, Julien Green und Raymond Chandler umreisst er mit sicherer Hand. Zum zweiten weiss er aber auch zu unterscheiden. Beiläufig lässt er etwa durchblicken, dass bei der Bestsellerautorin Anne Morrow Lindbergh das Leben interessanter war als das der „Lebenshilfe“ zuzuordnende Werk.
Eines gibt es indes, das die Autorinnen und Autoren von Linsmayers Buch verbindet: Sie schrieben, weil sie nicht anders konnten. Eine andere Existenz war für sie nicht vorstellbar. Sie opferten dem Werk ihr Glück und oft ihr Leben. Erschreckend viele haben Hand an sich gelegt, etliche haben in Armut und Elend gelebt, verachtet und verkannt, vergessen schon zu Lebzeiten, gequält von Krankheiten, gezeichnet durch ihr Aussenseitertum. Präzis, aber ohne Voyeurismus macht Linsmayer deutlich, wie viele Autorinnen und Autoren erst durch ihr Anderssein – beispielsweise ihre heimlichen sexuellen Neigungen – zum Schreiben kamen.
Charles Linsmayer betreibt indes keine „tragische Literaturgeschichte“ in der Tradition Walter Muschgs. Er weiss, dass es auch heitere Genies gibt. Aber sie sind selten, und ihnen fühlt er sich weniger zugeschworen. Seine schönsten Porträts widmet er den komplexen, zerrissenen, abseitigen Figuren, die gleichwohl nicht nur ihr Unglück gestaltet, sondern ihm ein von Anmut und Humor geprägtes Werk abgerungen haben. Er hat aber auch Respekt vor dem Scheitern, mehr noch: Er entdeckt die Würde des Menschen in der Niederlage. Das lässt seine kleinen Skizzen ins Grosse wachsen.
Eine besondere Begabung Linsmayers ist die, im Werk seiner Heldinnen und Helden ein Zitat zu finden, dass ihre Existenz auf den Punkt bringt. Beim Schweizer Psychiater und Erzähler Walter Vogt etwa ist es der Satz «Erinnern, wie man es aufschreiben kann, heisst auch immer vergessen, wie es war»; in Brentanos ausuferndem lyrischen Werk sind es die unsterblichen Verse «Singt ein Lied so süss gelinde / Wie die Quellen auf den Kieseln / Wie die Bienen um die Linde / Summen, murmeln, flüstern, rieseln». Gabriele d’Annunzio wird mit seinen letzten Worten – «Ich langweile mich» – eingeführt, und zu Cécile Ins Loos wird Max Frischs unübertreffliche Charakterisierung «Sie träumt noch bei lichterlohem Verstand» zitiert.
Eine besondere Sensibilität beweist Charles Linsmayer für Schriftstellerinnen: über Simone de Beauvoir und Lore Berger, über Jane Bowles, Hertha Kräftner, Elisabeth Langgässer und Silja Walter kann man in dieser Kürze kaum treffender schreiben. Von Sigrid Undset, der schwedischen Nobelpreisträgerin des Jahres 1928, erzählt unser Autor, dass sie als Mädchen «bei Regen immer zu spät in die Schule kam, weil sie die Schnecken von der nassen Strasse in den Garten zurückgetragen hatte».
Hinzu kommt, dass Charles Linsmayer an unvermuteten Stellen immer wieder interessante Schweiz-Bezüge aufweist. So begleiten wir Franz Kafka mit Max Brod am 27. August 1911 ins Zürcher Männerbad am Bürkliplatz. In Stefan Zweigs Tagebuch lesen wir unter dem Datum des 17. Novembers 1918 den Satz «Das Hartmäulige, Unverbindliche, Grobe, Taktlose dieser Schweizer ist mir unerträglich». Und wir erfahren auch, dass Hans Leip, der Dichter des Schlagers «Lili Marleen», der zu einem der grossen Propagandaerfolge des Dritten Reiches wurde, obwohl er ursprünglich einem jüdischen Mädchen galt, nach dem Zweiten Weltkrieg über drei Jahrzehnte lang im thurgauischen Fruthwilen lebte.
Zum Reiz von Charles Linsmayers literarischen Kurzessays gehört es im weiteren, dass der Autor bei aller relativierenden Umsicht bisweilen auch ins Schwärmen gerät: beispielsweise über Annette Kolbs 1913 erschienenen Roman «Das Exemplar». «An der Reede von Cherbourg», lesen wir, «nimmt Marieclée Abschied von ihrem Traumgeliebten, den sie, von Krankheit gezeichnet und auf der Fahrt nach Amerika, noch ein letztes Mal für einige Stunden gesehen hat. Und ihr Verzicht, der einem Sieg gleichkommt, gehört in der Dichte der erzählerischen Evokation zu den schönsten Szenen der Weltliteratur». Wir spüren: Hier ist kein blosser Archivar am Werk, sondern einer, der sich mit Herz und Seele der Dichtung verschrieben hat – auf jede Gefahr hin.
Wir können Charles Linsmayers literaturhistorische Miniaturen auf zweierlei Weise rezipieren. Zum einen dürfen wir sie einfach als funkelnde Texte lesen. Zum andern können wir das Buch aber auch als Cicerone nutzen, das uns in die Buchhandlungen und Bibliotheken, in die Antiquariate und Brockenstuben begleitet. Mit seiner Hilfe können wir unsere Kenntnisse vertiefen und unsere Sammlungen erweitern. So bescheren wir uns mit seiner Hilfe ungezählte Stunden des Leseglücks. «Es gibt keine Seligkeit ohne Bücher», hat Arno Schmidt gesagt. Dass uns diese Seligkeit, wie Charles Linsmayer zeigt, zu einem grossen Teil durch das Schaffen unglücklicher, umgetriebener, einsamer Menschen zuteil wird, sollte uns Grund zu umso grösserer Dankbarkeit sein.

Charles Linsmayer

Schreib oder stirb!

elfundzehn Verlag, 2014

129 Schicksale von Ciro Alégria bis Stefan Zweig

mit einem Vorwort von Manfred Papst

280 S., geb., 12,5 x 19 cm,

CHF 36. € 32.50

ISBN 978-3-905769-31-9

 

Manfred Papst ist Feuilleton-Redaktor der NZZ am Sonntag. 

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