FRONTPAGE

«Franco Beltrametti: Das Gedicht als geistige Reise»

Von Ingrid Isermann

 

Zum ersten Mal erscheint ein repräsentativer Sammelband mit unveröffentlichten und veröffentlichten Gedichten des Tessiner Poeten, Künstlers und Performers Franco Beltrametti (1937–1995). Freundschaften und Begegnungen mit Dichtern und Künstlern der italienischen und amerikanischen Avantgarde prägten sein Leben und Werk.

 

Dieser «Reisende in Poesie», so Stefan Hyner, schrieb auf Italienisch, Englisch und Französisch und schuf gleichzeitig Bilder, die zum Teil ebenfalls mit Texten in diesen Sprachen versehen sind. Seine der Poesie des Alltags verpflichteten Gedichte – einige verdichtet wie Haiku, andere erzählend oder sprachspielerisch – sind Ausdruck des nomadischen Daseins dieses Autors.

Sie zeichnen sich durch Leichtigkeit und eine «Anmut des Unnützen» aus: «Für mich ist jedes Gedicht eine geistige (oder schamanenhafte) Reise, die man immer und immer wieder unternehmen kann».

 

Franco Beltrametti war ein Wanderer zwischen den Welten. Selbst seine Wohnung im Tessin schien eher ein Feldlager zu sein, schreibt Hyner in seinem Beitrag, als Zustand des Aufbruchs auf der Durchreise. Wie sein Vorbild aus Jugendtagen, Blaise Cendrars, fuhr er mit der Transsibirischen Eisenbahn ans Ende des eurasischen Kontinents, weiter nach Japan, in eine Welt, die ihn prägte, sowohl durch den Buddhismus, dem er in Kyoto begegnete, als auch durch seine neuen Bekanntschaften.

Beltrametti ging es in seinem Werk in erster Linie darum, die ständige Bewegung aufzuzeichnen, beeinflusst von den frühen, von der Tradition des am Ch’an Buddhismus orientierten ‚Theoretikern‘ der chinesischen Kunst. So beginnt einer der wenigen theoretischen Texte Beltramettis mit einem Zitat aus Seih T’aos ‚Gespräche über die Malerei‘: «Die Methode besteht darin / keine Methode anzuwenden. / Das ist die Methode».

 

Von Japan kam Beltrametti 1967 nach San Francisco in Kalifornien, auch auf der Suche nach seinen eigenen familiären Wurzeln. Die Alternativen zum ‚American Way of Life‘ beherrschten nicht nur die Literaturszene. Er vermittelte zwischen diesem ‚anderen‘ Amerika und der Avantgarde Europas, die mit den von ihm mitorganisierten ‚One World Poetry Festivals‘ in Venedig und Amsterdam Ende der 70-er Jahre ihren Höhepunkt erreichte.

Für Beltrametti zählten stets die Dichtung in all ihrer Vielfalt und nicht irgendwelchen dogmatischen Ab- und / oder Ausgrenzungen. Wenige Wochen vor seinem Tod schuf Beltrametti eine Serie von Wort-Bildern, in Anlehnung an die Toshiba-Inselgruppe in Japan, wo er seine künstlerische Initiation erhielt. Jede dieser Inseln ist ein Kontinent für sich, einige sind in Sichtweite, wie ein Synonym für ein Gedicht.

 

 

 

 

 

Secondo sogno 

Caro Raffaello, la guerra era scoppiata
le legioni romane seminavano
la controrivoluzione in Etruria.
Noi in collina
alta su S. Vincenzo
(alle spalle Volterra amica e arroccata)
si guardava
dai pirati il mare. Giocavamo agli scacchi
e già mi tenevi
la regina
in un angolo
a un cavallo incatenata
sotto tiro di un fante.
Fuori Settimo fumava
sotto un olivo
appoggiato al trattorino
fermo per il razionamento.
Quando
un furgone salì tra i cipressi
uno scende dice: compagni
la casa è requisita. D … cane
dicesti tu
ora che vincevo
questo maledetto ti salva la regina
– ammetti – già bella fregata
nell’angolo serrata
dal cavallo, dal fante e
dallo sbaglio tuo.
– Je regrette – disse quello
beaucoup. Tra poco viene
il commissario
che non ama
(in confidenza)
che non ama
gli scacchi, gioco occidentale
da città –
My Friends
disse il commissario cinese,
I only come to see
La Corsica dal balcone
e Tunisi bianca sul mare
non statevi a preoccupare.
Quanto alla requisizione
è questa la prassi della
rivoluzione la casa
vi è assegnata a vita.
Intanto o scultore
c’è una notizia:
sei nominato
commissario delle arti
per Toscana, Tibet e Oregon
devi poi
se te la senti
fare un monumento
la nascita di Yin-Yang
il grande sacramento
per una piazza di Pekino.
Per te architetto
anche un lavoro: case
per i cavatori e lizzatori
di Colonnata
e in pineta
una rivendita di sale, olive,
vino e Nazionali.
Ma prima
dobbiamo con ogni mezzo
convincere i romani
che quanto vogliono fare
è illusione.

 

Zweiter Traum

Lieber Raffaello, der Krieg war ausgebrochen
die römischen Legionen säten
die Konterrevolution in Etrurien.
Von den Hügeln
hoch über San Vincenzo
(hinter dem befreundeten und
verschanzten Volterra)
bewachte man
das Meer vor den Piraten. Wir spielten Schach
und du hieltest schon meine Dame
gefangen
in einer Ecke
an einen Springer gekettet
in Schussweite eines Bauern.
Draußen rauchte Settimo
unter einem Olivenbaum
an ein Traktorchen gelehnt
das wegen der Rationierung stillstand.
Als
ein Kastenwagen zwischen Zypressen heraufkam
einer aussteigt und sagt: Genossen
das Haus ist beschlagnahmt. S…….hund
sagtest du
jetzt wo ich gewinne
dieser Saukerl rettet dir die Dame
– gib’s zu – die ist ziemlich angeschmiert
in der zugeriegelten Ecke
vom Springer, dem Bauern und
von deinem Fehler.
– Je regrette – sagte jener
beaucoup. In Kürze kommt
der Kommissar
der mag kein
(im Vertrauen)
der mag kein
Schach, dieses abendländische Spiel
für Städter –
My friends
sagte der chinesische Kommissar,
I only come to see
Korsika vom Balkon
und das weiße Tunis am Meer
kein Grund zur Sorge.
Diese Beschlagnahmung
ist eine Gepflogenheit der
Revolution das Haus
ist euch lebenslang zugeteilt.
Zu guter Letzt, oh Bildhauer,
noch eine Mitteilung:
Du bist ernannt
zum Kommissar für die Kunst
von der Toskana, von Tibet und Oregon
später Mal
wenn dir danach ist
machst du ein Denkmal
über den Ursprung von Yin und Yang
dem großen Sakrament
für einen Platz in Peking.
Für dich Architekt
auch eine Arbeit: Häuser
für die Bergarbeiter und Kämpfer
von Colonnata
und im Kiefernwald
einen Laden für Salz, Oliven,
Wein und Nazionali.
Doch zuerst
müssen wir mit allen Mitteln
die Römer überzeugen dass
das was sie tun wollen
eine Illusion ist.

 

 

HANASHI

 

für Cid Corman & Kim Lawrence

23/5/67

 

 

schwer zu sagen, was es bedeutet

Leben & alles andere

Arbeit getan & nicht

Tage & Nächte, Gesichter

Jahre & Orte —

             mehr Sterne in uns

als an diesem

            sternklaren

               Himmel

                     !

 

 

Dichtung ist nicht ein Teilzeit-Job

Dichtung ist nicht        Teilzeit

Dichtung ist nicht ein

Dichtung ist nicht

Dichtung ist

Dichtung

 

5/VI/95

 

 

 

Franco Beltrametti, geboren 1937 in Locarno, beschäftigte sich schon während des Architekturstudiums an der ETH in Zürich intensiv mit Literatur und Kunst. Seit den Sechzigerjahren zahlreiche Reisen in Europa, nach Japan und den USA. Der Wohnsitz in Riva San Vitale war Ausgangspunkt einer vielfältigen künstlerischen Tätigkeit in einem internationalen Künstlernetzwerk. Während der Vorbereitung der ersten Retrospektive 1995 starb er überraschend in Lugano.

 

 

Franco Beltrametti
Zweiter Traum / Secondo sogno
Ausgewählte Gedichte
Hrg. mit einer Einleitung von Roger Perret
übersetzt von Stefan Hyner

mit Beiträgen von Anna Ruchat und Stefan Hyner

Limmat Verlag Zürich, 2014
256 Seiten, gebunden
CHF 38. € 32.
ISBN 978-3-85791-682-3

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