FRONTPAGE

«François Jullien: Von Landschaft leben oder das Ungedachte der Vernunft»

Von Ingrid Isermann

 

Landschaft als Erholungsraum oder metaphysischer Zwischenraum? Während in Europa das Bewusstsein von Landschaft relativ jung ist – es taucht erst in der Malerei der Renaissance auf –, entstand es in China schon mehr als tausend Jahre früher und hat sich ohne grosse Unterbrechung bis heute weiterentwickelt.

Anders in Europa: Nach einem Höhepunkt der Landschaftsmalerei im 19. Jahrhundert nimmt das Interesse im 20. Jahrhundert ab, um erst mit der Sorge um Natur und Umwelt wiederzuerstehen. François Jullien, Philosoph und Sinologe an der Universität Paris VIII, macht in dieser grundlegenden Studie über den Begriff und die Wahrnehmung von Natur und Landschaft im östlichen und westlichen Denken deren Unterschiede für unser Denken produktiv. Er zeigt, weshalb China so früh und auf so zentrale Weise das Denken von Landschaft entwickelt hat, und wie es zur Weiterentfaltung unseres Begriffs von Landschaft und vielleicht zu dessen Neuformulierung beitragen kann.

 

Man kann vor einer Landschaft wie vor einem «Spektakel» stehenbleiben – Petrarca spricht, vom Gipfel des Ventoux herab, von «spectaculum». Man kann es von einem «Aussichtspunkt»her betrachten, sich in seine Harmonie und seinen Variationsreichtum versenken, seine Zusammensetzung bewundern und, wenn man genauer hinsieht, sogar eine unterschwellige Geometrie darin entdecken.

Aber eine Landschaft kann auch etwas ganz anderes sein. Sie kann uns völlig in das unablässige Spiel ihres Beziehungsgeflechts hineinziehen, unsere Vitalität, unsere Lebensgeister durch ihre unterschiedlichen Spannungsfelder aktivieren, aber auch durch das, was in ihr zu etwas Einmaligem wird, unser Gefühl zu existieren wecken. Durch das Entfernte in ihr lässt sie uns träumen, stimmt sie uns «nachdenklich».
Die Trennung zwischen Sinnlichem und Spirituellem löst sich letztendlich in ihm auf. Denn da ist dann nicht mehr eine «Ecke» der Welt vor einem, es taucht vielmehr plötzlich das auf, was die Welt als Ganzes ausmacht, es wird das offenbar, woraus Welt besteht. Dadurch wird dieser Ort fast unmerklich zu einem Band, ein Gefühl stillen Einvernehmens verknüpft mich mit ihm und ich kann ihn nicht verlassen.
Oder anders gesagt: Wenn ich ihn auch verlassen mag, so verlässt er mich nicht. Besagt «Nostalgie» das passend genug?

 

 

Bewusstsein von Landschaft in Europa
Tatsache ist, dass das Bewusstsein von Landschaft in Europa relativ jung ist. Es taucht zunächst in der Malerei der Renaissance auf, hat sich dann mit dem Aufschwung der Wiedergabe weiterentwickelt, um dann im 20. Jh. wieder vernachlässigt zu werden. Mit der Sorge um Umwelt und Ökologie wurde es wiederbelebt.
In China hingegen entstand es mehr als tausend Jahre früher und hat sich ohne Unterbrechung im Schoss der Gelehrtenkultur weiterentwickelt- eine einmalige Sache. Denn das Denken von Landschaft – im Unterschied in jenem vom Garten – blieb der Bibel, dem Islam und Indien fremd.

 

Nun scheint es an der Zeit, aus dem, was hier so nebenbei erwähnt wird, die Konsequenzen zu ziehen, d.h. zunächst einmal zu fragen, weshalb China so früh und auf so zentrale Weise das Denken von Landschaft entwickelt hat. Deshalb verfolgt dieser Essay eine Philosophie des Lebens (vivre), die von der «Frage nach dem Sein» abrückt. Hier wird es vermittels der Landschaft um «Berge» und «Gewässer» gehen, um das, was man sehen und hören kann, um das Spiel von «Licht» und «Wind».

Von Wichtigkeit ist auch die Tatsache, dass «Landschaft» zunächst in Zusammenhang mit der Malerei erwähnt (gedacht) wurde. Diese, so stellt man fest, hat das Denken von Landschaft eigentlich getragen, aber wohin?

 

Die Landschaft dient in China dazu, der Welt eine Öffnung zu bieten, die sich nicht vom Sinnlichen löst, dieses aber alerter, ausweitend-intensiver macht. In Europa dagegen «diene» sie dem Blick eines Individuums als Terrain für Eroberung und Expansion, wobei das Subjekt sie dank der Optik und der Geometrie objektiv «beobachtet» und «darstellt», um sie dann zum Ausgleich für die verloren gegangene Subjektivität übertrieben gefühlvoll (sehnsuchtsvoll) zu besetzen.

 

 

Verständnisinnigkeit

Wir schleppen das alte Thema – so alt wie unsere aufkommende Moderne – von einem «Einklang mit der Natur» mit uns herum, sein Pathos (der romantische Aufschrei) bringt uns in Verlegenheit, so Jullien. Es bringt intellektuell in Verlegenheit, denn man sieht darin unweigerlich den Ausdruck von etwas Verdrängtem. Von etwas durch die Europäische Vernunft in ihrem Triumph Verdrängtem, als sie mit des Messers Schneide in gewagter Weise zwischen das fuhr, was dann die «Objektivität» der Natur ausmachen wird (die «Natur» konstituiert) und uns durch die Wissenschaft Verfügungsgewalt über sie verschafft und das, was sich von ihr als ihr Gegenüber zurückgezogen hat, nämlich die Subjektivität des Bewusstseins/Gewissens und des Gefühls (so das cartesianische «Denken»), d.h. als sie die aus mathematischer Sprechweise bestehende Physik hervorbrachte, die von der Phänomenalität der Dinge abrückt (die alte Physik war ihr noch verbunden) und sie von allem Bezug zum Vitalen entbindet. Dieser Ausdruck «Einklang» kommt daher wie eine Wiedergutmachung.

 

 

François Jullien
Von Landschaft leben
Oder das Ungedachte der Vernunft
Matthes & Seitz, Berlin 2016
219 Seiten, Hardcover (bedruckter Schutzumschlag)
Übersetzung: Erwin Landrichter
22 €
ISBN: 978-3-95757-254-7

 

 

Zum Verhältnis von Wirtschaft und Literatur

Der ehemalige Apple-Chef Steve Jobs wird verehrt als Manager, Visionär und Kultfigur, aber eigentlich war er ein begnadeter Geschichtenerzähler: Kaum einer war geschickter darin, die Entwicklung einer Firma und ihrer Produkte zu einer Story zu machen, die man gern weitererzählt.

 

Heute wird die Methode des Storytelling in Managementkreisen als neue Zauberformel der Vermittlung gehandelt: «Storytelling ist ein trojanisches Pferd für Zahlen und Fakten». Doch was passiert, wenn die Wirtschaft mit dem ausschmückenden Erzählen auf eine Ressource zurückgreift, die eigentlich der Literatur entstammt? Entsteht hier eine neue Art der Poesie, werden Manager gar zu Autoren? Ausgehend vom Phänomen des Storytelling untersucht Philipp Schönthaler das Verhältnis von Wirtschaft und Literatur und plädiert für ein Schreiben, das sein Selbstverständnis aus der Überschneidung beider Sphären gewinnt.

Preis des Stuttgarter Wirtschaftsclubs 2016

 

Philipp Schönthaler, geboren 1976, veröffentlichte u.a. einen Roman («Das Schiff das singend zieht auf seiner Bahn») und einen Erzählungsband («Nach oben ist das Leben offen»), für den er den Clemens-Brentano-Preis erhielt. Zuletzt erschien seine kulturgeschichtliche Studie «Survival in den 80er Jahren. Der dünne Pelz der Zivilisation».

 

 

Philipp Schönthaler
Portrait des Managers als junger Autor
Zum Verhältnis von Wirtschaft und Literatur
Reihe: Fröhliche Wissenschaft
168 Seiten, Softcover (Klappenbroschur)
Matthes & Seitz, Berlin 2016
€ 15
ISBN: 978-3-95757-266-0

Auch erhältlich als Ebook

 

 

Gesellschaften ohne Herrschaft und Staat

Dass sich gesellschaftliches Zusammenleben auch anders als in Form hierarchisch aufgebauter Staaten organisieren ließe, ist für viele Mitglieder westlicher Gesellschaften kaum vorstellbar.
 
Doch auch abgesehen von den Träumereien romantischer Utopisten gibt es heute funktionierende Gesellschaften jenseits staatlicher Einflüsse, die auf Rechtsverfahren und Problemlösungsmechanismen ohne Herrschaft basieren. Anhand empirischer Untersuchungen in nicht-hierarchischen Gesellschaften am Horn von Afrika stellt diese Studie staatliche und herrschaftsfreie Gemeinschaftsordnungen einander gegenüber und analysiert die institutionellen Elemente eines anarchischen Miteinanders, die durch Konsensfindung und ethisch basierten Integrationsmechanismen zur Stabilisierung dieser Gesellschaftsform beitragen, was auch für die westliche Welt Anregungen bietet.

 

Hermann Amber, geboren 1933, ist emeritierter Professor für Ethnologie an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Zu Forschungszwecken verbrachte er längere Zeit in Ostafrika und Bali.

 

Hermann Amborn
Das Recht als Hort der Anarchie
Gesellschaften ohne Herrschaft und Staat
Matthes & Seitz, Berlin 2016
Reihe: Fröhliche Wissenschaft
285 Seiten, Softcover (Klappenbroschur)
€ 18

ISBN: 978-3-95757-240-0

Auch erhältlich als Ebook

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