FRONTPAGE

«Giovanni Nadiani aNmarcurd – ich erinnere mich nicht»

Von Andreas Kohm

 

Es ist ein traurig-schwer wiegendes Vermächtnis und zugleich ein lebensvolles Geschenk, das Giovanni Nadiani (1954-2016) in diesem schmalen und umso gewichtigeren Band mit Gedichten an die Leserinnen und Leser weiterreicht.

Wirft es doch mit schonungsloser Nüchternheit angesichts des nahenden Todes den Blick auf das Wesentliche, das Menschen verbinden kann über alle Unterschiede hinweg, um «in jedem Augenblick die Brosamen des Schönen zu teilen». Und ohne dabei zu übersehen, mit welcher Rasanz sich die vertraute Welt noch in ihren alltäglichsten und unscheinbaren Erscheinungsformen wandelt, wie Kälte und Hässlichkeit immer grösseren Raum fordern.

 

 

Eigendynamik des Weltenlaufs

Es sind diese Spannungen eines in Auflösung begriffenen Lebens und der gleichgültigen Eigendynamik des Weltenlaufs, der die 34 Gedichten ihre existentielle Dringlichkeit verdanken und die ihnen den Charakter einer von grosser Aufrichtigkeit und Würde getragenen Klage geben.

 

Der zentrale Zyklus «Nó/ Wir» hebt an, «jetzt, wo es spät geworden ist», nochmals die ersten Fragen, die sich als letzte erweisen, zu umkreisen; ringt, schlaflos und fast verzweifelt, um Erinnerung und hoffnungsvolle Haltung im (Rück-)Blick auf das sinnlos erscheinende Tun. Ahnend (oder wissend?):

 

«(…) es ist also nur für uns – die wir niemand sind/ dass wir die Dinge machen/ damit zumindest sie nirgends von uns sprechen/ das Wort richten/ an den Wind…».

 

 

Das Verschwinden des romagnolischen Dialekts

Für den mit zahlreichen Preisen ausgezeichneten Dichter Nadiani ist vor allem der Sprachverlust, das Verschwinden seines romagnolischen Dialekts eine schmerzliche Tatsache, denn mit ihm wird nicht nur ein kulturelles Kontinuum ausser Kraft gesetzt, sondern auch die Verbindung in einen tief innerlichen Bereich der Erinnerung abgebrochen, die vielleicht einzig mögliche Verbindung zu jenem Sehnsuchtsort Heimat:

 

«und du was würdest du verstehen von all den sprachen/ wo du schon nichts mehr kapierst/ wenn du bei dir über die strasse gehst/ und dabei das geschwatz der pflegerinnen kreuzt/ die sich von tür zu tür auf russisch zurufen/ die auf polnisch moldavisch ukrainisch denken/ während die alten vom ort im rollstuhl/ ihren letzten jammer vor sich hinsabbern in einer sprache/ die tag um tag mit ihnen stirbt…».

 

 

Bilanz eines Lebens

Diese Gedichte gehen uns an, tun in einem elementaren Sinn auch weh. Für die Übersetzerin Elsbeth Gut Bozzetti war es drängende Aufgabe und liebevoller Freundschaftsdienst, Nadianis Dialektgedichten, dieser «Bilanz eines Lebens» einfühlsam, ja intim, weil «in die Tiefenschichten des Textes vordringend», den Weg ins Hochdeutsche zu ebnen, und wo besser als beim den Mundarten verpflichteten Drey-Verlag könnte dieser «Kristall» aufgehoben sein. Um uns mit seinem Funkeln jene «Bruchteilchen von Mensch aufblitzen» zu lassen, kurz bevor sie «verlöschen…».

 

 

Giovanni Nadiani, 1954 in Cotignola bei Ravenna geboren, Studium der Literaturwissenschaft und Germanistik sowie PhD in Translation Studies an der Universität Bologna, wo er nach seiner Promotion Übersetzungspraxis– und Theorie lehrte. Ab 1984 zahlreiche literarische Veröffentlichungen auf Italienisch und im Romagnolo, einer der vielen eigenständigen romanischen Sprachen, die sich auf der Halbinsel nach der Zersplitterung des Lateinischen entwickelt haben und eine eigene Jahrhunderte alte Literaturtradition vorweisen.
Sein literarisches Werk umfasst etliche Lyrikbände, wie zum Beispiel „e’sech” (1989), „Tir“ (1994) und „Guardrail“ (2012), Bände mit Geschichten, mehrere CDs mit Poesie beziehungsweise Kabarett und Musik und verschiedene Theaterstücke. Seine Texte wurden ins Deutsche, Französische, Englische, Spanische und Flämische übersetzt. Er war Mitherausgeber und Übersetzer von über 30 Anthologien und Werken von deutschsprachigen, niederländischen und katalanischen Autoren sowie Mitbegründer des Literaturmagazins Tratti und der Online-Zeitschrift www.intralinea.it. Er erhielt zahlreiche bedeutende nationale Literaturpreise, unter anderem den Premio Pascoli, Premio Marin, Premio Noventa, Premio San Girolamo als Übersetzer. Mehrfach Writer in Residence des flämischen PEN-Clubs, Stipendiat des Landes Niedersachsen und Stadtschreiber von Ottendorf bei Cuxhaven. Er verstarb im Juli 2017 nach langer Krankheit in Faenza.

 

 

Giovanni Nadiani
aNmarcurd – Ich erinnere mich nicht
Aus dem Romagnolischen von Elsbeth Gut Bozetti
Drey-Verlag, Gutach 2017
108 S., 17 Euro

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