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»Der Fall Collini – ein Fall um Recht und Gerechtigkeit

Von Rolf Breiner

 

Mit seinen Berichten und Romanen zu Verbrechen und Schuld hat der Jurist Ferdinand von Schirach Bestsellererfolge erzielt. Marco Kreuzpaintner (42) hat nun seinen Roman «Der Fall Collini» (2011) verfilmt. Es geht um Selbstjustiz und einen Nazi-Justizskandal. Ein Interview mit dem Regisseur.

Der Regisseur Marco Kreuzpaintner hat sich bisher in verschiedenen Filmgenres probiert – erfolgreich, mit der Coming-out-Komödie «Sommersturm» (2004), «Krabat» (2008), der Verfilmung einer sorbischen Volkssage, mit dem TV-Thriller «Sanft schläft der Tod» (2016) oder der Streaming-Serie «Beat» (2018 bei Amazon) über ein kriminelles Netzwerk (Schauplatz: die Berliner Clubszene), Gewinner des Grimme-Preises.

Kreuzpaitner, 1977 in der Nähe von Rosenheim geboren, verfilmte nun einen Roman des erfolgreichen Justizspezialisten Ferdinand von Schirach: «Der Fall Collini» (2011). Ein pensionierter italienischer Fremdarbeiter erschiesst einen Grossindustriellen und stellt sich. Ein Junganwalt wird mit der Pflichtverteidigung des Mörders betraut, und der versucht, Licht ins Dunkel dieses Falls bringen. Regisseur Marco Kreuzpaintner begleitete die Vorpremiere seines Films in Zürich. Ein Gespräch.

 

«Marco Kreuzpaintner: Ein Film kann eine Atmosphäre schaffen, in der Veränderungen stattfinden können»

Abgesehen von «Justiz» (1993) von Hans W. Geissendörfer nach Friedrich Dürrenmatt und «Der Staat gegen Fritz Bauer» (2015 von Lars Kraume) sind Justizfilme in Deutschland eher rar gesät. Wie sind Sie auf den Stoff (Roman) Collini gekommen oder ist der Stoff zu Ihnen gekommen?
Marco Kreuzpaintner: Der Stoff ist zu mir gekommen. Mir wurden das Drehbuch und Hauptdarsteller Elyas M’Barek angeboten. Den Roman habe ich erst nach dem Drehbuch gelesen.

 

Die Hauptfigur, der Junganwalt Caspar Leinen, hat einen anderen Hintergrund im Film…
Ja, bei Schirach ist Caspar Leinen elitär und adeliger Abstammung, jetzt hat er einen Immigrationshintergrund. Das fand ich interessant: ein Outsider, der anfangs von seinen Kollegen nicht ernst genommen und von oben herab behandelt wird.

 

Das Buch spielt sich auf vier Zeitebenen ab, der Film beschränkt sich auf drei. Richtig?
Wir bleiben bei drei Ebenen: 1944, 1986 und 2001 und haben die Geschichte verdichtet, gewisse Rückblenden eingewebt über Kindheit des jungen Caspar in den Achtzigerjahren, über die Aktionen der Nazis in Italien bis zu den Geschehnissen um 2001.

 

Jurist Ferdinand von Schirach ist mit seinen Erzählungen, Romanen und einem Theaterstück über Justizfälle zum Bestsellerautor geworden? Was hat Sie an der Verfilmung dieses Buches gereizt?
Ich wusste nur, dass es einen Justizfilm geben würde. Das fand ich schon mal spannend, weil ich dieses Genre noch nicht gemacht hatte. Und dann stiess ich auf dieses Dreher-Gesetz von 1968 und fragte mich, humanistisch erzogen und in der Bundesrepublik gross geworden, wieso ich noch nie von diesem Dreher-Gesetz gehört hatte. Dann kam ich drauf, dass keiner eine Ahnung davon hatte, selbst Juristen nicht, weil Justizverbrechen und Justizunrecht nicht gelehrt wird. Das möchte die jetzige Justizministerin ändern, aber ob sie’s schafft…? Das Gesetz bestand bis 2007 und wurde dann abgeändert, also über 62 Jahre nach Kriegsende.

 

Wie weit war Autor von Schirach in die Drehbuchentwicklung und Verfilmung involviert?
Die Drehbuchentwicklung hat er immer wieder mal kommentiert. Seine Haltung war klar: Das ist euer Film – das ist mein Buch. Macht mal! Und jetzt – er mag den Film und ist begeistert.

 

Was war Ihnen wichtig bei der visuellen Umsetzung des Falles?
Juristische Fakten müssen vom Regisseur spannend aufbereitet werden. Ich habe versucht, das emotional in den Gerichtsszenen umzusetzen. Das war eine der Herausforderungen.

 

Ausgangspunkt ist ein Fall von Selbstjustiz, doch im Kern geht es um Recht und Gerechtigkeit. Gerechtigkeit wird oft durch das Recht gebeugt. Wie beurteilen Sie diese Problematik?
Recht und Gerechtigkeit sind zwei unterschiedliche Begriffe. Recht heisst Rechtsprechung auf Grund von Gesetzen, von Menschen, von mächtigen Menschen und Volksvertretern gemacht. Gerechtigkeit ist ein individuelles Empfinden einer Person in einem bestimmten Alter in einer jeweiligen Zeit. Es gibt aber auch ein allgemeinsames kollektives Gerechtigkeitsempfinden. Wenn sich das nicht deckt mit dem, was rechtens ist, hat die Demokratie ein Problem. Viele Leute fühlen sich ungerecht behandelt oder bedroht, dann muss der Staat das Gefühl ernst nehmen. Aufgabe des Staates und der Regierung muss es in der Rechtsprechung oder Sozialpolitik sein, dafür zu sorgen, dass dieses Gefühl nicht aufkommt, dass Recht und Gerechtigkeit eben nicht divergieren.

 

Was kann Ihr Film dazu beitragen?
Die Diskussion anstossen. Ein Film kann nicht wirklich etwas verändern. Er kann aber eine Atmosphäre schaffen, in der Veränderungen stattfinden können.

 

Ihr Drama ist anspruchsvoll, spielt auf drei Zeitebenen und setzt juristische Verständnis voraus. Welche Wünsche haben Sie ans Publikum?
Zuerst einmal wünsche ich gute Unterhaltung. Man geht kaum ins Kino, um belehrt zu werden. Wichtig, finde ich, ein Bewusstsein für ein Thema, ein Problem zu schaffen. Ich masse mir nicht an, die Welt juristisch oder so zu verändern.

 

Welches Verhältnis haben Sie zum Autor Schirach?
Ich habe eigentlich gar kein Verhältnis. Ich sehe von Schirach als bedeutenden Autor der Gegenwartsliteratur – egal, ob das die Kritik so sieht oder nicht. Der Kritik ist es manchmal ein Dorn im Auge, wenn jemand viele Bücher verkauft, habe ich den Eindruck.

 

Wie konnten Sie die Kinolegende Franco Nero («Django») für die Rolle des Mörders gewinnen?
Er kannte das Drehbuch und wollte den Regisseur kennenlernen. Ich bin dann nach Rom geflogen. Er hat mir alle seine Filmplakate vorgeführt. Wir sind essen gegangen, und dabei ist mein Stuhl zusammen gebrochen. Das war sehr peinlich. Dann ist aber auch sein Stuhl gebrochen, und das Eis war gebrochen.

 

Die Gerichtskulisse wirkt abschreckend, ja kerkerhaft. Ist das bewusst so gestaltet?
Ich wollte das Gefühl, Gefangener zu sein und verurteilt zu werden, sicht- und spürbar machen. Man sollte es nachvollziehen können.

 

Nach dem Film ist vor dem Film – woran arbeiten Sie zurzeit?
Ich arbeite an einer englischsprachigen Serie, die ich in London für Channel Four drehen werde. Sie heisst «The Boys». Mehr kann ich jetzt nicht verraten.

 

 

Amnestie und das Dreher-Gesetz

Eduard Dreher, im Dritten Reich Staatsanwalt in Innsbruck, war 1968 Leiter der Strafrechtsabteilung im deutschen Bundesjustiz-ministerium. Er war massgeblich beteiligt am «Einführungsgesetz zum Ordnungswidrigkeitsgesetz». Hinter dem bürokratischen Titel verbirgt sich ein Gesetz mit fatalen Folgen für Gerechtigkeit und Strafverfolgung: Gewisse Nazi-Verbrechen waren auf einen Schlag verjährt. Nazi-Mordgehilfen (Mord) wurden quasi zu Totschlägern (Totschlag) und konnten ab 1968 nicht mehr bestraft werden. Ein Obersturmbahnführer wie Meyer im Film, der 1944 ein Strafkommando leitete und Dorfbewohner in Italien nach dem Zufälligkeitsprinzip erschiessen liess, um eine Attacke der Widerstandskämpfer zu rächen, konnte nicht mehr angeklagt werden. Dieser SS-Mann wird im Kinofilm von einem Tatzeugen über 50 Jahre danach erschossen. Ein Fall von Selbstjustiz – und eine Fiktion mit historischem Hintergrund: «Der Fall Collini» nach dem Roman von Ferdinand von Schirach.

 

«Fotomuseum Winterthur: Anne Collier Photographic»

 

I.I. Das unschuldige Bild ist eine Illusion – das gilt im besonderen Masse für das allgegenwärtige Medium der Fotografie. Genau an dieser Stelle setzt das künstlerische Interesse der 1970 in Los Angeles geborenen, aktuell in New York lebenden Künstlerin ein.

 

Die konzeptuellen Arbeiten von Anne Collier basieren vorwiegend auf gefundenen Materialien aus der Popkultur der 1970er-und 1980er-Jahre; auf Fotos aus Magazinen, Werbebildern, Plattencovern, Buchseiten oder Filmstills. Indem sie die Druckerzeugnisse abfotografiert und diese in neue Kontexte setzt, gelangt Collier zu einer reflektierten Archäologie der Gebrauchs-weisen der Fotografie. Dabei interessieren sie vorwiegend jene Bilder, die durch eine emotionale Bildsprache charakterisiert sind: Wellen, Augen, Wolken sowie Fotografien eines romantisierten Sexismus. Mit analytischer Eleganz reflektiert Collier das trügerische Bild, das unseren Alltag prägt und legt dabei die Spannung zwischen dem Abgebildeten und dem Akt des Fotografierens offen.(bis 26. Mai 2019).

 

Fotomuseum Winterthur
Grüzenstrasse 44+45
CH-8400 Winterthur
+41 52 234 10 60
info@fotomuseum.ch

 

 

Filmtipps

 

Au bout des doigts
rbr. Klavierspielen als Lebenselixier. «Der Klavierspieler vom Gare du Nord» (einer dieser phantasielosen deutschen Filmtitel) schildert, wie ein Jüngling aus den Pariser Banlieu seinen Weg findet – als Pianist klassischer Musik. Das hat er einerseits seinem Mentor, dem alten Klavierlehrer Jacques (Michel Jonasz) zu verdanken, der ihm das Klavierspielen beigebracht und ein Klavier hinterlassen hat, andererseits Pierre Geithner (Lambert Wilson), Leiter des Konservatoriums in Paris. Der entdeckt Mathieu Malinski (Jules Benachtrit) im Bahnhof Gare du Nord, wo der ein öffentliche Klavier «bedient» und flieht – vor Polizisten. Denn Mathieu ist nicht ganz sauber, klaut hier und da und hat nicht den besten Umgang. Ein Vorstadtkind aus ärmlichen Verhältnissen, das nach dem Tod von Jacques seine musikalischen Ambitionen nicht fortsetzen konnte. Doch auch als Teenager kann er von der Musik nicht lassen, sie ist ihm Lebenselixier. Sein nahezu besessener Mentor Pierre erkennt das grosse Talent und setzt alles daran, den 20-jährigen Mathieu im Konservatorium zu integrieren und für einen grossen Wettbewerb fit zu machen. Doch der trotzt, ist aufsässig, bockt bei seiner exzellenten Lehrerin (Kristin Scott Thomas), nur «Die Gräfin» genannt, will sich nicht fügen und aussteigen, bis ihm eines Tages doch ein Licht aufgeht. Ludovic Bernard erzählt mit «Au bout des doigts» keine neue Geschichte – vom Aussteiger aus der Gosse auf die grosse Bühne. Doch das Drama um ein Talent, das nicht im Knast, sondern in Konzertsälen landet, hat den Charme eines Sozialmärchens, wirkt trotz geschönter Beziehungen und einiger Cliches (Kuss vor Notre Dame) recht authentisch – auch dank des Hauptdarstellers Jules Benchetrit, der tatsächlich erst für den Spielfilm mit dem Klavier Bekanntschaft machte. Es gibt Filme, die guttun, und dieser zeigt nicht nur «Fingerspitzengefühl» (Au bout des doigts), sondern erweist sich gleichzeitig als Werbung für klassische Musik.

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Red Joan
rbr. Gleichgewicht des Schreckens. Ihr Rentnerdasein wird empfindlich gestört, als Beamte der M15 vor der Haustür stehen und die 87-jährige Joan Stanley (Judi Dench) abführen – im Jahr 2000. Sie wird einvernommen zu Geschehnissen, die über 60 Jahre zurückliegen. Dazumal arbeitete die junge Physikerin Joan (Sophie Cookson) für Professor Max Davies (Stephen Campbell Moore) und einem geheimen Nuklearprojekt in England. Es ging um nichts Geringeres als die Atombombe. Joan stand seit ihrer Studienzeit sozialistischen und kommunistischen Kreisen nahe, war verliebt in den Idealisten Leo (Tom Hughes), der sie aushorchte, mehr ausnutzte als liebte. Drahtzieherin war jedoch Joans Freundin und Leos Schwester Sonya (Tereza Srbova). Begegnung um Beziehung decken die Ermittler in den Verhören mit der «Roten Joan» allmählich auf: Joan erinnert sich, schildert ihre Entschlüsse und Tätigkeiten. Sie hat wissenschaftliche Erkenntnisse an Stalin und Moskau weitergeleitet – nach den Atombombenabwürfen in Hiroshima und Nagasaki. Sie wird als Spionin und Verräterin angeklagt, ihr Sohn Nick (Ben Miles) vertritt sie als Anwalt – nach anfänglicher Ablehnung. Er hat erkannt, dass sie aus redlichen Motiven gehandelt hat – aus ihrer Sicht. Sie wollte keine Geheimnisse um der Geheimnisse willen weitergeben, sondern eine Art Ausgleich des Wissens zwischen den Grossmächten USA und UdSSR schaffen. Die Geschichte sollte ihr Recht geben. Stichwort: Ausgleich oder Balance des Schreckens.
Das Drama «Red Joan» basiert auf historischen Begebenheiten. Melita Norwood (alias Joan Stanley) wurde als dienstälteste britische Spionin des KGB entlarvt. Trevor Nunn hat den Roman über diese aussergewöhnliche Frau von Jennie Rooney (2014) verfilmt. Souverän verkörpert Judi Dench, bekannt aus etlichen James-Bond-Filmen, die Pensionärin, die mit ihrem früheren Leben konfrontiert wird. Sophie Cookson spielt die Hauptfigur – exzellent als junge Joan. Zeitgeist, historisches Umwelt zeichnet Trevor Nunn überzeugend nach, verbindet auch dramaturgisch die verschiedenen Zeitebenen gekonnt, verliert sich indes allzu sehr in emotionalen Befindlichkeiten und Liebschaften. Am Ende steht die «Rote Joan» als reichlich naive Wissenschaftlerin und blinde Verliebte dar, ihrem «politischen Gewissen» zum Trotz.

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La Mélodie
rbr. Kraft der Musik und des Musizierens. Frust. Als der «abgetakelte» Geigenlehrer Simon Daoud (Kad Merad) seinen Job in einer Pariser Vorstadtschule antritt, wird er mit einer Horde wilder Kinder konfrontiert. Die Orchesterklasse: rotzfrech, hemmungslos, undiszipliniert und aggressiv – diese scheinbar schwer erziehbaren und wenig motivierten Kids soll er zum Geigenspielen animieren. Ihm zur Seite steht der Lehrer Fahrid Brahimi (Samir Guesmi), der ihm den Rücken stärkt gegenüber der rüden Klassenbande – ein Horror für jeden Pädagogen. Allein der junge Arnold (Rénely Alfred) zeigt Interesse, entwickelt eine Liebe zum Instrument und übt daheim auf dem Dach. Der Geigenlehrer Simon erkennt das Talent des jungen Musikers, fördert es und kümmert sich väterlich um Arnold, der seinen unbekannten leiblichen Vater vermisst. In der Klasse kommt es indes zu einem Vorfall, Simon rutscht die Hand aus, als der besonders aggressive Schüler Samir ihn beleidigt. Eine Entschuldigung bringt zwar nicht alles in Lot, aber sorgt für neue Verhältnisse. Die Klasse findet Gefallen am Musizieren. Eine grosse Herausforderung steht an, der Auftritt mit anderen jungen Musikern in der Pariser Philharmonie. Doch Simon will aufgeben und könnte die Chance zu einer Konzerttournee nutzen.
Mag sein, dass der Spielfilm von Rachid Hami, in Algerien 1985 geboren und in Paris gross geworden, einfach gestrickt ist, aber er wurde mit grossem Herzblut gedreht. Schauplatz ist ein sozial benachteiligtes Viertel, das 19. Arrondissement von Paris. Unter den Kindern gab es keine echten Geigenspieler, sie alle sind Laien und haben das Geigespielen für den Film gelehrt. So wirkt der Film sehr authentisch, fast schon dokumentarisch.
Das Förderprogramm der Pariser Philharmonie gibt es wirklich seit 2010, das Démos-Projekt. «La Mélodie – Der Klang von Paris» berührt und bewegt, ist kein kitschiges Sozialmärchen, sondern schildert eine wirklichkeitsnahe Geschichte. Der Film macht Mut, erzählt von Fürsorge und Verständnis, von Überwindungen und Solidarität, Kraft der Musik und des Muszierens. Ein Kinostück mit Nachklang – nicht nur dank Rimski-Korsakows «Scheherazade», Bachs «La Chaconne» oder der Van-Morrison-Ballade «Sometimes I Feel Like a Motherless Child», sondern vor allem wegen seiner positiven Botschaft.
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Under the Tree
rbr. Nachbarschaftskrieg. Das kann jedem passieren. Der «liebe» Nachbar entpuppt sich bisweilen als nerviger Nörgler, Rechthaber und Störenfried, der das Leben unter einem Dach oder diesseits oder jenseits der Hecke oder des Zauns verderben und vergiften kann. Das Wort von Friedrich Schiller in «Wilhelm Tell» hat auch heute noch seine Gültigkeit: «Es kann der Frömmste nicht in Frieden leben, wenn es dem bösen Nachbarn nicht gefällt.» Und genau drum geht’s im bitterbösen Drama aus Island: «Under the Tree». Der Filmer aus Reykjavik, Hafstein Gunnar Sigurðsson, beschreibt, wie ein Riesenbaum, der zuviel Schatten wirft, zum Ärgernis wird und eine Lawine von Gewalttätigkeit ins Rollen bringt. Es herrscht Kleinkrieg, nicht nur zwischen Nachbarn, sondern auch zwischen Atli (SteinÞór Hróar SteinÞórsson) und seiner Frau Agnes, die ihn rausgeschmissen hat. Also versucht Looser Atli bei seinen Eltern Inca (Edda Björgvinsdóttir) und Baldvin (Sigur Dur Sigurjónsson) Unterschlupf zu finden, aber haben eben Zoff mit den Nachbarn. Der Konflikt eskaliert. Eine Katze verschwindet, dann der Hund der anderen Partei. Während die Katze irgendwann wieder auftaucht, endet der unschuldige Hund als ausgestopftes Exemplar vor der Haustür. Aber es müssen noch mehr dran glauben, indiesem Drama, das am Ende Shakespeare’sche Züge annimmt.
Das Talent Sigurðsson (den das Fachblatt «Variety» 2012 zu den zehn europäischen Filmregisseuren zählte, die im Auge zu behalten sind) hat auf spröde isländische Art einen alltäglichen Konflikt beschrieben. Fast beiläufig. Doch die giftigen Wortwechsel zwischen den Nachbarn schlagen quasi in die Tat um, wobei sich besonders Atlis Mutter Inga als boshaftes Weib entpuppt und gegen die blonde «Fahrrad-Schlampe» Eybjörg (Selma Björnsdóttir) wütet. Der Streit artet zum Thriller und Drama von Shakespear’scher Gewalt aus. Wenn man so will: Eine Parabel auf unsere Zeit, mit nationalem wie globalem Konfliktpotenzial. Sigurðssons Kommentar: «Es liegen in unserer Zeit ein paar fürchterliche Sachen in der Luft, und ich glaube, wir haben einen Punkt erreicht, wo ernsthafte Bedrohungen die Existenz unseres Planeten gefährdet. Wenn wir auf das grösste Ereignis unserer Zeit, den Klimawandel, schauen, dann ist es genau das. Die ganze Welt müsste sich zusammensetzen und einen sicheren Weg des Lebens finden und gehen. Aber es scheint, dass wir dazu nicht in der Lage sind.» Man möchte ergänzen: Wenn der Konflikt um einen Baum und dessen Schatten zwischen Nachbarn zum Krieg führt, wie soll es dann erst mit Problemen zwischen den Völkern klappen?

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The Dead Don’t Die
rbr. Zombies mit Konsumgier. Sie sterben einfach nicht aus, seitdem sie von Georg A. Romero 1968 zum Leben erweckt wurden, die Untoten (the Dead), auch Zombies genannt, seit dem Horrortrip «Night oft he Living Dead» im Kino. Und nun erweist Kultmeister Jim Jarmusch («Down By Law», «Dead Man», «Only Lovers Left Alive») ihnen die Ehre. Natürlich nicht ohne Hintergedanken und redlich böse Absichten. Es geht um den Untergang der Welt, der von höchster Stelle (US-Präsident) geleugneten Klimakatastrophe und allgegenwärtiger Konsumgier. Aber der Reihe nach. Im gemütliche US-Provinzstädtchen Centerville mehren sich merkwürdige Zeichen: Haustiere fliehen, es wird nicht mehr richtig Tag und nicht mehr richtig Nacht. Die Erde scheint regelrecht aus den Fugen geraten, weil an falscher Stelle gebohrt wird. Infolge dieses sogenannten «Polar Fracking» verliert die Erde ihre Balance und die Toten ihre «ewige Ruhe». Sie steigen – natürlich bei Vollmond – aus den Gräber und machen sich breit. Zombies lechzen nicht nur nach Menschenfleisch, sondern auch nach ihren Lieblingsgetränken oder Spielarten (Comics). Ein Zombie (unverkennbar Iggy Pop) geifert nach Kaffee, die Untote Mallory (Carol Kane, «The Sisters Brothers») verlangt Chardonnay.
Fatal, wer einmal von den Zombies angeknabbert wird, mutiert zum Zombie, so auch Farmer Bill (Steve Buscemi), Eisenwarenhändler Hank (Danny Glover), Kioskbetreiber Bobby (Caleb Landry Jones) oder die Cafe-Besitzerinnen Fern (Eszter Balint) und Lily (Rosal Colon). Bald sind die guten Cops Cliff (Bill Murray) und Ronnie (Adam Driver) auf sich allein gestellt und einer Horde Zombies ausgesetzt. Fast keiner kann den schlurfenden, stolpernden und fleischgeilen Untoten entkommen. Halt, das ist noch Waldguru Bob (Tom Waits, als eine Art pelziger Einsiedler kostümiert), der die Vorgänger beobachtet und kommentiert. Sein Fazit: «Die Welt ist kaputt.» Und am Ende gibt’s noch eine überraschende «Erleuchtung» in Gestalt der Seherin und Bestatterin Zelda (Tilda Swinton).
Wenn Jim Jarmusch vom Leder zieht, werden verschiedene Saiten gezupft, Töne angeschlagen und Genre gemixt. Cop Ronnie Peterson beispielsweise liebt den Countrysänger Sturgill Simpson aus Kentucky (den es wirklich gibt) und seinen Song «The Dead Don’t Die» (der dem Film den Titel gab). Trockener Humor wechselt mit makabren Schüben, Schrecken mit Schalk Bei aller Fresslust fliesst kaum Blut, und die Zombie zerfallen zu Staub, wenn man sie köpft. Wie tröstlich! Jarmuschs horrende Metapher auf die Konsum- und Klimaapokalypse ist sowohl Geisterbahnfahrt als auch todernste Gesellschaftskritik – mit grossem mimischen Aufgebot. Und der sarkastischen Erkenntnis: Wir sind doch alle Zombies, die sich zerfleischen, zerfressen von Gier. Na dann guten Appteit.

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Britt-Marie war hier
rbr. Stoikerin mit Herz. Ihr Leben, ihre Zweisamkeit ist geregelt – vom Bügelbrett bis zur pünktlichen Mahlzeit. Wenn ihr «Pascha» (Ehemann) nach Hause kommt, ist Britt-Marie (Pernilla August) zu Diensten – treu und zuverlässig seit über vierzig Jahren. Sie kennt es nicht anders und scheint zufrieden. Bis eines Tages der «Göttergatte» (Peter Haber) einen Herzinfarkt erleidet und sie am Spitalbett mit einer knackigen blonden Tussi konfrontiert wird, wohl der heimlichen Geliebten des Ehemanns. Kurz entschlossen packt die enttäuschte, aber durchaus nicht in den Grundfesten erschütterte 63-jährige ihre Koffer und verreist. Was tun? Das Arbeitsamt kann ihr nur einen Job anbieten – als Leiterin eines Freizeitzentrum im Provinzkaff Borg. Obwohl Britt-Marie keine Ahnung vom Fussball hat und auch keine ausgesprochene Kinderfreundin ist, nimmt sie sich der Jugendlichen (inklusive Mädchen) an, die nur eins im Kopf haben: Fussball. Und so müht sich die Jugendbetreuerin im rüstigen Seniorenalter ab, die Truppe, überwiegend mit Immigrationshintergrund, in Trab zu bringen. Das Ziel: Mindestens ein Tor gegen den Gegner zu schiessen. Irgendwie gewinnt der neue weibliche Coach das Vertrauen der jungen Balltreter und des Dorfpolizisten (Anders Mossling), der sich altmodisch charmant um sie bemüht.
Der Schwede Frederik Backman («Ein Mann namens Ove») lieferte die Vorlage (und den Bestseller), Tuva Novotny verfilmte die ganz andere Aussteigergeschichte. «Schritt für Schritt» lautet das Motto der unverzagten Britt-Marie, die stoisch auch Aufgaben anpackt, denen sie anscheinend gar nicht gewachsen ist. Aber: Wer nichts wagt, gewinnt auch nichts – ob jung oder alt. Die beherzte Komödie mit einer umwerfenden Pernilla August (61) aus Stockholm («Star Wars I und III») als Titelheldin ist nicht nur erfrischend optimistisch, sondern auch liebenswürdig witzig. Britt-Marie hinterlässt Spuren beim Aufbruch aus der Routine und der alltäglichen Perfektion, der nicht beim Schlusspfiff endet, weil Paris kein Traum bleiben soll…
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Missing Link
rbr. Ein Yeti im Gentleman-Look. Es gibt solche und solche Trickfilme – kuschelige, kitschige, kommerzielle, Märchen, Comics, Fantasy – wie auch immer. Am besten sind die, welche sich durch Phantasie, Originalität und Hintersinn auszeichnen. Und so einen Trickfilm hat Chris Butler geschaffen. «Mister Link» (Originaltitel: Missing Link) führt zu «historischen Spuren». Sir Lionel Frost ist ein leidenschaftlicher, von einem erlauchten, aber hochnäsigen Forscherclub gehänselt und nicht für voll genommen. Er will die Existenz des legendären Vorfahren der Menschen beweisen. Auf seiner Abenteuerreise wird Frost von der forschen Adelina Fortnight begleitet, die einen Plan besitzt, der sie zu dem begehrten Wesen im pazifischen Raum führen soll. Und tatsächlich, das ungleiche Paar wird fündig: Mr. Link, so von Sir Frost benannt, entpuppt sich als gutherzige Kreatur, clever, sehr lernfähig und sehr einsam. Aber es gibt Hoffnung, denn an einem mysteriösen eisigen Ort namens Shangri-La soll ein ganzes Volk von hochgenbildeten «Yetis» existieren, im Himalaya versteht sich…Das ungleiche Pärchen, netter Forscher und herzensgutes Objekt der Forscherbegierde, steht für Freundschaft und Partnerschaft, die auch Einsamkeit ausräumen kann. Chris Butlers witziger, amüsanter Abenteuerfilm – mit dem bescheuerten deutschen Titel «Ein fellig verrücktes Abenteuer» – besticht durch Herz und Verstand. Der Trickfilm im Stop-Motion-Verfahren und mit Computeranimation hat Pfiff und grossen Unterhaltungswert – für die ganze Familie. Eine Mission mit Humor und Hintersinn.

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Royal Corgi

rbr. Auf die Schnauze gefallen. Alles muss seine Ordnung und Hierarchie haben, erst recht am königlichen englischen Hof. Prinz Charles, genau der, schenkt seiner Queen, genauer Elizabeth II, einen herzigen Corgi. Zur Kenntnis: Welsh Corgi Pembroke ist eine britische Hunderasse, ein Abkömmling der walisischen Hirtenhunde. Der kleinwüchsige Vierbeiniger mit Stummelschwanz, grossen Ohren und einem Schäferhund nicht unähnlich (in der Kopfform) ist beliebt im Königshaus. Rex ist der Liebling der Queen, der sich im Luxus des Buckingham Palace pudelwohl und sicher fühlt, doch Konkurrent Charlie wittert seine Chance, als Rex einen Staatsempfang mit US-Präsident Donald Trump vermasselt. Corgi Rex fällt in Ungnade und landet auf den Gassen Londons, schliesslich im Tierheim, während Charlie sich clever und hinterhältig bei der Queen eingeschmeichelt hat. Rex ist brutal auf die Schnauze gefallen, kämpft aber mit allen animalischen Mittel, um sich im Königshaus zu rehabilitieren. Er findet Freunde und Verbündete in Jack, der sein Kämpferherz entdeckt, in der eleganten persischen Windhündin Wanda und im groben Pitbull Tyson, dem Macho im Tierheim.
Die «Rückeroberung» gestaltet sich schwierig, aber mit Herz und Pfiff ist vieles möglich. Ben Stassen und Vincent Kesteloot haben ihr Animations-Actionabenteuer mit vielen Anspielungen, besonders gesellschaftlicher und politischer Art angereichert. Trump ist mittlerweile zu einem höchst beliebten Spott-Objekt geworden und bekommt auch hier sein Hunde-Fett ab. Das Intermezzo mit ihm, die Palast-Etikette und Gepflogenheiten lohnen allein den Kinobesuch. Manchen mag der satirische Actionsclinch etwas durchsichtig und einfach angelegt sein, aber er bietet Spass für Gross und Klein. Die belgische Produktion ist jedenfalls spritziger und unterhaltsamer als manche gigantische Hollywood-Trickserei und animierte Show.
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The Harvesters

rbr. Eine weisse Enklave in Südafrika. Sie haben Südafrika erobert, besiedelt, sich zu eigen gemacht. Die Buren (oder Kapholländer) sind Weissafrikaner, die Höfe und Farmen aufgebaut haben. Sie sprechen Afrikaans, eine der elf Amtssprachen in Südafrika, die sich seit dem 17. Jahrhundert aus dem Niederländischen entwickelt hat. Im Free State Südafrikas leben Nachkommen der Buren, der Einwanderer aus den Niederlanden, abgeschottet und gefährdet. Eine frömmelnde Afrikaans-Familie bewirtschaftet einem abgeschiedenen Hof.
Ein karger entbehrungsreicher Alltag. Janno (Brent Vermeulen) ist der älteste Sohn dieses Familienbetriebs. Der Teenager arbeitet hart auf dem Hof. Ein scheuer Typ, duldsam, gehorsam, ein Aussenseiter auch beim Rugby-Spiel, der Anschluss und Gefallen sucht. Eines Tages wird er von seiner frömmelnden Mutter mit der Tatsache konfrontiert, dass die Gemeinschaft «Zuwachs» bekommen soll. Der renitente, schwer erziehbare Bursche Pieter (Alex van Dyk) soll adoptiert und geläutert werden. Der wilde Junge aus der Stadt, den Janno wie einen Bruder behandeln soll, will sich nicht fügen. Die Konflikte sind programmiert. Zwei Burschen in einer Familie mit vier Geschwistern und harschen Eltern, die, in frömmelnder Tradition verhaftet, keine individuellen Freiheiten kennen und dulden. Zwei Konkurrenten auch, welche die Gunst der Familie erheischen wollen. Wer findet Anerkennung um welchen Preis, wer findet wie seinen Weg?
Regisseur Etienne Kallos macht uns in seinem Spielfilm mit einer Familie bekannt, die sich im Free State eine Existenz aufgebaut hat. Der südafrikanische Free State ist eine Provinz, ursprünglich (1854) als Burenrepublik Oranje Freistaat etabliert. Seit Ende der Apartheit ist diese Region vielen schwarzen Südafrikaner ein Dorn im Auge. Es gibt Überfälle und die Drohung, diese Farmen zu enteignen. Filmautor Etienne Kallos, griechisch-südafrikanischer Abstammung, beschreibt in seinem Langspielfilmdebüt die Suche nach Halt und Identität, nach Selbstfindung und Zukunft. Insofern wiederspiegelt der Konflikt zwischen den Jungen auch ein Zeitbild einer Gemeinschaft, die der Afrikaans, die gefährdet ist. «The Harvesters», eigentlich Erntearbeiter, sind Zeugen einer bedrohten Gemeinschaft und Kultur.
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Dolor y Gloria: Pedro Almodóvar

I.I. Leidenschaften und Reflexionen. Sein neuer Film läuft bei den Filmfestspielen in Cannes im Wettbewerb. Ein Film von Almodóvar ist immer auch ein Film über Almodóvar mit starken autobiografischen Bezügen. Und wie es so schön heisst, das Private ist das Politische, trifft es bei dem 70jährigen Almodóvar speziell zu. Dies sei sein persönlichster Film, meinen Kritiker. Nur, Almodovar war schon immer sehr persönlich («Todo sobre mi madre», 1999). Der neue Film «Dolor y Gloria» über seine Leidenschaften beginnt folgerichtig mit seinen Leiden und Gebrechen. Was er zeigt und zum Ausdruck bringt, ist weniger umwerfend, als wie er es tut, das Auge schwelgt in farbenprächtigen Bildern. Regisseur Salvador Mallo, Almodóvars Alter Ego (hervorragend: Antonio Banderas) hat sich depressiv in seine gestylte, mit Kunst angereicherte, ins stetige Dämmerlicht getauchte Wohnung zurückgezogen.

Als Salvador plötzlich eingeladen wird, seinen Publikumserfolg «Sabor» in Madrid in einer Retrospektive mit dem Hauptdarsteller Alberto Cresto zu präsentieren und zu kommentieren, lässt er sich nur widerstrebend darauf ein, weil er sich vor Jahren mit dem Star seines Films zerstritten hatte. Doch beim Wiedersehen scheinen sich beide Männer gut zu verstehen. Alberto (Asier Etxeandia) hat den Drogenkonsum, den Salvador früher vehement ablehnte, nicht aufgegeben. Mit Alberto zusammen erlebt Salvador in einer Drogentrance eine Retrospektive seiner Kindheit, die ihn die chronischen Schmerzen vergessen und in der Vergangenheit schwelgen lässt.
Der aufgeweckte sechsjährige Salvador (Asier Flores) bringt einem Handwerker das Lesen und Rechnen bei und entdeckt schon früh seine Liebe fürs Kino. Als seine Mutter Jacinta (Penélope Cruz) ihn in eine Priesterschule geben will, wehrt er sich, obwohl es die einzige Möglichkeit für eine arme Familie zu einem Studium ist, wie ihm seine Mutter erklärt, die Salvador eine bessere Zukunft bieten möchte. Ihr karges Zuhause, eine Wohnhöhle unter der Erde, schmückt sie aus, so gut es eben geht. Zuhause macht Salvador auch die ersten Erfahrungen mit seiner sexuellen Identität; als der junge Handwerker eine Wand mit Fliesen verziert und sich danach auszieht, um sich zu waschen, reagiert Salvador auf die erotische Szene mit einem Fieberanfall, ein erster Hinweis auf seine Homosexualität. Alberto bringt Salvadors freimütige, persönliche Notizen aus seinem Leben als Theaterstück auf die Bühne, wo der ehemalige Liebhaber Federico (Leonardo Sharaglia) das Stück sieht, sich danach bei Salvador meldet und ihn in seiner Wohnung aufsucht. Das kurze Intermezzo weckt auch Erinnerungen Salvadors an seine Mutter (im Alter Julieta Serrano), die ihm bedeutete, sie wolle nicht in seinem Film auftreten, beim letzten Treffen gab sie ihm Anweisungen für ihr Begräbnis.
Kurz darauf ist sie gestorben, ohne Salvador wiederzusehen. Ein berührender Film ist dem vielseitigen Regisseur Pedro Almodóvar da gelungen, der noch lange nachhallt. Antonio Banderas erhielt in Cannes den Preis als bester Schauspieler.

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Elton John: Rocketman
I.I. Das wilde Leben des Elton John. Seine Ohrwürmer von «I’m still standing» bis zu «Candle in the wind» schrieben schon Geschichte. Nun ist das wechselvolle Leben der Pop-Ikone Elton John verfilmt worden. Geht das? Ja, sehr gut sogar, denn der 29jährige Taron Egerton («Klingsman») verkörpert das wilde Leben des jungen Elton John überzeugend mit Verve und original gesungenen Songs. Eine umwerfende Performance, von den schrillen Outfits, der Suchtbekämpfung bei den AA, der lieblosen Kindheit und den ersten Anfängen bei der strengen Klavierlehrerin, alles wird thematisiert. Regie der Filmbiografie führte Dexter Fletcher. Ein Wunder, dass es Elton John, der eigentlich Reginald Dwight heisst, so weit gebracht hat, sich trotz ungünstiger Vorausetzungen neu als Elton John selbst zu erfinden. Sein treuer Freund Bernie Taupin (Jamie Bell), ein genialer Songschreiber, half ihn auf seinem Weg zu sich selbst. Aus seiner Homosexualität hat Elton John nie ein Geheimnis gemacht. Mittlerweile lebt er ein beschaulicheres Leben mit seinem jüngeren Ehemann und zwei adoptierten Kindern. Auf Tournee geht er nicht mehr. Doch seine Songs sind präsent. Der Film wird ebenfalls am Filmfestival in Cannes gezeigt.
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The Silence
rbr. Reden ist tödlich, Schweigen überlebenswichtig. Es gibt verschiedene Horrorspielarten, um eine Geschichte um Schweigen/Stille (Silence) als überlebenswichtige Bedingung zu installieren. «A Quiet Place» von John Krasinski ist so ein Kinofall aus dem Jahr 2016. Blinde Aliens mit höchstem Hörempfinden bedrohen die Menschheit, die zum Schweigen, zur absoluten Stille verdammt ist. Die jüngste Horrorvariante «The Silence», inszeniert von John R. Leonetti, bietet eine Variante. Es ist wie bei Mumien- oder Dracula-Filmen: Geister, Untote oder andere Wesen werden geweckt (archäologische Expedition!). In diesem Fall sind es «Asvispa», monströse Wespen, eine Mischung aus Aliens à la H.R. Giger und Fledermäusen.
Im Blickpunkt steht eine Familie. Das macht sich gut: der redliche Vater Hugh Andrews (Stanley Tucci) will natürlich nichts anderes, als seine Familie vor der mörderischen Plage schützen. Man flieht ins Nirgendwo, in die Wälder, doch auch da sind die bösen Insekten mit Aliensallüren und -eigenschaften schon präsent. Gut gibt es die gehörlose Tochter Ally (Kiernan Shipka), die sich eben lautlos mit der Familie verständigen kann. Aber sie wird zum «Problem», heisst zum Subjekt der Begierde, als eine obskure Sekte auftaucht, die sie vereinnahmen will.
Ein Bestseller wie «The Silence» von Tim Lebbon macht noch keinen Film. John R. Leonetti und sein Drehbuchteam Shane Van Dyke und Carey Van Dyke haben’s probiert. Anfänglich wird gekonnt eine bedrohliche Endzeitstimmung aufgebaut, das Eingangsszenarium wirkt echt, doch wenn die lärmempfindlichen Aliens/Wespen auftauchen und attackieren, verkommt der Streifen zu einem herkömmlichen Horrortrip. Da helfen auch die soliden Schauspieler nichts. Das Thema – eine existentielle Bedrohung von Aussen, das Zusammenschliessen einer Familie, letztlich das Gebot der Solidarität – bleibt Stückwerk. Dem Filmefinale nach zu schliessen, ist der Stoff «Silence» noch nicht abgeschlossen. Und der Rest ist Schweigen oder doch nicht!
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God Exists, Her Name is Petrunya

rbr. Eine Frau behauptet sich. Im Osten Mazedonien ereignete sich 2014 folgendes: Beim traditionellen Kreuzwerfen im Rahmen einer Dreikönigsprozession bekam eine junge Frau das Holz-Kruzifix in die Finger und beanspruchte es für sich. Gegen alle Regeln, denn nur Männern ist dieses Kreuz vorbehalten. Frauen dürfen sich nicht aktiv beteiligen und werden nur als Publikum geduldet. Eine Freveltat. Regisseurin Teona Strugar Mitevska aus Skopje, Mazedonien, verarbeitete den Vorfall in ihrem Spielfilm «God Exists, Her Name Is Petrunya». Ein trister Ort, dieses Kaff Stip im Osten Mazedoniens. Trostlos auch für die 31jährige Petrunya (Zorica Nusheva), die bei ihren Eltern lebt und sich vergeblich um einen Job in einer der Textilfabriken bemüht, vom Chef betatscht, erniedrigt und als ungeeignet taxiert wird – auch fürs Bett. Eher zufällig wird sie Zeugin des traditionellen Kreuzwerfens im Januar. Intuitiv, ohne sich weitere Gedanken zu machen, springt Petrunya ins eiskalte Flusswasser und fischt das Kruzifix heraus. Die Männer sind erbost, denn nur sie dürfen die Trophäe erobern. Doch die junge Frau ist starrköpfig, will ihre «Errungenschaft» nicht rausrücken. Der Frevelfall eskaliert, ruft Popen und Polizei auf den Plan. Petrunya wird einvernommen, unter Druck gesetzt, vom Männermob bedroht. Nur die Fernsehreporterin Slavica (Labina Mitevska), die das unerhörte Ereignis publik macht, und ein junger Polizist (Stefan Vujisic) stehen auf ihrer Seite und haben Verständnis.
Die junge Frau Petrunya wächst an ihrem Kreuz, lässt sich auch unter grossem Druck nicht verbiegen. Stoisch und stolz erträgt sie Verunglimpfungen, Drohungen, stellt Fragen nach Recht und Regeln, nach der Vernetzung von Polizei und Popen, protestiert gegen zementierte Kirchentraditionen, die eben nicht von Gott gegeben, sondern von Menschen gemacht wurden.
Die Schauspielerin Zorica Nusheva ist eine Wucht, der Film eine Offenbarung. Er beschreibt ernsthaft-ironisch verknöcherte Staatsstrukturen, eine repressive Männergesellschaft und ungebrochene Frauenfeindlichkeit, aber auch die Macht der Medien, wenn sie nicht zensuriert oder gemassregelt werden. An der Berlinale 2019 erhielt das Gesellschaftsdrama den Preis der Ökumenischen Jury und den Gilde Filmpreis.
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Ray & Liz

rbr. In der Gosse. Am Rande der Gesellschaft in Birmingham. Liz (Deirdre Kelly, in jüngeren Jahren Ella Smith), die Mutter, ein rabiates Schwergewicht, raucht so viel sie kann, legt Puzzle und vertrödelt den Tag, Ray (Patrick Romer und Justin Salinger), Vater, ohne Job und Aussichten, säuft sich durch den betrüblichen Alltag. Ein Leben am Rande der Gosse in einer Sozialwohnung. Und mittendrin die Kinder Richard (Jacob Tuton, später Sam Planmt) und Jason (Callum Slater/Joshua Millard-Lloyd). Einmal hütet ein Onkel ein, wird von einem der Sprösslinge zum Trinken animiert, lässt sich volllaufen und wird dann von Liz halb tot geschlagen. Raue Bilder der Verwahrlosung. Das war mal anders, aber die Zeiten sind vorbei.
Von einer (fast) intakten Familie, von trister Kindheit bis zum endgültigen Verfall des Vaters beschreibt der Brite Richard Billingham die Geschichte seiner Familie – in Zeitsprüngen. Vor über 23 Jahren hat er, der Fotograf, das Familienalbum «Ray’s a Laugh» geschaffen, das grosse Aufmerksamkeit fand und ihn berühmt machte. Fast ein Vierteljahrhundert später hat Richard Billingham einen Familienfilm inszeniert über seine Eltern, die lange schon tot sind, und seine Kindheit. Düstere Bilder aus harten Zeiten. «Ray & Liz» dokumentiert eine Familie des Subproletariats und ihren Niedergang in den Achtzigerjahren. Genau, schäbig stimmig und schonungslos rekonstruiert – mit einem Hauch von Zärtlichkeit und grimmigem Humor. Insofern ist Billinhams Sozialdrama durchaus geistig verwandt mit Ken Loach und Filmen wie «Raining Stones», «My Name is Joe» oder «I, Daniel Blake».

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Stan & Ollie

rbr. Super-Slapstick. Sie sind aus der frühen Filmgeschichte nicht wegzudenken: Dick & Doof. Die beiden Slapstick-Helden Stan & Ollie aus Hollywood erlebten Höhepunkte während der Stummfilmzeit bis etwa 1929. Der Film «The Music Box» (1932) erhielt einen Oscar. Im Gegensatz zu vielen anderen schafften Stan Laurel und Oliver Hardy erfolgreich den Sprung zum Tonfilm. Das waren überwiegend Kurzfilme. Bis 1940 standen die beiden Ur-Komiker bei Produzent Hal Roach unter Vertrag. Die Nachfrage nach Kurzfilmen liess nach, und Roach setzte die beiden in abendfüllenden Filme wie «Die Wüstensöhne» (Sons oft he Desert, 1933), «Zwei ritten nach Texas» (Way Out West, 1937), «Auf hoher See«» (Saps At Sea, 1940) oder «Dick und Doof die Schrecken der Kompanie«» (Great Guns, 1941) ein. Nach Roach entstanden acht weitere Spielfilme, doch da war der Zenit bereits überschritten, der Erfolg ebbte ab. Der letzte Film hiess «Dick und Doof erben eine Insel» (Atoll K, 1951).
Bei über 100 Filme wirkten Stan Laurel, der britische Schlacks, und Oliver Hardy, das amerikanische Trampel, mit – ein geniales Komikerduo, das in den Siebzigerjahren, also nach ihrem Tod (1957 Hardy, Laurel, 1965), Fernsehkarriere machte in Deutschland. Theo Lingen moderierte dazumal die ZDF-Serie «Lachen Sie mit Stan und Ollie».

Jetzt sind «Stan & Ollie» im Kino auferstanden, dank Regisseur Jon S. Baird, dank vor allem der beiden Hauptdarsteller Steve Coogan (Stan) und John C. Reilly (Ollie). Der Spielfilm setzt mit einer grandiosen Szene zur Westernklamotte «Way Out West» im Jahr 1937 ein, mit dem berühmten Tänzchen des ungleichen Paares. Man streitet sich mit Studioboss Hal Roach (Danny Huston, Sohn des Regisseurs John Huston), fühlt sich ausgenutzt, gegängelt und möchte die Filmfäden selber in die Hand nehmen. Ein Sprung in die Fünfzigerjahre, die grosse Kinozeit ist vorbei: Stan und Ollie blödeln für Werbespots, versuchen als Comedians auf Bühnen in Grossbritannien das Publikum zu begeistern, arrangiert vom windigen Manager Bernard Delfont (Rufus Jones). Eine triste Tour, die erst in London eine Art Revival weckt, als die beiden die Promotion selber in die Hand nehmen.. Aber da ist der mollige Ollie bereits gesundheitlich angeschlagen, sind Stans Filmträume zerplatzt.
Bairds Hommage an das grosse Slapstick-Duo konzentriert sich auf die letzten Jahre¸ wird zum langen Abschied und wehmütigen Rückblick. Es ist aber auch ein Filmwerk über die Reibung, Verbundenheit und Vertrautheit einer Partnerschaft, über bewegte Komik (Slapstick) und grandiose Performance. Dass nebenbei die Ehefrauen (Nina Arianda und Shirley Henderson) der beiden Blödelstars einen kleine Zickenkrieg führen, rundet das Bild der zwei Mimen ab, die auf Gedeih und Verderb miteinander verbunden sind und den Eindruck eines alten Ehepaars machen.
Steve Coogan (Stan) und John C. Reilly (Ollie), der kürzlich erst in «The Sister Brothers» einen Bravourritt absolvierte, verkörpern das Paar mit der Melone nicht nur phänomenal vom Augenaufschlag bis zum breiten Grinsen, sondern hauchen ihm auch Seele ein. Eine rührende Reminiszenz – melancholisch, herzhaft humorig und nachdrücklich. Der Film mag altmodisch erscheinen, aber das ist auch seine Stärke: Dick & Doof hätte diese neue komische, aber auch wehmütige Performance gefallen!

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Greta
rbr. Wie eine böse Klette. Der Name kling harmlos und hat absolut nichts mit der jungen schwedischen Umweltaktivistin Greta (Thunberg) zu tun, auch nichts mit der Hollywood-Ikone aus Schweden, Greta Garbo («Mata Hari», «Anna Karina»). Greta ist eine undurchsichtige Witwe, die «Köder» auslegt. Frances (Chloë Grace Moretz), ein junge Kellnerin in Manhattan, «beisst» an. Sie findet eine Handtasche in der U-Bahn, macht die Besitzerin ausfindig, eben Greta (Isabelle Huppert), eine verwitwete alleinlebende Klavierlehrerin. Man plaudert, verabredet sich, freundet sich an, bis Frances eines Tages dahinter kommt, dass die verlorene, vergessene Handtasche eine Masche ist. Frances ist schockiert und will jeden Kontakt mit Greta abbrechen. Vergebens. Wie eine Klette haftet sich die einsame Seele an ihre Fersen. Francies wird sie nicht mehr los. Sie sucht Hilfe bei ihrer Freundin und Mitbewohnerin Erica (Maika Monroe) sowie bei einem Privatdetektiv (Stephen Rea).
Etwa bis zur Hälfte des Stalker-Thriller «Greta» bleibt die Beziehung, die Greta aufbaut, spannend,, nach der Entdeckung Frances‘ driftet der Psychotrip in geläufige Schock- und Schreckgewässer. Greta mutiert zur besessenen Stalkerin und mörderisches Monster – das beherrscht Isabelle Huppert hervorragend, pendelnd zwischen Nettigkeit und Grausamkeit, verlorene Seele und besitzergreifende Furie. Neil Jordan – sein Beziehungsdrama «The Crying Game» (1992) ist unvergesslich mit Stephen Rea als IRA-Kämpfer und Jaye Davidson als Transgender Dil – hat Thriller unter Frauen inszeniert und auch am Drehbuch mitgewirkt. Doch der o Trip verkommt zum konventionellen durchsichtigen Horrorkammerspiel. Schock, lass nach, man hätte von Neil Jordan etwas mehr Klasse erwartet!

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Gloria Bell
rbr. Leben, Lieben, Lust. Ein Ohrwurm: «Gloria». Damit stürmte die US-Popsängerin Laura Branigan 1982 die Hitparaden. Der Song, ursprünglich von Umberto Tozzi (1979), klingt heute noch so frisch, und elektrisierend wie vor mehr als drei Jahrzehnten. Mit «Gloria» setzt auch die Neuverfilmung vom Chilenen Sebastián Lelio einen vibrierenden, elektrisierenden Schlusspunkt. Aber der Reihe nach: Vor fünf Jahren hatte Lelio die Romanze einer Single Ende 50 ins Kino gebracht, dazumal mit Paulina Garcia als Gloria. Der Chilene weigerte sich lange, ein Remake für den US-Markt zu inszenieren, bis Julianne Moore ins Spiel kam. Mit ihr belebte er Gloria neu. Und es hat sich gelohnt, auch wenn man das Original noch im Gedächtnis hat. Die Geschichte wurde flugs «gezügelt» von Santiago de Chile nach Los Angeles, doch im Kern dreht sich wieder alles um Gloria Bell (Julianne Moore), eine Frau Ende 50, die ihre Ehe und Kinder hinter sich hat und nun allein mit dem Leben, der Einsamkeit und Sehnsucht klar kommen muss. Sie ist kein Kind von Traurigkeit, sucht in schummrigen Lokalen, in Discos Lebenslust und Ablenkung beim Tanzen, beim Flirten und trifft Arnold (John Turturro). Man neckt sich, trifft sich, geht zusammen ins Bett, aber… jeder kann sein bisheriges Leben nicht einfach wie Fallobst abschütteln. Kein frohlockender Himmelstrip, keine pure Lebens- und Liebesfreude, aber Hoffnung. Gloria ist die Frau, die ihren eigenen Platz nach einem halben Familienleben sucht, die nicht resigniert auf einer Achterbahn der Gefühle, sondern wie die Sängerin Laura Branigan die Lebenslust in Rhythmus umsetzt und auslebt. Julianne Moore und der Song tun gut, begeistern. Ein Remake, das hinhaut und mitreisst – im Gegensatz zu vielen anderen Neuinszenierungen. Dazu kommt eine Palette von Songs wie Bonnie Tylers «Total Eclipse oft he Heart», John Paul Youngs «Love is in the Air» oder «Boogie Wonderland» von Earth, Wind & Fire. Das feuert an, erzeugt positive Gefühle.

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Passion – zwischen Revolte und Resignation

rbr. Reflexionen über Rebellion und Resignation. Aus nicht überzeugenden, fadenscheinigen Gründen wurde seinem Film von der Auswahlkommission an den Solothurner Filmtagen 2019 eine Aufführung verweigert. Sie schoben u.a. das Alter des Filmers (65) und vielleicht auch seine «altrevolutionäre» Haltung als Gründe vor. Womit die Verantwortlichen der Filmtage sich selbst einen Bärendienst erwiesen. Am Festival Visions du Réel in Nyon dagegen wurde «Passion» im April willkommen geheissen. Zurecht. Der 65-jährige Filmer Christian Labhart sagt und zeigt, was seine Sache ist, seine ideologische Orientierung, Sicht und Haltung. «Mein ganzes Leben habe ich an die Macht der Veränderung geglaubt», bekennt und konstatiert: «Die Welt ist aus den Fugen geraten. Die globale Maschinerie rattert, die Logik des Marktes unterstützt die Gier des Menschen, die Erde leidet unter dem Gewicht des ökonomischen Diktats….Die Erde wird für einen endlos wachsenden Profit verbrannt.»
Starke Worte des Autors. Was will der Film «Passion – zwischen Revolte und Resignation» ausdrücken, vielleicht bewirken? Es sind Fragen wie «Verändert sich nichts, obwohl die Menschen sich ihr eigenes Grab schaufeln? Worauf gründen die Kräfte der Anpassung, die Macht der Herrschenden, die Starrheit der Verhältnisse?» Und vor allem die berühmte Faust-Frage «Was hält die Welt im Innersten zusammen?
Der Zürcher Christian Labhart, mit seinem Malerporträt «Giovanni Segantini – Magie des Lichts» noch in bester Erinnerung, ging seinen persönlichen Weg, er setzte sich quasi ins Bild, indem er die Ereignisse, Zeit- und Weltbilder mit seinem Leben verknüpft, es darin wiederspiegelte. Es beginnt mit dem G-20-Gipfel in Hamburg 2017, mit Ausschreitungen und Ausnahmezustand in der Hansestadt. Er springt zurück in die Siebzigerjahre («Im Grossen oder im Kleinen»), in die Achtzigerjahre («Ich & Wir») und ins neue Jahrtausend («2001-2003 Ordnung in Chaos»). Und über allem die Frage: «Kann ich die Wirklichkeit verändern, indem ich sie abbilde?» Zürich (Sommer 1968 und mehr), Hamburg, Mazedonien und Japan, Dubai und Venedig (Touristenströme) – Labhart packt vieles in seine Reise durch die Welt, Vergangenheit und Gegenwart. Und liefert so packendes Anschauungsmaterial – jedem Pädagogen und Politiker zu empfehlen.
Mag sein, dass es den Solothurner Kommissären gegen den Strich ging, dass hier ein alter Filmer seine ganz persönliche Passionsgeschichte inszenierte und zu einem elegischen Essay fügte, Bachs Matthäus-Passion inklusive, mit der er musikalische Zeichen setzt. Seine «Leiden» und Leidenschaft an der Welt findet musischen und filmischen Ausdruck – klug, beeindruckend, denkwürdig. Seine Betrachtungen und Kommentierungen mögen bisweilen in Pathetische kippen, machen aber anschaulich klar, wie die Welt aus den Fugen gerät – zwischen Kapital, Konsum und Klima, Furcht, Flucht und Fakes.
Gespickt sind seine Weltbilder (Kamera: Pio Corrodi, dem kürzlich verstorbenen Meister, und Simon Guy Fässler) mit Texten aus Labharts Tagebüchern und einem Brief Ulkrike Meinhofs sowie literarischen Zitaten u.a. von Dorothee Sölle, Franz Kafka («Der Bau») oder Bertolt Brecht («An die Nachgeborenen»). Da heisst es bei Brecht: «Ihr aber, wenn es soweit sein wird, dass der Mensch dem Menschen ein Helfer ist, gedenkt unsrer mit Nachsicht.» Worte, die auch auf den Film zutrifft.
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The Aftermath – Niemandsland
rbr. Eiskalter Frieden. Ein Drama in mehrfacher Hinsicht: Hamburg 1949 ist zerstört und von den Briten besetzt, der Frieden ist trügerisch; ein britischer Besatzungsoffizier hat Verständnis für die Besiegten und findet dafür bei seiner Frau wenig Verständnis; die verwöhnte unglückliche Britin kommt mit der Situation nicht klar, gibt ihrem Mann die Schuld und verliebt sich ausgerechnet in einen Deutschen, dem Inhaber der Villa, in der das britische Paar einquartiert ist. Dramatische Zeiten, komplizierte Verhältnisse in einer Atmosphäre von Siegermentalität und Feindseligkeit, Leiden, Leidenschaft und Betrug.
Die Geschichte «The Aftermath» (2013) von Rhidian Brook, inspiriert von Erlebnissen des eigenen Grossvaters in Hamburg, war ursprünglich als Drehbuch gedacht, doch der Verlag Penguin Books bot dem Autor an, seine Geschichte zuerst als Roman zu verfassen. Das geschah dann auch mit grossem Verkaufserfolg. Brook arbeitete anfangs auch am Drehbuch mit, wurde dann aber von Joe Shrapnel und Anna Waterhouse abgelöst. James Kent inszenierte das Nachkriegsdrama mit feinem Faible für Historie, er fand Drehplätze in der Nähe von Prag, in der Umgebung auch eine Residenz, die als Hamburger Villa diente. Der äussere Rahmen (eisige Temperaturen) und die Kulisse (hier eine Stadt in Schutt und Asche, dort ein makelloser Landsitz) war nahezu perfekt. Zeit und Ort stimmten.
Winter 1946. Eine Grossstadt im Elend. Rachael Morgan (Keira Knightley) kommt in Hamburg an. Die Frau des britischen Oberstleutnant Lewis Morgan (Jason Clarke) ist unglücklich, sie hat ihren kleinen Sohn infolge eines deutschen Bombenangriffs verloren und ist nicht darüber hinweggekommen. Sie hasst die Deutschen. Das britische Besatzungspaar wird in einer Villa auf dem Land einquartiert. Lewis, Humanist und alles andere als ein besitzergreifender Besatzer, erlaubt dem Hausherrn, dem Architekten Stephan Lubert (Alexander Skarsgård), und dessen 16jährigen Tochter Frieda weiterhin einen Teil des Hauses zu bewohnen. Rachael akzeptiert das nur widerwillig. Irgendwann schmilzt das Eis, und Rachael sucht die Nähe des scheinbar unnahbaren Architekten und wohl auch Trost. Eine Liebe in Zeiten der Unruhe, des Umbruchs und Neuanfangs in Deutschland. Ein Nebenschauplatz ist der Untergrund Hamburgs, wo sich letzte Nazi-Anhänger sammeln und gegen die Besatzer Attentate planen. Einer von ihnen ist Albert (Jannik Schümann), in den sich Frieda, die Tochter Luberts verliebt. Frieda gibt ihrem Vater die Schuld am Tod ihrer Mutter, die ebenfalls durch einen Bombenangriff gestorben ist. Ziel der Operation der «Werwölfe» ist die Architektenvilla und die britischen Besatzer.
Viel Stoff für 109 Minuten. Manches wird angedeutet (Tätigkeit der «Werwölfe», «Aufstände» in Hamburg, die schwelende Ehekrise), bleibt aber Stückwerk. Liegt es an der Kühle und dem Spiel von Keira Knightley und Alexander Skargård, dass der Funken zwischen dem deutschen Hausherrn und der besetzenden Britin keine Flammen schlägt? Allein der Australier Jason Clarke vermag als Humanist in Trümmerzeiten zu überzeugen, als Ehemann und pflichtbewusster Army-Oberst, der um die Trauer seiner Frau weiss, aber nicht helfen kann. Er hat auch Verständnis für den «enteigneten» Lubert.
Das Melodrama um Schuld und Sühne, Krieg und die Folgen, Verwundungen und Hass, Liebe und Betrug mutet sich viel zu. Im Gegensatz zur durchsichtigen Dreiecksgeschichte konnte Regisseur James Kent die Stimmung einer kalten, schmerzvollen Zeit, die in Trümmern liegt, und betroffener Menschen glaubwürdig nachzeichnen. Diesbezüglich empfehlenswert für geschichtsinteressierte Kinogänger.

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Der Fall Collini
rbr. Ein Fall von Selbstjustiz. Eindeutig Mord. Ein Italiener hatte einen namhaften deutschen Grossindustriellen im Berliner Hotel Adlon umgebracht, kaltblütig erschossen und malträtiert. Dem Junganwalt Caspar Leinen (Elyas M’Barek) wird die Pflichtverteidigung im Fall Collini angeboten. Ein klarer Fall. Die gewieften Justizprofis, der Staranwalt und Rechtsprofessor Richard Mattinger (Heiner Lauterbach) und die Richterin (Catrin Striebeck), meinen es gut mit dem Neuling. Ein Routinefall, der freilich öffentliches Interesse weckt. Leinen verbeisst sich regelrecht in den Mordfall, auch als er erfährt, dass Hans Meyer (Manfred Zapatka), sein Ersatzvater und Grossvater seiner Jugendliebe Johanna (Alexandra Maria Lara), das Opfer ist. Der Täter, der 70-jährige Fabrizio Collini (Franco Nero), hat sich freiwillig gestellt, schweigt aber beharrlich und gibt seine Motive nicht preis. Trotz persönlicher Betroffenheit und Interventionen des Starjuristen Mattinger, der als Nebenkläger der Familie Meyer auftritt, und Johannas, fühlt sich Caspar Leinen an seine Pflicht als Rechtsvertreter gebunden und will sich auf keinen Deal einlassen. Er forscht nach, was es mit der Tatwaffe und der Verbindung des Ermordeten mit dem Italiener auf sich. Im Heimatdorf Collinis in der Toscana stösst er auf Ereignisse im Jahr 1944, als deutsche Besatzer (SS) Exempel an Dorfbewohner statuierten – als Strafaktion für einen Anschlag der Widerstandsbewegung. Hans Meyer war daran massgeblich beteiligt, und Collini war Zeitzeuge. Der wollte bereits Ende der Sechzigerjahre den SS-Anführer Meyer anklagen, scheiterte aber an neuen Gesetzen (Dreher-Gesetz 1968) der Bundesrepublik. Die deutschen Kriegstäter konnten nicht mehr des Mordes beschuldigt werden und kamen als «Totschläger» davon, weil Totschlag bereits verjährt war.
Das ist der historisch-juristische Hintergrund zum «Fall Collini», ein fiktiver Fall mit politischem Hintergrund, den Ferdinand von Schirach in seinem Roman von 2011 entworfen hat. Dem bayrischen Marco Kreuzpaitner (42) wurde der Stoff angetragen. Er hat ihn nahe an der Textvorlage mit namhafter Besetzung griffig verfilmt. Komödienstar Elyas M’Barek («Fack ju Göhte») zeigt, dass er auch anders kann und lieferte als hartnäckiger Rechtsvertreter einen glaubhaften Part ab. Alexandra Maria Lara («Der Untergang») bleibt eher blass als Enkelin eines Grossindustriellen mit schwarzer Weste. Franco Nero («Django») wirkt wie in Stein gemeisselt – als Täter, der das Recht selbst in Hand nimmt, insofern verwandt mit den Revolverhelden aus den Italowestern dazumal.
Marco Kreuzpaintners Justizdrama, Thriller und Beziehungsdrama zugleich, ist anspruchsvoll, Es spielt auf drei Zeitebenen – 1944, 1981/86 und 2001 –, setzt eine gewisse Geschichtskenntnis voraus. Er dramatisiert vor allem das Kernthema, das Verhältnis von Recht und Gerechtigkeit. Ein Justizskandal der Bundesrepublik Deutschland, der kaum noch in Erinnerung ist, wird hier aufgerollt. Ein dramatischer Film, aufwühlend, bewegend und spannend, über ungesühnte Schuld und Vernetzungen, Bedürfnis nach Gerechtigkeit und unauslöschbare Vergangenheit.
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Avengers: Endgame
rbr. Superhelden im Dutzend. Comicverfilmungen haben Hochkonjunktur – von «Aquaman» über «Captain Marvel» (eine Frau notabene) bis zu «Hellboy – Call of Darkness», dem gehörnten, höllischen Haudegen, verkörpert von David Harbour. Zurzeit sprengen die Superhelden der Marke Marvel alle Kinokassen. Das kommen selbst die Fantasygeburten Batman, Superman, Wonder Woman oder eben Aquaman aus dem Comic-Haus DC nicht mehr mit. Rund zwei Dutzend Marvel-Figuren powern nun in drei Stunden über die Leinwand und locken Kinofans massenhaft in die Säle. Am ersten Startwochenende (24. bis 28.April) spielte «Avengers: Endgame» rund 1,2 Milliarden Dollar weltweit (inklusive China) ein (in der Schweiz: 4,1 Millionen Franken oder 230 000 Zuschauer). Das ist gut doppelt soviel, wie der Film inklusive Marketingaufwand gekostet hat. Disney hatte die Marvel Comics vor zehn Jahren gekauft. Der Disney-Konzern wächst und wächst, hat gemäss «Handelsblatt» (20. März 2019) die Filmstudios Fox, diverse Fox-TV-Sender, den Streaming-Dienst Hulu und mehr geschluckt – bei Übernahmekosten über 71 Milliarden US-Dollar.
Das finale Spektakel «Avengers: Endgame», über 181 Minuten lang, versammelt fast die gesamte Schöpfung aus dem Marvel-Universum – von Anführer Tony Stark/Iron Man (Robert Downey Jr.), Steve Rogers/Captain America (Chris Evans), dem Ameisenmann Scott Lang/Ant-Man (Paul Rudd), vom nordischen Hammerhelden Thor (Chris Hemsworth) und Riesen Bruce Banner/Hulk (Mark Ruffalo) bis zum Pfeil-und-Bogen-Krieger Clint Barton/Hawkeye (Jeremy Renner) bis zur agilen Natasha, zu Thors Adoptivbruder Loki (Tom Hiddlestone) oder Natasha Romanoff/Black Widow (Scarlett Johansson), Spider-Man (Tom Holland) und der Ältesten (Tilda Swinton). Natürlich darf auch der mutierte pfiffige Waschbär Rocket (Stimme Bradley Cooper) nicht fehlen.
Es dauert rund eine Stunde, bis all die Helden nach der Niederlage gegen Thanos in ihren zivilen Schlupflöcher ausfindig gemacht und zur Stosstruppe vereinigt warden, um einen neuen Angriff gegen den Despoten Thanos (Josh Brolin) zu starten. Dass der extrovagante Doctor Strange (Benedict Cumberbatch) erst im letzten Kriegsmoment dazustösst, versteht sich.
Kurz zusammengefasst: Despot Thanos strebt bekanntlich die totale Weltherrschaft an und möchte den Menschen den Garaus machen. Die Avengers-Helden sind dezimiert, verletzt oder sonstwie kalt gestellt. Es braucht seine Zeit, bis Tony, Steve & Co sich finden. Eine Lösung scheint der Quantenraum, der Zeitreisen ermöglicht. Es gilt, die Infinity-Steine in die Hand zu bekommen, um Thanos zu stoppen und die Vergangenheit zu korrigieren. Am Ende müssen die Steine in die Vergangenheit zurückgebracht werden, damit Parallelwelten verhindert werden. Alles klar?
Auf Sinn und Verstand kommt bei dieser Marvel-Orgie auch nicht an. Bemerkenswert immerhin, dass sich die Regisseure Joe und Anthony Russo immer wieder Zeit für Gefühligkeiten, empathische Momente und Tête-à-Tête nehmen. Das schafft Verschnaufpausen, und Amüsement bei gewissen Anspielungen und spitzbübischen Intermezzi. Gesamthaft geboten werden bombastische Action, Aufmärsche, Schlachtgetümmel und Prügeleien mit Fäusten, Hammer und anderen Fantasymitteln, zwischenmenschliche Nettigkeiten und ein pralles Heldenaufgebot plus bösen Widersachern und Dämonen aus dem Thanos-Dunstkreis.
Allemal gigantische Unterhaltung für eingefleischte Comicliebhaber mit Sitzleder. Ob das nun tatsächlich das Ende aller Enden, das konzertierte Avengers-Finale ist? Wer weiss, der Marvel-Horizont scheint unendlich…
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Nuestro Tiempo
rbr. Ehekrise in der Pampas. Mexiko einmal anders, keine Mariachi-Folklore, keine Indio-Assoziationen, keine Inka-Monumente. Eine Ranch im Irgendwo (im Bundesstaat Tlaxcala), in der unendlichen Pampas, eine mexikanische Prärie sozusagen. Das Ehepaar Ester (Natalia López) und Juan (Carlos Reygadas, der Regisseur) leben frei und ungebunden, gönnen sich fremde Liebschaften, führen eine offene Beziehung. Er, ein preisgekrönter Lyriker, züchtet Kampfstiere, sie gefällt sich als freier Vogel, fühlt sich als heimlicher Boss der Ranch. Das geht eine Weile gut, bis ein Gringo, der Pferdeflüsterer Phil (Phil Burgers), auftaucht, skeptisch beobachtet von Juan, der zum Voyeur und Zeuge der Liebschaft seiner Frau mit Phil wird. Er scheint es zu geniessen, ist aber letztlich gekränkt, weil sie ihm diese sexuelle Eskapade verheimlicht hat. Etwas krass liefert Regisseur Carlos Reygadas dazu eine brutale Szene quasi als symbolischen Akt: Ein Kampfstier spiesst ein Maultier auf und weidet es quasi mit den Hörnern aus. Wird der gehörnte Juan zum Stier?
Das raue Epos, annähernd drei Stunden lang und überwiegend mit Laien (Cowboys, Arbeitern, Hausgehilfin) besetzt, wie bei Reygadas üblich, erinnert an Western wie «The Misfits» («Nicht gesellschaftsfähig» von John Huston) oder teilweise an «Hud – Der Wildeste unter Tausend» von Martin Ritt. Die Landschaft dominiert (Kamera: Adrian Durazo, Diego Garcia), und Natalia López als Pferdekennerin und triebhafte Rancherin Ester, sie ist auch im «normalen Leben» die Frau des Regkisseurs. Man muss schon ein Faible für Carlos Reygadas und seinen langen Erzählatem haben, der übrigens autobiografische Querverbindungen bezüglich seiner Ehe verneint, um sich auf «Nuestro tiempo», einzulassen und einer zähen Ehekrise zuzuschauen – im Umfeld von Stieren, Pampas und Amouren.
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En Guerre
rbr. Verraten, verkauft, verloren. Ein Wort von Bert Brecht könnte als Leitsatz über dem sozialen Drama «En Guerre» stehen: «Wer kämpft, kann verlieren. Wer nicht kämpft, hat schon verloren.» Laurent Amédéo (Vincent Lindon) ist ein Kämpfer, ein alter Gewerkschaftshase, der auf die Barrikaden steigt, als der Betrieb der Perrin-Industrie mit 1100 Angestelltengeschlossen werden soll. Ein Fall, wie er allzu oft publik wird: Die Firma X wird vom Konzern Y übernommen. Es soll keine Entlassungen geben, nachdem die Arbeiterschaft erhebliche Zugeständnisse (zusätzliche Arbeitsstunden, Streichung von Boni) gemacht hatte. Das Autozubehörwerk in Aden, Südfrankreich, soll fünf Jahre weiterproduzieren. Doch es kommt wie so oft anders, Das Management verkündet die Schliessung. Eine Katastrophe für die Region, ist die Produktionsstätte doch der wichtigste Arbeitgeber. Laurent Amédéo organisiert zusammen mit seiner Kollegin Mélanie (Mélanie Rover) den Streik. Das lokale wie internationale Management stellt sich stur. Streik und Blockierung des Werks ziehen sich hin, zermürben die Leute. Einige lassen sich von Abfindungen weichklopfen und fallen den Streikenden in den Rücken. Amédéo und seine Mitkämpfern können kleine Zugeständnisse verbuchen. Auch aufgrund des Mediendrucks willigt der Konzern-CEO in ein Gespräch ein. Im Anschluss daran eskaliert der Arbeitskampf.
Ein Kinofilm wie eine Reportage von der Streikfront. Man wähnt sich mittendrin, in der Fabrik und vor den Werkstoren, bei den Diskussionen der Gewerkschaftler. Man spürt die Verzweiflung der Arbeiter und die Arroganz der Manager. Wenn man den Schauspieler Vincent Lindon nicht kennen würde, könnte man auf einen echten Streikführer schliessen. Er war schon Hauptdarsteller in Stéphane Brizés Spielfilm «La loi du marché» und erhielt dafür in Cannes 2015 den Darstellerpreis. Dazumal spielte er einen Maschinisten, der mit 50 arbeitslos wird, gegen eine unsinnige Bürokratie kämpft und sein Rückgrat zu verlieren droht. Das passiert dem kompromisslosen Kämpfer Amédéo nicht, er bleibt hart, will die Schliessung mit allen Mitteln verhindern. Die Streikfront bröckelt, und Amédéo wird er von Kollegen zum Sündenbock gestempelt.
Hart und unerbittlich beschreibt Stéphane Brizé die Arbeitskämpfe, die Macht der Manager und die Ohnmacht der Angestellten, die «Anteilnahme» der Medien. Er schildert packend die Verzweiflung und Demütigung der Betroffenen, bis die Ohnmacht in Wut und Gewalt umschlägt. «En Guerre» ist ein Sozialdrama mit dokumentarischem Touch und konzentriert sich auf die Arbeitskämpfe, auf die Spannungen zwischen den Betroffenen und Managern: Arbeiter in der Zerreissprobe. Das Private bleibt weitgehend draussen. Das Ende ist brutal und setzt einen tragischen Schlusspunkt.
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to be continued

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Photo/Film