FRONTPAGE

«Traumtänzer»

Von Edith Wharton

Eine Villa am Comer See, ein Palazzo in Venedig, Salons in London und Paris sind die Schauplätze, an denen sich die High Society ein Stelldichein gibt.
Die einzigen Aussenseiter in dieser Gesellschaft sind Susy und Nick Lansing. Frisch verheiratet und ohne einen Cent schmarotzen sie sich fröhlich von einer Sommerfrische zur nächsten, bis ihre wunderbare Welt ins Wanken gerät und es zu zahlreichen Verirrungen und Verwirrungen kommt. Doch am Schluss siegt ihre Liebe und wahre Bestimmung füreinander über alle Begehrlichkeiten nach einem leichtfertigen Glück.

 

Erster Teil

 

1. Kapitel

Er ging für sie beide auf, ihr Honigmond, über einem See, der als malerischer Hintergrund romantischer Anwandlungen solche Berühmtheit genoß, daß sie einigermaßen stolz auf ihren Mut waren, ihn trotzdem zum Schauplatz ihrer Romanze gewählt zu haben.

 

 

«Man muß schon völlig humorlos sein – oder geradezu übermütig, um sich auf so ein Wagnis einzulassen», meinte Susy Lansing, als sie beide, lässig auf die unvermeidliche Marmorbalustrade gelehnt, den Sternenhimmel beobachteten, der sie beschützte und jetzt seinen Zauberteppich über das Wasser zu ihren Füßen breitete.

 

 

»Ja – oder man hat das Angebot von Strefford, in seiner Villa zu wohnen«, ergänzte ihr Mann und spähte durch die Zweige zu einem langgezogenen fahlen Fleck, dem der Mondschein allmählich die Umrisse einer weißen Hausfront verlieh.

 

«Ach, komm schon – wir konnten schließlich unter fünf Angeboten wählen. Zumindest wenn man die Wohnung in Chicago dazurechnet.»

«Du hast recht, mein Liebling.» Er legte seine Hand auf ihre, und diese Berührung weckte von neuem das Gefühl verwunderten Frohlockens, das jedesmal in ihr aufstieg, wenn sie sich das Abenteuer bewusst machte, auf das sie sich eingelassen hatten. Auf die ihr eigene Art fügte sie mit einem verhaltenen Lachen hinzu: «Oder laß die Wohnung weg – wir wollen ja nicht prahlen –, und denk nur an die anderen Einladungen: das Haus von Violet Melrose in Versailles, die Villa deiner Tante in Monte Carlo – und ein Hochmoor!»

 

Absichtlich erwähnte sie das Moor nur beiläufig, doch mit genügend Nachdruck, damit er ihr ja nicht vorwerfen könnte, es zu unterschlagen. Allerdings schien er nicht die Absicht zu haben. Er bemerkte lediglich »Armer Fred«, und sie begnügte sich mit einem unbekümmerten «Nun ja …» Seine Hand ruhte weiter auf ihrer. Lange standen sie schweigend, von der Schönheit der Nacht sanft umhüllt. Sie fühlte nur noch den warmen Strom von seiner Hand zu ihrer Hand, während der Mondschein über ihnen ein zauberisches Band von einem Ufer zum anderen zog.

Endlich sagte Nick Lansing: «Versailles im Mai, das wäre unmöglich gewesen. Innerhalb von vierundzwanzig Stunden hätte uns die gesamte Pariser Clique die Tür eingerannt. Und Monte Carlo kam nicht in Frage, weil alle dachten, daß wir genau dorthin fahren würden. Es war also – mal ganz im Ernst – keine allzu große geistige Leistung, sich für Como zu entscheiden.»

 

Sofort wehrte sich seine Frau gegen dieses  Herunterspielen ihrer Fähigkeiten. «Immerhin bedurfte es ziemlicher Überredungskunst, bis du eingesehen hast, daß wir den Spott über Como ertragen können.»

 

 

«Nun ja, mir wäre etwas nicht so Erlesenes lieber gewesen, zumindest habe ich das gedacht, bis wir hier angekommen sind. Jetzt ist mir klar, dieser Ort ist eine idiotische Wahl, es sei denn, man ist vollkommen glücklich. Und dann ist er – so gut wie jeder andere.»

 

 

Sie nickte unbeschwert. «Außerdem hat Streffy sich wirklich alle Mühe gegeben. Schon allein die Zigarren – von wem er die wohl hat, was meinst du?»

 

 

Nachdenklich fügte sie hinzu: «Sie werden dir fehlen, wenn wir hier wegmüssen.»

 

 

«Oh, ich bitte dich, laß uns heute abend nicht von Abreise sprechen. Was interessieren uns Raum und Zeit? – Riechst du das Zeug da drüben, davon würde die Flasche eine Guinee kosten. Was ist das? Kamelien?»

 

 

«Mhm … Glaube schon. Oder Gardenien … Oh, die Glühwürmchen! Schau … Da, wo der Mond sich im Wasser spiegelt. Äpfel aus Silber in einem Netz aus Gold…» Sie lehnten sich so eng wie möglich aneinander und blickten gebannt auf das Glitzern der gekräuselten Wellen.

 

 

«In einem solchen Augenblick könnte ich sogar eine Nachtigall ertragen», sagte Lansing.

 

 

Ein leises Glucksen kam aus den Magnolien hinter ihnen, dem ein langgezogenes Wispern aus dem Lorbeergestrüpp über ihren Köpfen antwortete.

 

 

«Schon ein bißchen spät im Jahr für sie. Sie hören auf, und wir fangen gerade erst an.» Susy lachte. «Ich hoffe nur, wir sagen einander genauso liebevoll auf Wiedersehen, wenn es soweit ist.» Fast hätte ihr Mann geantwortet: «Sie verabschieden sich nicht voneinander, sie machen sich nur daran, für Nachwuchs zu sorgen.» Da in seiner Zukunftsplanung derlei jedoch nicht vorgesehen war – und in der von Susy ebensowenig –‚ lachte auch er und drückte sie fester an sich.

 

 

Die Frühlingsnacht zog sie immer tiefer in ihren Bann. Allmählich war das Wellengekräusel sanfter geworden und in seidige Glätte übergegangen, und hoch über den Bergen wechselte die Farbe des Mondes an dem mit verblassenden Sternen gesprenkelten Himmel von Gold zu Weiß. Jenseits des Sees verloschen die Lichter einer kleinen Stadt, eins nach dem anderen, und das ferne Ufer verlor sich in zerfließender Schwärze. Mit der leichten Brise, die anundabschwoll, stieg der Duft von Blumen und Gras aus dem Garten auf. Ein großer weißer Nachtfalter wurde über das Wasser getrieben, als wäre er ein Blütenblatt einer Magnolie. Die Nachtigallen waren verstummt, und das Plätschern des Brunnens hinter dem Haus war plötzlich aufdringlich.

 

 

Mit verträumter Stimme sagte Susy: «Ich habe darüber nachgedacht und meine, wir müßten es mindestens noch ein Jahr lang schaffen.»

Ihr Mann nahm ihre Bemerkung ohne jede Überraschung oder Mißbilligung auf. Seine Antwort zeigte, daß er sie nicht nur verstand, sondern insgeheim das gleiche gedacht hatte.

«Du meinst, auch ohne die Perlen deiner Großmutter?» fragte er. «Ja, auch ohne die Perlen.» Er zögerte, dann fuhr er zärtlich flüsternd fort:

«Sag mir nur, wie wir das anstellen sollen.»

«Na schön, setzen wir uns erst einmal hin. Nein, mir sind die Kissen am liebsten.»

Er streckte sich in einem Korbliegestuhl aus, sie kuschelte sich auf ein paar herumliegende Bootskissen und lehnte ihren Kopf an seine Knie. Um sie herum nichts als Frieden und Schönheit und Dauer, und ihr Glück war so vollkommen, daß es fast eine Erleichterung war, sich an den stürmischen Hintergrund aus Rechnungen und geliehenem Geld zu erinnern, vor dem sie es in seiner ganzen Zerbrechlichkeit errichtet hatten. «Leute mit einem Bankguthaben können gar nicht so glücklich sein», meinte Susy grüblerisch.

Leute mit Bankguthaben waren seit jeher ein Schreckgespenst für Susy Branch, und für Susy Lansing sollten sie es weiterhin sein – nur noch gefährlicher. Sie verabscheute sie, verabscheute sie doppelt, als die natürlichen Feinde der Menschheit und als Leute, denen man ständig zu Gefallen sein mußte. Den größten Teil ihres Lebens hatte sie in ihrer Gesellschaft zugebracht, sie wußte fast alles über sie und beurteilte sie mit der verächtlichen Klarsichtigkeit, die eine fast zwanzig Jahre dauernde Abhängigkeit ihr verliehen hatte. Aber jetzt milderte nicht nur die friedfertig stimmende Liebe ihre Feindseligkeit, sondern auch die Tatsache, daß sie von ebendiesen Leuten mehr – und wieviel mehr! – bekommen hatte, als sie und Nick in ihren tollkühnsten Plänen je zu hoffen gewagt hatten.

 

 

«Schließlich verdanken wir ihnen all das hier»,

sagte sie nachdenklich.

 

 

Ihr Mann, ganz in die träumerische Schönheit des Augenblicks versunken, hatte seine Frage nicht wiederholt, aber sie dachte weiter darüber nach. Ein Jahr – ja, sie war sich jetzt sicher, mit ein wenig Geschick müßten sie es ein ganzes Jahr lang schaffen. «Es», das war ihre Ehe, ihr Zusammensein, weit weg von Leuten, die ihnen nicht lagen, in einer Kameradschaft, für die sie beide von Anfang an dankbar waren. Doch zumindest sie hatte sich nicht träumen lassen, wieviel ihr diese Harmonie bedeuten würde.

Bei einer ihrer ersten Begegnungen – einem jener Abendessen, zu dem die Gillows eine bunt zusammengewürfelte Gesellschaft eingeladen hatten, die sie für «literarisch» hielten – war ihr der junge Mann, der zufällig neben ihr saß und von dem es hieß, er habe etwas «geschrieben», als die Art von Luxus erschienen, den eine reiche Erbin Susy Branch sich aus reinem Übermut gegönnt hätte. Der verarmten Susy Branch machte es Spaß, sich auszumalen, was diese erfundene Doppelgängerin mit ihren Millionen machen würde, und das war es auch, was sie an ihren reichen Freunden am meisten störte – daß sie ihre Millionen so ohne jegliche Phantasie verschleuderten.

 

«Mir wäre so ein Ehemann lieber als eine Motorjacht», dachte sie am Ende ihres Gesprächs mit dem jungen Mann, der etwas geschrieben hatte. Ihr war auf der Stelle klar gewesen, daß nichts, was seine Feder je hervorgebracht hatte oder noch hervorbringen würde, ihn in die Lage versetzen könnte, seiner Ehefrau etwas Aufwendigeres als ein Ruderboot zu bieten.

«Seiner Ehefrau! Als ob er je eine haben würde.

Er gehörte ja auch nicht zu den Typen, die wegen einer Jacht heiraten.» Trotz ihrer Vergangenheit hatte Susy sich genügend innere Unabhängigkeit bewahrt, um verborgene Anzeichen davon bei anderen zu entdecken, und auch die Neigung, sie spontan genau jenen Vertretern des anderen Geschlechts zuzuschreiben, die sie zufällig interessierten. Für Leute, die sich mit dem brüsteten, was sie nur hätten hinzunehmen brauchen, empfand sie instinktiv Verachtung.

Sie hatte selbst vor, irgendwann zu heiraten, denn schließlich wollte sie nicht ewig auf reiche Leute angewiesen sein, aber sie würde warten, bis sie jemanden fand, der ein Maximum an Reichtum mit zumindest einem Minimum an Umgänglichkeit verband. Auf Anhieb hatte sie erkannt, daß der Fall des jungen Lansing genau das Gegenteil war. Er war bettelarm, aber so umgänglich, wie man es sich nur vorstellen konnte. Daher beschloß sie, so oft mit ihm zusammenzusein, wie ihr unstetes und verwickeltes Leben es zuließ. Und dies erwies sich, dank einer Reihe geschickter Schachzüge, als guter Handel. In den noch verbleibenden Wintermonaten trafen sie sich häufig. So häufig, daß Mrs. Fred Gillow ihr eines Tages unvermittelt und einigermaßen spitz zu verstehen gab, sie «mache sich lächerlich».

Mit einem langgezogenen «Ach …» sah Susy ihrer Freundin und Gönnerin direkt in die geschminkten Augen.

«Ja», rief Ursula Gillow aus, und in ihren Augen sammelten sich Tränen, «bevor du dich eingemischt hast, hat Nick mich schrecklich gern gemocht … Ich will dir natürlich keine Vorwürfe machen … aber wenn ich bedenke …»

Susy gab keine Antwort. Wie konnte sie auch, wenn siebedachte? Das Kleid, das sie trug, hatte Ursula ihr geschenkt. Ursulas Wagen hatte sie zu dem Fest gebracht, von dem sie jetzt gemeinsam zurückkehrten.

Sie rechnete damit, den kommenden August bei den Gillows in Newport zu verbringen … Die einzige Alternative war, nach Kalifornien zu fahren, mit den Bockheimers, mit denen auch nur zu dinieren sie sich bislang geweigert hatte.

«Was du dir einbildest, ist völliger Unsinn, Ursula, wirklich. Und was mein Einmischen betrifft –», Susy zögerte und sagte dann leise: «Aber wenn es dich glücklich macht, werde ich es so einrichten, daß ich ihn nicht mehr so oft sehe … ».  Sie gab sich zutiefst unterwürfig, als sie Ursulas tränenreichen Kuß erwiderte

… Susy Branch stand zu ihrem Wort. Schon am nächsten Tag setzte sie ihren kleidsamsten Hut auf und suchte Mr. Lansing in seiner Unterkunft auf. Sie war entschlossen, das Versprechen, das sie Ursula gegeben hatte, zu halten, aber wenigstens wollte sie dabei so hübsch wie möglich aussehen.

Sie wußte, wann der junge Mann aller Wahrscheinlichkeit nach anzutreffen war, denn er mühte sich mit langweiligen Einträgen für eine Volksenzyklopädie ab (V bis X) und hatte ihr anvertraut, welche Stunden dieser verhaßten Aufgabe vorbehalten waren. «Wenn es wenigstens ein Roman wäre», dachte sie, als sie die schäbige Treppe hinaufstieg. Doch sofort machte sie sich klar, daß die Art Roman, die zu lesen sie erträglich fand, ihm auch nicht mehr einbringen würde als die Enzyklopädie. Miss Branch stellte gewisse Ansprüche an die Literatur.

 

Der Raum, gleichzeitig Wohn- und Schlafzimmer, in den Mr. Lansing sie einließ, war um einiges sauberer, aber kaum weniger schäbig als die Treppe. Da er, wie Susy wußte, sich für fernöstliche Antiquitäten begeisterte, hatte sie sich einen unmöblierten Raum vorgestellt, den nur eine makellos geformte chinesische Bronze oder irgendeine kostbare asiatische Tonscherbe schmückte. Aber solch versöhnlich stimmende Dinge fehlten, und es war offensichtlich kein Versuch gemacht worden, die Ärmlichkeit des Zimmers zu kaschieren. Lansing begrüßte seine Besucherin mit allen Anzeichen der Freude und mit offenkundiger Gleichgültigkeit gegenüber dem Eindruck, den seine Behausung machen mußte. Er schien sich einzig seines Glücks bewußt zu sein, sie an einem Tag zu sehen, an dem sie sich eigentlich nicht hatten treffen wollen. Seine Freude stimmte Susy einerseits traurig, weil sie ihr Versprechen unbedingt halten wollte, andererseits froh, weil sie ihren hübschesten Hut aufgesetzt hatte, und sie blickte ihn erst einmal schweigend unter der Krempe hervor an, die sie über ein Auge herabgezogen hatte.

 

So aufrichtig die Zuneigung war, die sie  füreinander empfanden, nie hatte Lansing auch nur ein Wort von Liebe verlauten lassen. Allerdings schreckte dies seine Besucherin in keiner Weise ab, sie war gewohnt, klar und deutlich ihre Meinung zu äußern, sofern es keine – gesellschaftlichen oder finanziellen – Gründe gab, sie zu verhehlen. So erklärte sie ihm einen Augenblick später, warum sie gekommen war. Es war unangenehm, natürlich, aber er würde es verstehen. Ursula Gillow war eifersüchtig, also müssten sie in Zukunft darauf verzichten, sich zu treffen. Das schallende Gelächter des jungen Mannes war Musik in ihren Ohren, denn ein wenig hatte sie doch befürchtet, er könnte seine Ergebenheit Ursula gegenüber genauso zu seinen alltäglichen Pflichten zählen wie die Arbeit an der Enzyklopädie.

«Was für ein hirnverbrannter Irrtum! Ich kann mir nicht einmal vorstellen, daß sie wirklich mich damit gemeint hat», protestierte er, doch Susy, deren gesunder Menschenverstand mit der wiedergewonnenen Sicherheit zurückkehrte, schnitt ihm gleich das Wort ab.

«Darauf kannst du dich verlassen, bei solchen Gelegenheiten drückt Ursula sich ziemlich unmissverständlich aus. Und was duglaubst, spielt überhaupt keine Rolle. Wichtig ist einzig und allein, was sie glaubt.»

«Aber nicht doch. Da habe ich wohl auch ein Wörtchen mitzureden, oder?»

 

Bedächtig sah Susy sich im Zimmer um. Nichts, rein gar nichts ließ darauf schließen, daß er je auch nur einen Dollar übrig gehabt – oder ein Geschenk angenommen hätte.

«Nicht wenn es um mich geht», sagte sie schließlich.

«Wie meinst du das? Ich bin frei wie ein Vogel …»

«Ich nicht.»

Er wurde nachdenklich. «Oh, wenn das so ist, natürlich… Nur kommt es mir ein bißchen seltsam vor», fügte er bedrückt hinzu, «daß in diesem Fall der Einspruch von Mrs. Gillow kommt.»

«Und nicht von meinem millionenschweren Bräutigam?

Nun, ich habe keinen, in dieser Hinsicht bin ich genauso frei wie du.»

«Aber dann … ? Dann geht es doch nur darum, dass wir beide weiterhin frei bleiben.»

Besorgt zog Susy die Augenbrauen hoch. Es würde wohl doch schwieriger werden. «Ich habe gesagt, in dieser Hinsicht bin ich frei. Ich werde nicht heiraten – und ich vermute, du auch nicht.»

«Großer Gott, nein», rief er heftig aus.

«Aber das heißt noch lange nicht, daß man vollkommen frei ist …»

Er stand direkt vor ihr und stützte sich mit dem Ellbogen gegen die abscheuliche schwarze Marmoreinfassung des Kamins, in dem kein Feuer brannte. Als sie aufblickte, sah sie, wie sein Gesicht sich verhärtete, und sie errötete.

 

«Um mir das zu sagen, bist du also hergekommen?» fragte er.

«Oh, du willst einfach nicht verstehen – und ich begreife das nicht, weil wir uns doch beide schon so lange mit der gleichen Sorte von Leuten abgeben.»

Unvermittelt stand sie auf und legte ihre Hand auf seinen Arm. «Ich wünschte wirklich, du würdest mir helfen.»

Er stand reglos da und ignorierte ihre Hand. «Dir helfen, mir verständlich zu machen, daß die arme Ursula nur ein Vorwand war, daß es in Wirklichkeit einen anderen gibt, der – aus welchem Grund auch immer – tatsachlich das Recht hat, etwas gegen unsere häufigen Treffen einzuwenden?»

Susy lachte ungeduldig. «Du redest wie der Held in einem Roman – so einem, wie meine Gouvernante sie gerne gelesen hat. Erstens würde ich ein solches Recht, wie du es nennst, nie anerkennen – nie.»

«Welches dann?» fragte er, nicht mehr ganz so verärgert.

«Nun ja – ein Recht, wie du es vermutlich deinem Verleger zugestehst.» Seine Antwort war ein unsicheres Lachen. «Eine Art geschäftliche Verpflichtung, nennen wir es einmal so», fuhr sie fort. «Ursula tut eine Menge für mich. Die Hälfte des Jahres lebe ich auf ihre Kosten. Das Kleid, das ich anhabe, hat sie mir geschenkt. Heute abend wird mich ihr Wagen zu einem Essen bringen. Den Sommer werde ich bei ihr in Newport verbringen … und wenn nicht, bin ich gezwungen, mit den Bockheimers nach Kalifornien zu gehen – also leb wohl.»

 

Plötzlich brach sie in Tränen aus, und ehe er sie zurückhalten konnte, stürzte sie aus dem Zimmer und die drei steilen Treppen hinunter – obwohl, wenn sie es sich recht überlegte, hatte er überhaupt versucht, sie zurückzuhalten? Sie wußte nur noch, daß sie in der klirrenden Kälte eines strahlenden Wintertages lange Zeit an der Ecke der Fifth Avenue gestanden und gewartet hatte, bis sie durch eine Lücke im Strom von Autos, in denen modisch herausgeputzte Damen saßen, die Straße überqueren konnte – und plötzlich dachte: «Eigentlich hätte ich ja Ursula das Versprechen geben – und mich trotzdem weiter mit ihm treffen können …» Stattdessen hatte sie, als Lansing sie am nächsten Tag in einem Brief um eine Unterredung anflehte, eine freundliche, aber entschlossene Absage geschickt – und es kurz danach einrichten können, für vierzehn Tage nach Kanada zum Skifahren und anschließend für sechs Wochen auf ein Hausboot in Florida mitgenommen zu werden.

 

Als sie in ihrer Rückschau an diesem Punkt angelangt war, beschwor die Erinnerung an Florida die Vision von mondbeschienenem Wasser, den Duft von Magnolien und einer lauen Brise herauf, und ihre Lider wurden wie von einem einschläfernden Zauber schwer. Ja, es hatte eine schlimme Zeit gegeben, aber das war vorbei. Und sie war hier, behütet und glückselig, bei Nick. Und es waren seine Knie, an denen ihr Kopf lehnte, und vor ihnen lag ein Jahr … ein ganzes Jahr – «Auch ohne die Perlen», murmelte sie und schloß die Augen.

 

 

 

 

Edith Wharton · Traumtänzer

[The Glimpses of the Moon]

Roman

Aus dem Amerikanischen von Inge Leipold

Edition Ebersbach, Berlin 2011

www.edition-ebersbach.de

422 S., geb., CHF 37.90. EUR 24,80 (D) 25,50 (A)

ISBN 978-3-86915-041-3

 

 

 

Der Roman der amerikanischen Schriftstellerin

Edith Wharton (1862-1938), die mit Die Zeit

der Unschuld, verfilmt von Martin Scorsese,

einen Welterfolg feierte, erschien 1922 unter

dem Originaltitel The Glimpses of the Moon.

 

 

 

Edith Wharton, geboren am 24. Januar 1862 in New York City und gestorben am 11. August 1937 in Saint-Brice-sous-Forêt, Frankreich, stammte aus einer aristokratischen New Yorker Familie und verbrachte ihr Leben in der Gesellschaft von Künstlern und Schriftstellern, darunter Henry James, Aldous Huxley und André Gide. 1885 heiratete sie Edward Robbins Wharton, einen zwölf Jahre älteren Banker aus Boston. Das Paar wohnte in New York, später auf Rhode Island und in Massachusetts. 1913 wurde die kinderlose Ehe geschieden. Seither bereiste Wharton Deutschland und Italien und verlegte ihren Wohnsitz nach Frankreich, nach Paris und Hyères.

1897 erschien ihr erster Roman (The Decoration of Houses). 1905 folgte The House of Mirth (Das Haus der Freunde) und 1920 The Age of Innocence (Zeit der Unschuld), der von Martin Scorsese 1993 verfilmt wurde.

Neben ihren Romanen, in denen sie veraltete Gesellschaftsstrukturen und vor allem die High Society kritisch, wenn auch nicht ohne Humor an den Pranger stellte, schrieb Edith Wharton Erzählungen, Reiseberichte und kulturhistorische Essays.

Ihre Vielseitigkeit und ihr Erzähltalent wurden mehrfach geehrt: 1921 erhielt sie den Pulitzerpreis, 1923 verlieh ihr die Yale University als erster Frau die Ehrendoktor-würde; es folgten die Goldene Medaille des National Instituts of Arts and Letters und die Aufnahme in die American Academy of Arts and Letters. Edith Wharton gehört zu den bedeutendsten Schriftstellerinnen Amerikas.

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