FRONTPAGE

«Hans Blumenberg: Der Philosoph, der nicht gesehen, sondern gelesen werden wollte»

Von Ingrid Isermann

 

Das Werk Hans Blumenbergs steht wie ein Monolith in der philosophischen Landschaft. Als einer der wichtigsten deutschsprachigen Philosophen des 20. Jahrhunderts, erscheinen seine Bücher zunehmend faszinierend, anregend und stilbewusst, doch oftmals als schwierig und umfangreich. Das philosophische Portrait von Jürgen Goldstein erschliesst die Philosophie von Hans Blumenberg in eindrucksvoller Weise und eröffnet ein literarisches Abenteuer.

Der Philosoph Hans Blumenberg schätzte Diskretion. Zu seinen Lebzeiten erlaubte er nur den Abdruck von zwei Fotografien. Zu öffentlichen Vorträgen liess er sich in späteren Jahren nicht mehr bewegen. Die Bücher stehen wie Monolithe in der akademischen Landschaft, und so sehr sie Diskussionen angestossen haben, so wenig haben sie die Auseinandersetzung mit dem jeweiligen Zeitgeist gesucht. Dennoch ist der Umstand frappant, dass es hier um einen Philosophen geht, dessen Bedeutung in dem Masse gewachsen ist, wie sein Rückzug aus der Öffentlichkeit. Nach der Emeritierung zog er sich gänzlich in seine private Gelehrtenhöhle zurück. Dennoch ist Blumenberg in seinem Werk auf sehr hintergründige Weise äusserst präsent: «Durch ihren selbstreflexiven Charakter, durch die nachdrückliche Pflege eines persönlichen literarischen Stils, erhalten seine umfangreichen Veröffentlichungen alle Kennzeichen einer betonten, wenn auch unendlich abstrakten Subjektivität». Das ist eine Steilvorlage für ein philosophisches Portrait, um das Profil und die geistige Physiognomie dieses Denkers hervortreten zu lassen.

 

 

Wollte man in einem Satz sagen müssen, worum es der Philosophie Hans Blumenbergs geht, würde er lauten: Es geht ihr um den Menschen. Auf den ersten Blick mag diese Auskunft wenig Aufschlusswert haben, die Frage nach dem Menschen ist schliesslich so alt wie der Spruch des Orakels von Delphi: Erkenne dich selbst! Blumenbergs Werk steht jedoch in seiner Fülle an Reflexionsfeldern den grossen Philosophien in nichts nach: Phänomenologie, Metaphorologie, Mythologie, Wissenschaftsgeschichte, Philosophie der Technik und Theologiegeschichte undsoweiter.

 

Erst seit der postumen Veröffentlichung der Beschreibung des Menschen ist Blumenbergs kontinuierliche Beschäftigung mit anthropologischen Fragen unübersehbar geworden. Dabei fällt eine Einordnung der Philosophie Blumenbergs in gängige Disziplinen ohnehin schwer, denn sie steht quer zu üblichen Situierungen in philosophischen Schulen und Lehren. Blumenbergs Denken zeichnet sich durch eine Eigenwilligkeit aus, die eine fugenhafte Einfügung in das Design der jeweiligen philosophischen Teildisziplinen ausschliesst, so der Autor.

 

 

Der Mensch als Fluchtpunkt der humanen Neugierde
Den Menschen als Fluchtpunkt der humanen Neugierde an der Welt anzusehen, macht einen Grundzug der Moderne aus. Dem Einzelnen stehe es offen, sich mit dem zu beschäftigen, was ihn anziehe, heisst es auch in Goethes Wahlverwandtschaften, «aber das eigentliche Studium der Menschheit ist der Mensch».
In der expressiven Kraft der Literatur findet Blumenberg, was er in der Philosophie vermisste. Für ein Verstehen von Wirklichkeit, das die «ruinanten Erfahrungen des letzten halben Jahrhunderts» aufzufangen habe, biete die moderne Kunst und Dichtung die adäquatesten Ansätze, sie sei der philosophischen Analyse fast überall weit vorausgeeilt und habe Phänomene und Probleme sichtbar gemacht, an die sich das Denken nur allmählich heranzutasten vermag.

 

 

Frühe Einstimmung: Das Schweigen der Welt
Wann jemand begonnen habe zu philosophieren, führte Hans Blumenberg in einer seiner Vorlesungen aus, könne nicht mit Bestimmtheit gesagt werden. Nur wann er aufgehört habe, Philosophie zu betreiben, lasse sich mit Sicherheit bestimmen: mit seinem Tod. Dieser letzten Eindeutigkeit steht die Unschärfe des Anfangs gegenüber.

Niemand zweifelt aufgrund der Prägnanz der Differenzen an der sinnvollen Unterscheidung von Kindheit, Jugend, Erwachsenenleben und Alter, auch wenn die Übergänge so unmerklich sind wie der Wechsel von Tag und Nacht mit dem Zwischenreich der Dämmerung. Harte Zäsuren und die Herausforderung der biographischen Kontinuität und Identität kommen vor, stellen aber den Grenzfall des Lebens, nicht dessen normalen Fluss dar.
Frühe Lektüren eines Philosophen sind von Bedeutung, wenn sie im späteren Werk ein Echo gefunden haben und somit eine Gedankenspur noch vor die biographische Niederschrift führt, so der Autor. Das sei bei Hans Blumenberg der Fall
Zum Vergleich, Hannah Arendt hatte als Jugendliche Kants Kritik der reinen Vernunft gelesen und war für die Philosophie gewonnen.

 

Für Blumenberg war eine andere Lektüre massgeblich prägend. Bei seiner Lieblingstante las er als Kind auf dem Fussboden liegend und zitternd, nicht vor Kälte, sondern vor Aufregung, das zweibändige Werk des Abenteurers und Polarreisenden Fridtjof Nansen «In Nacht und Eis. Die Norwegische Polarexpedition 1893-1896». Diese «Nansen-Lektüre mit 9 Jahren» habe «lebenslang» auf ihn gewirkt. Welche Bücher und Autoren man in der Kindheit liest, spielen also eine eminente Rolle für die Entwicklung. Nansen, 1861 in der Nähe von Oslo in Norwegen geboren, plante ein  tollkühnes Vorhaben, mit einem eigens selbst konstruierten Schiff in die Arktis aufzubrechen, das sich in Packeis einfrieren lassen konnte, ohne zu zerbrechen, und mit Proviant für fünf! Jahre den Nordpol zu erreichen. Schonungslos hat Nansen in seinem Tagebuch, der Grundlage für sein späteres Werk, die Entbehrungen und Strapazen festgehalten. Am 8. April 1895 erreichte die Expedition mit beladenen Hundeschlitten ihren nördlichsten Punkt. Doch aufgetürmte Eismassen vereitelten jedes weitere Vorankommen. Der Pol schien zum Greifen nah und war unerreichbar. Sie kehrten um. Der Rückweg erwies sich als eigentliche Tortur. Nansens Bericht ist von grosser erzählerischer Kraft und stellt einen Höhepunkt der Expeditionsliteratur dar, die Blumenberg fesselte und beeindruckte.

 

Die kosmische Endlichkeit als Destruktion aller menschlichen Hoffnungen definierte Blumenberg als «die bitterste aller Entdeckungen, die empörende Zumutung der Welt an das Leben», dass «die Welt dieselbe wäre, wenn es uns nie gegeben hätte und alsbald dieselbe sein wird, als ob es uns niemals gegeben hätte». Erst das Prinzip der Entropie habe «alle Illusionen über die Frontseite der Evolution, über die Zukunft der Gattung Mensch und ihrer Werke, ein Ende gesetzt».

 

Jürgen Goldstein, der selbst bei Blumenberg studierte, zeichnet ein philosophisches Portrait, indem er dessen geistige Physiognomie betont und als Kenner den Gedankenlinien des reichhaltigen Werkes folgt, von frühesten akademischen Schriften über die klassischen Bücher bis zu essayistischen Miniaturen der späten Jahre sowie den bereits aus dem Nachlass gehobenen Schriften. Dabei wird nicht nur beleuchtet, was Blumenberg dachte, sondern auch, wie er es tat. So eröffnet seine Denkbiografie nicht nur Eingeweihten des Werks neue Perspektiven, sondern dient auch als Erklärung für jene, die bei einem seiner Bücher ins Stocken geraten sind. Auf diese Weise wird dem Gelehrten, der zeit seines Lebens den Zugriff auf seine Person scheute, Genüge getan: denn Blumenberg wollte nicht durchschaut, er wollte gelesen werden.

 

 

Jürgen Goldstein, geboren 1962 in Beckum, lehrt als Professor für Philosophie an der Universität Koblenz-Landau. Für sein Buch Georg Forster. Zwischen Freiheit und Naturgewalt erhielt er 2015 den Gleim-Literaturpreis und 2016 den Preis der Leipziger Buchmesse in der Kategorie Sachbuch/Essayistik. Sein Buch Blau. Einer Wunderkammer seiner Bedeutungen war 2017 für den Bayerischen Buchpreis nominiert.

 

Hans Blumenberg, *13. Juli 1920 in Lübeck – 28. März 1996 in Altenberge bei Münster. Er war der älteste Sohn von Josef Carl Blumenberg (1880–1949), dem Inhaber eines Lübecker Kunstverlages, und seiner Ehefrau Else Blumenberg, geb. Schreier (1882–1945). Die Familie des Vaters stammte aus dem Bistum Hildesheim und hatte seit Generationen katholische Priester hervorgebracht. Im katholischen Diasporamilieu Lübecks wirkte der in Sankt Georgen, Frankfurt am Main ausgebildete, NS-kritische Kaplan Johannes Prassek, der zu den Lübecker Märtyrern gehört, als Jugendseelsorger und spiritueller Begleiter prägend auf Blumenberg.
Blumenberg besuchte das Lübecker Katharineum, wo er im Jahr 1939 als Jahrgangsbester die Reifeprüfung ablegte. Im Wintersemester 1939/40 begann er als Priesteramtskandidat des Bistums Osnabrück an der Theologischen Akademie Paderborn sein Theologiestudium, das nach damaliger Studienordnung in den Anfangssemestern sehr hohe Philosophieanteile hatte. Das Sommersemester 1940 verbrachte Blumenberg im Jesuiten-Studium in Frankfurt-Sankt Georgen, wo ihm besonders der skotistisch orientierte Philosoph Caspar Ninkimponierte. Aufgrund des jüdischen Familienhintergrundes seiner Mutter musste er im Herbst 1940 das Studium der Katholischen Theologie abbrechen. Über dieses Studium der Katholischen Theologie hat sein Freund, der Priester und ehemalige Frankfurter Studentenpfarrer Walter Kropp (1919–2019), Auskunft gegeben. Er teilte mit Blumenberg das Zimmer: „Es wurde für mich das auf- und anregendste Semester meines Studiums. Tag und Nacht waren wir im Gespräch. Das heisst: Meist redete er, und ich hörte zu. Der Viel-Wissende, Durchblickende und Weiter-Denkende beeindruckte mich tief.“
Zurück in Lübeck wurde er zunächst zum Arbeitsdienst eingezogen und arbeitete danach bei der Drägerwerk AG in Lübeck. 1945 wurde er in Zerbst interniert, konnte jedoch auf Initiative Heinrich Drägers freikommen und sich bis Kriegsende bei der Familie von Ursula Heinck (1922–2010) verstecken, die er 1944 geheiratet hatte. Nach 1945 setzte er sein Studium der Philosophie, Germanistik und Klassischen Philologie an der Universität Hamburg fort. 1947 wurde Blumenberg mit seiner Dissertation Beiträge zum Problem der Ursprünglichkeit der mittelalterlich-scholastischen Ontologie, die noch Anfang 1946 den Arbeitstitel „Die ontologische Leistung der mittelalterlichen Scholastik, im Hinblick auf Heideggers Destruktion der traditionellen Ontologie“ trug, an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel promoviert. Hier habilitierte er sich 1950 mit der Studie Die ontologische Distanz. Eine Untersuchung über die Krisis der Phänomenologie Husserls. Sein Lehrer während dieser Zeit war Ludwig Landgrebe.
1958 wurde Blumenberg in Hamburg ausserordentlicher Professor für Philosophie und 1960 an der Justus-Liebig-Universität Giessen nordentlicher Professor für Philosophie. 1965 wechselte er als ordentlicher Professor für Philosophie an die Ruhr-Universität Bochum und im Jahr 1970 an die Westfälische Wilhelms-Universität Münster, wo er 1985 emeritiert wurde.
Blumenberg war Mitglied der Akademie der Wissenschaften und der Literatur zu Mainz (seit 1960), des Senats der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG), Mitglied der Senatskommission für Begriffsgeschichte der DFG unter Vorsitz Hans Georg Gadamers und Mitgründer der 1963 ins Leben gerufenen Forschungsgruppe „Poetik und Hermeneutik“.
Blumenberg starb am 28. März 1996 an einem Herzinfarkt. Er hatte drei Söhne und die Tochter Bettina Blumenberg.

 

 

 

Jürgen Goldstein

Hans Blumenberg
Ein philosophisches Portrait
Matthes & Seitz, Berlin 2020
550 S. € 23.
ISBN: 978-3-75180-308-3

 

 

 

 

«Kasimir Malewitsch: Selbstzeugnisse»

 

Die beiden hier erstmals veröffentlichten autobiografischen Texte des durch sein wegweisendes Bild »Das Schwarze Quadrat« weltberühmten Malers Malewitsch machen überraschend klar, wie ausschlaggebend seine Kindheit in einem ukrainischen Dorf und die von ihm grenzenlos empfundene Freiheit eines Lebens in der Natur für seine Kunst waren.

 

Noch bevor der spätere Avantgardekünstler überhaupt mit dem Wort »Kunst« in Berührung kam, erkannte er in der farbenfrohen Bauerntracht und -kunst eine Tiefe und Dichte von Emotionalität, die er später in der Abstraktion mit der »reinen« malerischen Qualität auszudrücken versuchte.

 

Indem er auch die Ikone frei von ihrer spezifischen Ästhetik, ihrer Religiosität und Geschichte allein nach seiner individuellen Wahrnehmung bewertet, entdeckt er in ihr dieselbe Emotionalität, versteht sie daher überraschend ebenfalls als eine bäuerliche Kunst. Die Symbiose von Folklore und Ikone, deren Spiritualität und höchste Emotionalität, führten zu der seine Kunst prägenden Einsicht, dass Inhalte in der Kunst nur vorübergehend, die Kunst als solche aber zeitlos sei. Auf der Grundlage dieser Texte werden die unterschiedlichen Phasen des künstlerischen Schaffens nun neu zu bewerten sein.

 

 

 

 

Kasimir Malewitsch
Selbstzeugnisse
Matthes & Seitz Berlin 2020
Aus dem Russischen übersetzt,
herausgegeben und mit einem Nachwort
von Walter Koschmal
Reihe: Fröhliche Wissenschaft Bd. 167
134 S., Klappenbroschur
€ 14.
ISBN: 978-3-95757-868-6

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