FRONTPAGE

«Karte und Gebiet»

Von Daniele Muscionico

Terres compromises  ist das Land der absurden Paradoxe. Die Wüste als Königin, der Mensch als ihr vermeintlicher Beherrscher, der sie aufteilt, das Land zerschneidet, besitzt und besetzt. Palästinenser, Israeli, Araber und Juden. Ein Territorium ohne Identität, ein Konflikt ohne benennbares Bild. Worüber wird gestritten – Steine, Sand, Symbole?

Es gibt Gebiet ohne Karten. Es gibt Karten ohne Gebiet. Und dann gibt es das, was ein fotografischer Landvermesser sieht, wenn er durch Israel und Palästina reist und durch Jordanien. Terres compromises nennt er das Land. Seine Grenzen sind offen, und eine Karte gibt es nicht. Dafür die Bilder. Und es gibt Matthieu Gafsous Liebe zur offenen Form, zur Ambiguität des Mediums. Die Fotografie behauptet, alles zu zeigen, alles zu wissen. Dabei weiss sie längst, dass sie nichts weiss, dass sie bestenfalls die Schatten aufzeichnet in Platons Höhle. Denn das Schöne kann aller Schrecken Anfang sein und die Vision vom verheissenen Land sich in das Gegenteil wenden. Promised und compromised wohnen sich gegenüber. Und gelobt sei der Kompromiss, der Nachbarn Einigkeit schenkt.

 

Was wir sehen, ist, was wir kennen. Es ist das nahöstliche Paradox: die Wüste, eine Landschaft von kolossaler Gelassenheit. Konflikte? Was gäbe es hier zu gewinnen? Welche Idee mag stärker sein, als es die Wüste ist und ihre stoische Übereinkunft mit sich selbst? Doch menschliche Bastionen jeder Art, ultramoderne und historische, sprechen eine andere Sprache, zerschneiden das Land und schneiden es ab, sollen es sichern, sich selbst sichern und den Menschen, denen man die Wüste verfügbar macht. Strassen, Sperrzonen, mobile Kontrollpunkte, Mauern, Barrieren, Blockaden, Wohntürme – die Vorposten Israels als Werkzeug von Herrschaft und Kontrolle. Oder als Utensil der Selbstverteidigung gegen den Terrorismus. Der Standpunkt bestimmt die Definition. Und wer die Gebietshoheit besitzt, hat die Macht über die Begriffsbildung.

 

Wir sehen bei Matthieu Gafsou, weil wir’s kennen, weil wir’s selbst sind: von politischen Querelen unbeleckte Touristen im Nationalpark von Masada, auf dem Gebiet der historischen jüdischen Festung am Südwestrand des Toten Meeres. Um der Eroberung durch die Römer im Jahr 73 nach Christus zu entgehen – eine Übermacht von fünfzehntausend Legionären unter Flavius Silva, er liess Belagerungskastelle bauen, Belagerungswälle, eine vier Kilometer lange Mauer –, töteten sich die Bewohner von Masada nach Monaten der Blockade selbst. Diese Tat macht die Festung bis heute zum Symbol des jüdischen Freiheitswillens.

 

Wir sehen, weil wir’s kennen, einen Checkpoint in Jerusalem, Terminal 300  heisst er offiziell, der wichtigste Übergang von Bethlehem im Norden der Stadt. Der tägliche Gang für die Palästinenser, die die Erlaubnis haben, in Jerusalem zu arbeiten: eine kleine Tür in der Mauer, sechs enge Drehkreuze, Körperchecks, Durchleuchten des Gepäcks, mehrfache Passkontrollen. Nördlich von Jerusalem verläuft die israelische Sperranlage, die mit einer bis zu acht Meter hohen Mauer Bethlehem von Jerusalem und kleineren palästinensischen Dörfern wie Walaja und Jaba trennt. Gafsou steigt auf einen der vielen Hügel für seine Bilder. Übersicht, Einsicht, ob er sie so gewinnt? Ostjerusalem und die Mauer (oder Zaun oder Sperranlage, wie wäre das Bollwerk richtig zu benennen?); Wohnanlagen, Wohnkastelle, Wohnkasernen, die in den Wüstenhimmel ragen. In Terres compromises, diesem magischen Land, ist die Wüste die einzige Konstante, selbst flüchtig und fliessend, auf Sand gebaut hier, was ewig sein soll. Im Namen einer Idee.

 

Israels Architektur der Besatzung als Modell eines Raumes, in dem Krieg Dauerzustand ist. In den Siedlungen gilt der Raum nicht mehr als Fläche von Einkerbungen, sondern als hochgradig verschiebbares Feld divergenter Kräfte. Terres compromises ist das Territorium, auf dem militärische Strategien, rechtliches Denken und technische Möglichkeiten den Begriff von Territorium und Souveränität neu denken.

 

Die Siedlungen liegen in Gebieten, die sich seit dem Sechstagekrieg von 1967 unter der militärischen Kontrolle Israels befinden oder befanden. Diese Siedlungen liegen ausserhalb der sogenannten Grünen Linie, die nach dem Waffenstillstandsabkommen von 1949 zwischen Israel, Jordanien, Ägypten und Syrien festgelegt wurde. Die Bastionen Mitzpe Ramon zum Beispiel, eine Kleinstadt in der Negev-Wüste. Teile davon befinden sich nördlich der Grünen Linie in Ostjerusalem. Oder Ramot Alon, ein grosses Siedlungsgebiet im Nordwesten von Jerusalem. Oder Rechovot, das israelische Zentrum des Orangenanbaus und Brennpunkt universitärer agrarwissenschaftlicher Forschungen am Rande des judäischen Hügellandes Schefela. Rechovot wurde am 6. März 1890 in einem nur spärlich von Arabern besiedelten Gebiet von polnischen und russischen Juden gegründet. 1908 siedelten sich Einwanderer aus Jemen an, pflanzten Wein, Obst, Mandel- und Zitrusplantagen.

 

Oder Modi’in, kaum zwanzig Jahre alt, auf halber Wegstrecke zwischen Jerusalem und Tel Aviv, die viertgrösste Stadt Israels inzwischen mit gegen vierzigtausend Einwohnern am Rande zum Westjordanland an der Grünen Linie. Modi’in gilt als die am schnellsten wachsende Siedlung, und tatsächlich blüht sie grandios, Familien, Einwanderer mit durchschnittlich acht Kindern. Um wie viel leichter ist es, Wohnungen zu erstellen, steuerlich begünstigt und subventioniert, denn das zu sichern, was man Frieden nennt. Der Masterplan des Bauministeriums sieht für diese Region die Erstellung von weiteren zwölfhundert Häusern bis zum Jahr 2020 vor. Nach dem Bericht der israelischen Organisation Peace Now befinden sich nahezu 45 Prozent des Landes, auf dem die Siedlung steht, in palästinensischem Privatbesitz.

 

Von dieser Realität zeigt Gafsou nur die Schatten. Ohne Schattenwurf meist und überstrahlt vom überhellen Licht der Wüste, seiner Königin der Landschaften. Im Dreiländereck von Dokumentation, Reportage und Kunst lebt es sich bizarr und anachronistisch, verhehlt der Fotograf weder seine Subjektivität noch sein tiefes Misstrauen sich selbst gegenüber. Denn seine Terres compromises werden auf Landkarten niemals zu finden sein. Es sind Planpunkte im Imaginären, gebaut aus der Energie des Widerspruchs.

Courtesy Kulturmagazin Du, Nr. 822, Dezember 2011/Januar 2012

 

Matthieu Gafsou (1981), in Aubonne (F) geboren, lebt in Lausanne. Seit 2006 diverse Einzel- und Gruppenausstellungen u. a. im Musée de l’Elysée, Lausanne, und in der CoalMine Fotogalerie, Winterthur. Seine Arbeit «Surfaces» wurde mit dem Prix HSBC ausgezeichnet («Surfaces», Actes Sud, 2009). www.Gafsou.ch

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