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«Jonathan Lee: Der grosse Fehler»

Von Ingrid Schindler

Andrew Green ist tot. Erschossen am helllichten Tag. Spekulationen greifen wild um sich, verdankt New York dem Aussenseiter doch u.a. den Central Park und die New York Public Library. Jonathan Lee erzählt im Roman «Der grosse Fehler» die Geschichte des 1903 ermordeten Stadtplaners, den heute keiner kennt.

Jonathan Lee erzählt in «Der grosse Fehler» das Leben eines ganz Grossen, dessen Namen vollkommen in Vergessenheit geraten ist. Der Roman beginnt mit dem gewaltsamen Ende des Andrew Haswell Green am Freitag, den 13. November 1903, vor dessen Haustür in der Parkavenue in New York. Es tritt auf: ein Kommissar und alles, was zu einem Krimi gehört. Aber es folgt kein Who-done-it, sondern die gewundene Lebensgeschichte des Ermordeten, der 1820 im ländlichen Massachusetts auf die Welt kommt und zwischen Büchern und Äckern seine Seele spazieren lässt.

Dazwischen streut der Autor Porträts des Kommissars, der Haushälterin des Ermordeten, des Mörders und anderer Personen, die nicht wirklich zueinander in Beziehung und Aktion treten und auffallend blass bleiben. Bis über die Mitte des Romans hinaus bleibt AH Green ebenfalls eine belanglose, unauffällige Figur.

Ein junger Mann aus einfachsten Verhältnissen, der sich zu Männern hingezogen fühlt. Von seiner grossen Liebe, Samuel Tilden, einem gebildeten, attraktiven, eloquenten Gentleman aus gehobenen Kreisen, der es bis zum amerikanischen Präsidentschafts-kandidaten bringen wird, wird er enttäuscht und fallen gelassen. Der Held lernt sich durchs Leben zu schlagen.

Man denkt, wann kommt er denn endlich, Wann kommt er denn, der Clou, der Schlüssel, der einen die Geschichte verstehen lässt? Man wartet lange auf den Wendepunkt, der aus dem unbedeutenden, bescheidenen, jungen Mann den Vater von Greater New York und des öffentlichen Schulsystems, den Gründer des Central Parks, der New York Public Library, des Bronx Zoos, American Museums of Natural History , des MOMA (Metropolitan Museum of Art), der American Scenic and Historic Preservation Society oder des ersten State Park New Yorks bei den Niagara Falls macht. Der Weg führt ihn zunächst nach Trinidad.

 

Verlust und Wiedergeburt
Bevor AH Green seine Stelle auf einer Zuckerrohrplantage antritt, lässt er sich taufen; vom Untertauchen ins kalte Wasser kann er nicht genug bekommen. Während der Überfahrt nach Trinidad stirbt er schier an Seekrankheit. Auf der Karibikinsel verliert er sich und alles, was ihn bis dahin ausmacht. «Er verliert das Vertrauen in die eigene Fantasie», verliert «sein Gespür für die Zeit», «den Glauben an das Kollektiv», «die weichere Seite seiner Jugendlichkeit», «seinen Traum» und vieles andere mehr, kurz «sein altes Ich» in allen Facetten, sodass Verlust und Wiedergeburt zur Floskel zu verkommen scheinen. Eine manierierte Sprache, die dick aufträgt und bis zur Unerträglichkeit übertreibt und unterstreicht. Das ist er, der Wendepunkt.
Zurück in New York nimmt Andrew Haswell Green seine sagenhafte Karriere in Angriff und wieder den Kontakt zu Samuel Tilden, seinem Mentor und Freund, auf. Er wird Rechtsanwalt und macht in den verbleibenden zwei Fünfteln des Romans eine Karriere, die die sämtlicher Tellerwäsche-Millionäre in den Schatten stellt.

 

The great mistake
Das Spiel mit grossen und kleinen, fatalen wie dummen Fehlern und Fehlleistungen unterschiedlichster Art zieht sich als Leitmotiv durch den Roman. Worauf sich der Titel konkret bezieht, erschliesst sich nur bei Kenntnis von Greens Biografie. Als «The Great Mistake» bezeichneten Greens Gegner dessen folgenreichste Leistung: die Vereinigung von New York City mit Queens County, Brooklyn und Staten Island zu einer einzigen Megacity. Der als historische Grosstat gefeierte Zusammenschluss der New York Metropolitan Area vom 1. Januar 1898 wurde von seinen Kritikern als der grosse Fehler schlechthin diffamiert.

Der Brite Jonathan Lee bedient sich dieses historischen Statements als Titel seines New-York-Romans, den er im New Yorker Stadtteil Brooklyn geschrieben hat.
Wer sich einen spannenden Roman über einen überaus weitsichtigen Vordenker und erfolgreichen Stadtplaner verspricht, wird ebenso enttäuscht, wie der, der einen packenden Thriller erwartet. Lee versucht die Anfänge dieses in Vergessenheit geratenen Genies zu ergründen. Die Gefühlswelt des Protagonisten ist es, was den Autor interessiert.

Greens Kindheit in Massachusetts, Ankunft als 15-Jähriger in der brutalen Realität in New York, ersten homoerotischen Erlebnissen und allmählicher Reifung widmet er weit mehr Raum als seinem Wirken als der visionären Persönlichkeit, die New York bis heute prägt. Es sind nicht die grossen stadtplanerische Würfe, die Lee ins Zentrum seines Romans stellt, sondern die intimen Leiden eines jungen, homosexuellen Grünschnabels. Der fiktive Andrew Haswell Green wird so feinfühlig in der historischen Spur des echten Green nachgezeichnet, dass man es für bare Münze halten könnte.

 

Die Parkbank – Mord aus Verwechslung?
Für den Guardian ist der Roman eine Lovestory in «Stahl, Stein und Schweigen» – die Liebe zwischen Green und Tilden bleibt eine unerfüllte, platonische. Sie drückt sich in Werken aus, die von unschätzbarem Wert für die Menschen der Stadt, die niemals schläft, sind.

«Der grosse Fehler» sei ein ganz grosser Wurf, der beste Roman des Jahres, findet der Guardian. Das ist nicht ohne Weiteres nachvollziehbar. Der biografische Erzählstrang wird immer wieder durch die Versuche Inspektor McClusky’s, den Mord aufzuklären, unterbrochen.

Die Handlung springt zwischen Zeiten und Personen hin und her. Der Stil ist ebenso verschachtelt wie die Kapitel. Deren Überschriften beziehen sich auf die Namen der Tore zum Central Park. Das New York um 1900 wird dabei sehr lebendig und Greens Leistung erscheint in einem historisch relativierten und darum in umso grösserem Licht. Der eigentliche grosse Fehler ist das fehlende Andenken an diesen grossen Mann New Yorks, den kein New Yorker mehr kennt. Eine alte, mit Taubenkot beschmutzte Steinbank im Central Park ist das einzige Denkmal, das an den Schöpfer des Parks erinnert. Diese Bank, sagt Lee, weckte sein Interesse an diesem Stoff.

 
Jonathan Lee

Der grosse Fehler
Aus dem Englischen von Werner Löcher-Lawrence
Diogenes, Zürich 2022
Hardcover Leinen, 368 S., CHF 28. € (D/A) 21.99.
978-3-257-61271-4

 

 

 

Es knallt! Die «Ladies» zielen mitten ins Highsmith-Country

 

Die Sammlung der frühen, teils erstmals auf Deutsch veröffentlichten Short-Stories der Königin des Suspense zeigen alle Abgründe und Muster, die ihre grossen Romane prägen.

 

Der Titel «Ladies» klingt gefällig, der Inhalt ist es nicht. Es sind keine Feinen-Damen-Stories, die Mary Patricia schon während ihrer Schulzeit zu schreiben begann. Es sind in Klöstern eingesperrte Waisenkinder, die nach Freiheit lechzen, arme Krüppel, die vermeintlichen Schätzen hinterherjagen, blutjunge, psychopathische Kindermädchen, die Katastrophen herbeiführen, kleine Jungs, die sich ineinander verlieben und auseinandergerissen werden, oder gespaltene Persönlichkeiten, die Psychiater an der Nase herumführen. Zeitgenossen, die man sich nicht ins eigene Leben hineinwünscht. Einsame, aus der Art geschlagene Menschen, die keine Brücke vom Ich zum Wir, vom Wahn zur Wirklichkeit finden.
Die «Ladies» liefern Psychogramme, die in der verqueren Seelenlandschaft der hochbegabten Jungschriftstellerin beheimatet sind. Sie drehen sich um die immergleiche Frage, wie aus unauffälligen Normalmenschen Mörder werden, und arbeiten sich am Thema der zurückgewiesenen Zuneigung ab. Willkommen in Highsmith-Country! Hier ist auf nichts Verlass ausser der Unzuverlässigkeit. Mutterliebe? Fehlanzeige. Anständigkeit? Fassade. Das Gute im Menschen? Falsch! Das Böse steckt als konstitutiver Anteil in uns allen.
Bereits als achtjähriges Mädchen beschäftigt sich Patricia Highsmith mit den Abgründen der Seele und vertieft sich in das Werk des Psychologen Karl Augustus Menningers «Die Seele des Menschen». Menningers Einfluss auf Pat ist gross. Ein Leben lang wird sie mit ihm das Interesse an zwielichtigen Persönlichkeiten teilen. Die Erforschung der Antriebskräfte, die einen Feuerwehrmann zum Brandstifter machen, zieht sich leitmotivisch von Anfang bis Ende durch ihr Werk. Greifen wir einige der roten Fäden heraus, die bereits deutlich in den frühen, zwischen 1939 und 1949 entstandenen Shortstories herausgearbeitet sind.

 

 

Mary und das Spiel mit der Identität
Patricia Highsmiths Verhältnis zu ihrer Mutter Mary, die sie als Baby bei der Grossmutter zurückliess, ist von Hassliebe, ständiger Anziehung und Abstossung geprägt. Die Heldin in ihrer Jugendfantasie «Die Legende des Klosters St. Fotheringay», die den Auftakt des Erzählbands bildet, ist eigentlich ein Held: Ein Waisenkind, ein Junge, wird in einem schottischen Frauenkloster als Mädchen aufgenommen und erzogen, da das Kloster alles Männliche ablehnt. «Auf dem Gelände gab es ausser vielleicht gewissen Insekten nichts Männliches.» Mary, wie das Findelkind genannt wird, fühlt sich anders, nicht dazugehörig und sehnt sich danach, die starren Fesseln des Klosters und der aufgezwungenen, weiblichen Identität zu sprengen. Es gelingt ihr/ ihm mit Hilfe von Knallfröschen.
Die Autorin hiess mit vollem Namen Mary Patricia, den Namen ihrer Mutter lehnte sie zeitlebens ab. Adoptierte Figuren, Waisen, Halbwaisen, Kinderhelden sind Highsmiths Alter Ego, beispielhaft in dieser völlig überdrehten, komisch-klamaukartigen, schrillen Geschichte herausgearbeitet. Die 18-Jährige, selbst vaterlos von Frauen aufgezogen, schrieb sie während ihrer Zeit am Barnard College «zur Entspannung», sie fühlt sich zu Frauen hingezogen und ist sich längst ihrer Homosexualität bewusst. Mit einem Knall, Knallfröschen genauer gesagt, wie er komischer und greller kaum sein könnte, befreit sich die fiktive Mary, die bereits mit zehn Jahren ein kühner und unabhängiger Geist, also «das, was man einen Freigeist nennt», ist, aus den Fesseln einer starren, falschen Identität und der omnipräsenten Weiblichkeit des Klosters, die alles Männliche verbannt und negiert.

 

 

Flucht und Verfolgungsjagd
Die Flucht ist ein Grundthema, das sich durch Highsmiths Leben und Werk gleichermassen zieht. In «Der Schatz», der zweiten Kurzgeschichte des Bands, wird sie zur paranoiden Verfolgungsjagd ausgebaut. Die Handlung beschränkt sich auf zwei Figuren: Ein menschenscheuer Krüppel mit steifem Bein – der erste einer Serie menschenscheuer Protagonisten in Highsmith-Country – und ein fein gekleideter, kleiner, «grüner» Mann begegnen sich zufällig am Bahnsteig der Subway und zielen auf dasselbe Objekt der Begierde ab: eine scheinbar herrenlose «khakifarbene Allzwecktasche». Der eine nimmt sie an sich, der andere verfolgt ihn und nimmt sie ihm wieder ab. Im «Quadratzimmer» des Krüppels wird das Geheimnis der Tasche gelüftet: Bonbons in knallbuntem Glanzpapier. Die Autorin ist zu der Zeit bereits seit Monaten als Comictexterin tätig, die grell überzeichnete Comicwelt färbt stilistisch auf die Geschichte ab, nicht nur was die Farbgebung betrifft, sondern auch den Einbau von bildhaften Soundwörtern wie «thock-thock» oder die charakteristische Flächigkeit in der Beschreibung. Alles wirkt gleich schwer, gleich monoton, gleich unbeteiligt und aus gleicher Distanz betrachtet.
Archie, der Eroberer des Schatzes, ist ebenso wie Mary (in ihrer Einzelzelle in Fotheringay) in einer Festung aus Einsamkeit gefangen, wie sie für Highsmith’sche Helden typisch ist. Sein «Quadratzimmer» erinnert an Ripleys wehrhaftes «Belle Ombre», Haines Mietzimmer in «Zwei Fremde im Zug» oder Van Allens Garagenbunker in «Tiefe Wasser».

 

 

Wesen der Nacht
Die Dunkelheit umgibt die verlorenen Figuren im «Schatz» wie eine Hülle. In der Nacht spitzt auch das innere Drama des Kindermädchens Lucille in «Die Heldin» zu, einer Geschichte, an der Pat Highsmith in den 40er Jahren alle Arbeiten mass, so ihre Biografin Joan Schenkar. Es stockt einem beim Lesen der Atem, worauf die Handlung zusteuert – erneut ein abruptes Ende mit Knalleffekt und den tragenden Bausteinen des Highsmith-Universums: der Fluch der Mutter, Wahn, Ausgrenzung, das Gute, das unausweichlich zum Bösen wird. Die Story der 21-jährigen Psychopathin schreibt Highsmith als 20-jährige Collegestudentin, als sie in Greenwich Village in das pralle New Yorker Nachtleben eintaucht.
Wie ihre Psychos fühlt sich die Autorin hingezogen zu Geschöpfen der Nacht: Katzen, Eulen und ganz besonders Schnecken, Wesen, die ihren Schutzbunker auf dem Rücken tragen. «Der Schneckerforscher» schliesst nicht umsonst den Kurzgeschichtenband ab. «Die nächtliche Seite ist weit voraus im Denken und in der Phantasie», zitiert Joan Schenkar die Schriftstellerin («Die talentierte Miss Highsmith», S. 281). Während Pat tagsüber Comics textet, schreibt sie nachts an ihren Geschichten und Romanen. Und zwar deshalb, weil, wie selbst sagt, «bei leichter Müdigkeit die zensierenden und einschränkenden Faktoren des wachen Bewusstseins, Selbstzweifel und Selbstkritik, nicht besonders gut funktionieren».
Eingefleischte Fans fühlen sich in den frühen Kurzgeschichten sofort zuhause; wer Schenkars Highsmith-Biografie im Regal stehen hat, erst recht.

 

 

 

Patricia Highsmith

Ladies. Frühe Stories.
Aus dem Amerikanischen von Melanie Walz,

Dirk van Gunsteren, pociao

Paperback
Diogenes Verlag

320 Seiten, ca. CHF 30.

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