FRONTPAGE

«Kunsthaus Zürich: Niki de Saint Phalle – Nouveau Réalisme, Konzeptkunst und privates Oeuvre»

 

 

Niki de Saint Phalle (1930–2002) wurde weltweit bekannt durch ihre «Nanas», die von einer scheinbar unbekümmerten Fröhlichkeit sprühen. In der Bahnhofhalle Zürich hängt der Engel von Niki de Saint Phalle und behütet alle Reisenden. Die Retrospektive zeigt mit rund 100 Werken ihr Schaffen: frühe Assemblagen, Aktionskunst und Grafik, die Nanas, den Tarotgarten und grosse späte Plastiken.

Niki de Saint Phalles Schaffen ist weit mehr als die Nanas. Ihr Gesamtwerk ist überraschend facettenreich – exzentrisch, emotional, düster und brutal, humorvoll, hintergründig und immer wieder herausfordernd. Das überaus breite Spektrum ihrer Tätigkeit zeigt sich in Malerei und Zeichnung, in den Assemblagen, Aktionen und grossformatigen Skulpturen, aber auch im Theater, im Film und in der Architektur.

 

Sie beschäftigte sich intensiv mit sozialen und politischen Themen und hinterfragte Institutionen und Rollenbilder. Auseinandersetzungen, die ihre Relevanz heute wieder unter Beweis stellen. Niki de Saint Phalle hat mit ihren legendären «Schiessbildern», die in provokativen Aktionen bereits in den 1960er-Jahren entstanden, einen entscheidenden Beitrag zu der gerade heute hochaktuellen Kunstform der Performance geleistet. Verfolgt man ihren künstlerischen Werdegang, so erscheinen vor diesem Hintergrund viele ihrer Werke, vor allem die «Nanas» und die grossen Installationen im öffentlichen Raum, in einem anderen Licht. Die Auswahl der Werke für diese Ausstellung gibt Einblick in das komplexe und hochinteressante Schaffen dieser Ausnahmekünstlerin – und natürlich bietet sie auch ein buntes, vielseitiges Sehvergnügen, das Christoph Becker als seine letzte Ausstellung für das Kunsthaus kuratiert hat.

 

Die Kunst war für Catherine Marie-Agnès Fal de Saint Phalle, Tochter eines Amerikaners und eines französischen Aristokraten, ein Ausweg. Sie war Therapie nach einer schwierigen Kindheit und wurde zum Antrieb und Ventil einer durch und durch kreativen Persönlichkeit, die nach der Übersiedlung von Frankreich in die Vereinigten Staaten «Niki» genannt und mit Harry Mathews verheiratet, 1956 erstmals öffentlich ihre Malereien präsdentierte. Und dies in St. Gallen. Ihr Lebensmittelpunkt wechselte beständig zwischen Frankreich, den USA, Italien und der Schweiz.

 

 

In Paris war sie, nach Schiessaktionen auf Reliefs aus Gips und eingearbeiteten Farbbeuteln, Teil der Gruppe der Nouveaux Réalistes, als einzige Frau. Künstler wie der spanische Baumeister Antoni Gaudi, Jackson Pollock, Robert Rauschenberg, Jean Dubuffet, Yves Klein beeinflussten sie und natürlich auch Jean Tinguely, den sie seit 1956 kannte und mit dem sie viele Projekte realisierte.

 

Die grosse internationale Bekanntheit bekommt die Saint Phalle 1966 am Moderna Museet in Stockholm, als sie ihre erste begehbare Plastik zeigt: «Hon» war sechs Tonnen schwer und ca. 25 Meter lang. Zwischen den Schenkeln der stilisierten liegenden Frau gelangten die Besuchenden in das Innere «der grössten Hure der Welt», wie die Künstlerin sie nannte (die Skulptur wurde später abgebaut und zerstört). Gemeinschaftsarbeiten bleiben auch in den nächsten Jahrzehnten eine von ihr bevorzugte Praxis, so wie das Grossprojekt «Tarotgarten», das ab 1978 in der Toskana entstanden ist. Unmöglich, Werke aus diesem Gesamtkunstwerk für eine Ausstellung herauszulösen. Anhand von Modellen und Fotos wird die Grösse des Projektes und die Ambition seiner Schöpferin veraschaulicht. Zur Finanzierung lässt die Saint Phalle unter anderem Möbel und dekorative Artefakte in grösseren Auflagen produzieren. Erst nach zwei Jahrzehnten ist der «Tarotgarten» realisiert.

 

Um die Jahrtausendwende schenkte sie einige hundert Werke an das Sprengel Museum in Hannover und das Musée d’Art Moderne et d’Art Contemporain in Nizza, die für die Kunsthaus-Ausstellung einige spektakuläre Hauptwerke ausgeliehen haben. Als Niki de Saint Phalle am 21. Mai 2003 stirbt, waren ihre «Nanas» zu einem Markenzeichen geworden.

 

Introvertiert und exhibitionistisch
De Saint Phalle gibt von sich selbst viel, geradezu Intimes preis. Das traumatische Erlebnis der sexuellen Gewalt des eigenen Vaters, die belastete und problematische Bindung an die Mutter und ihr eigenes Rollenbild als Frau sind in ihrem Schaffen präsent. Viele Werke sind direkte Auseinandersetzungen und Abrechnungen mit dem Erlebten und den Personen.

 

Die äusserlich elegante Frau war zudem ein Solitär in einer noch von Männern dominierten Kunstwelt, in der sie einen unverrückbaren, wichtigen Platz einnahm: beim Nouveau Réalisme und der Konzeptkunst in Interaktion mit der Welt ebenso wie in einem sehr privaten Œuvre in unzähligen Briefen und Zeichnungen.
Es oszilliert zwischen grosser, einladender Geste, wie in «Nana Mosaïque Noire» (1999), die mit schillernden Spiegelstücken und leuchtender Keramik verziert ist, und introvertierter Detailverliebtheit, wie in «L’accouchement rose» (1964), einem hauptsächlich aus Drahtgitter und Holz bestehenden Objekt, das eine Gebärende mit beinahe monsterhafte Zügen darstellt. (Courtesy Kunsthaus Zürich)

 

Kunsthaus Zürich, 2. September 2022 – 8. Januar 2023
www.kunsthaus.ch

 

 

«Cherchez la femme: Der weibliche Blick auf Aristide Maillol»

 

I.I. Aristide Maillol (1861–1944) ist nach Auguste Rodin der bedeutendste französische Bildhauer der frühen Moderne. Das Kunsthaus Zürich präsentiert 140 Werke, – von Skulpturen, Reliefs, Gemälden und dekorativen Objekten Maillols, – zu Gemälden von Zeitgenossen wie Gauguin, Denis oder Vuillard, und hinterfragt Maillols Blick auf den weiblichen Körper und den weiblichen Blick auf den Künstler Maillol, der bis zuletzt an einem klassischen Frauenbild festhielt, von dem sich die Arbeiten von Henri Matisse oder Alberto Giacometti fundamental entfernt hatten.

 

Im Begleitkatalog zum umfangreichen Ausstellungskatalog zu Aristide Maillol hat die junge Londoner Kunsthistorikerin Catherine McCormack einen spannenden Essay aus feministischer Sicht zum Thema der Darstellung der weiblichen Figur durch den männlichen Künstler Maillol verfasst.

 

«Ich schau dir in die Augen, Maillol»

So betitelt die Autorin Catherine McCormack ihren Essay. Jahrhundertelang stand der weibliche Akt allgegenwärtig auf den Sockeln der Museen dieser Welt als Zeichen hoher, westlicher Kultur, so vertraut, dass er synonym für die Kunst selbst galt.
 
Ob auf einer Liege drapiert oder aufrecht stehend, wurde der nackte weibliche Körper, oftmals als Venus codiert, jene Göttin aus dem westlichen Mythos, auf die männliche Künstler und ihre meist männlichen Betrachter ihre Vorstellungen über weibliche Sexualität, Fruchtbarkeit und Schönheit projizierten.
Seit den 1970-er Jahren eröffneten feministische Künstlerinnen und Kunsthistorikerinnen neue Sichtweisen auf die Politik des künstlerischen Schaffens, darauf, wer wen anzuschauen hat, wer wessen Abbild formen darf und welche Macht die Diskurse haben, die in diesem Austausch mitspielen, schreibt die Autorin im Begleitheft.
 
Der im letzten Jahrzehnt erstarkte Feminismus und die «MeToo»-Bewegung trugen wesentlich dazu bei, dass der weibliche Akt nie mehr das unkomplizierte Symbol idealer Weiblichkeit ist, das er einmal war. Der nackte Frauenkörper in Malerei und Bildhauerei ist nicht länger eine feste Kategorie, mit der universelle Ideen und Normen sowie konventionelle kunsthistorische Narrative über stilistische Innovation, künstlerische Errungenschaft und ästhetisches Vermächtnis verbreitet werden können.

 

Aristide Maillol: Vom Maler zum Bildhauer
Neben den Skulpturen, darunter sämtliche Hauptwerke des Künstlers, sind auch Gemälde zu sehen. Denn Maillol hatte seine Karriere als Maler begonnen und schuf in dieser Gattung qualitativ hochstehende Werke, die ausserhalb Frankreichs bislang wenig bekannt sind.
 
Ausserdem gezeigt werden dekorative Objekte, von Maillol gestaltete Tapisserien und zauberhafte Zeichnungen. Gemälde von Zeitgenossen wie Paul Gauguin, Maurice Denis oder Édouard Vuillard ergänzen die Ausstellung und machen Maillols Nähe zu diesen Künstlern erfahrbar.
 
Die äusserst interessante und sehenswerte, umfangreiche und schön gestaltete Ausstellung im Chipperfield-Bau ist eine Kooperation des Kunsthauses Zürich mit dem Musée d’Orsay et de l’Orangerie, Paris und La Piscine – Musée d’art et d’industrie André Diligent, Roubaix.
 
Der offizielle Ausstellungskatalog «Aristide Maillol 1861-1944 – Die Suche nach Harmonie» ist im April 2022 im Verlag Gallimard in französischer Sprache erschienen, 352 Seiten, 304 Abbildungen, mit Beiträgen verschiedener Autoren, CHF 68. Die Sammlungspublikation «Maillol – Ein anderer Blick» mit einem Beitrag von Catherine McCormack und einem Fotoessay von Franca Candrian, DE/EN, CHF 21. Beide Publikationen sind im Kunsthaus-Shop, Chipperfield-Bau sowie im Buchhandel erhältlich.
 
Ausstellung 7. Oktober bis 22. Januar 2023
www.kunsthaus.ch

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