FRONTPAGE

«Alberto Giacometti. Sehen im Werk»

Von Christian Klemm

Das Sehen ist die Basis aller bildenden Kunst. Wie kaum ein zweiter rückte der Schweizer Plastiker, Maler und Zeichner Alberto Giacometti (1901- 1966) den Sehvorgang ins Zentrum seiner künstlerischen Suche.
Anhand von rund 90 Skulpturen, Gemälden und Zeichnungen aus allen Schaffensphasen zeigt die Ausstellung, wie es Giacometti gelingt, den psychischen Vorgang des Sehens zu vergegenwärtigen.

Am Beginn steht die genialisch frühreife Selbstverständlichkeit, mit welcher der im Bergell aufgewachsene junge Giacometti das Gesehene in künstlerische Formen umsetzen kann. An der Akademie in Paris, im wachsenden Bewusstwerden der Probleme des Wahrnehmens, verliert er diese Sicherheit. Diese tiefgreifende Schaffenskrise führt 1925 zu abstrahierender Formgebung und zum Surrealismus. Aufgeladen von den zwischen Eros und Tod oszillierenden Interpretationen der surrealistisch psychologisierenden Literaten wird das Sehen in zeichenhaften und metaphorischen Motiven ein zentrales Thema seiner Arbeit. Diese Überlegungen zum Wahrnehmungsprozess wirken über die Rückkehr zum Modellstudium um 1935 weiter und öffnen einen inneren Vorstellungsraum, in dem die phänomenologischen Untersuchungen stattfinden können. Eine erste, langwierige Phase führt zur Formauflösung und immer kleiner werdenden Figürchen; erst in der zweiten findet Giacometti ab 1947 in den ganz schlank aufstrebenden Gestalten eine Möglichkeit, sein inneres Bild des Menschen zu fassen. Nach 1951 intensiviert er die Begegnung mit dem Gegenüber und vermag dessen Präsenz auch in der Körperhaftigkeit und im realen Raum zu steigern.
Mit einer präzisen Auswahl und Zusammenstellung «sprechender Werke» und knapper Texte soll der Besucher erleben können, wie der Künstler durch bestimmte Überlegungen und Verfahren seinen Arbeiten den psychischen Vorgang des Sehens einschreibt.

 

Vom unmittelbaren Sehen zur bewussten Wahrnehmung

Ausgangspunkt sind frühe Zeichnungen und Aquarelle – erstaunliche Zeugen für die Intensität, mit der Alberto schon als Jugendlicher seine Umwelt sah und in unreflektierter Unmittelbarkeit erfasste. Schon jetzt dominieren die Augen und der Blick in den Selbstbildnissen und den Gesichtern der Eltern und Brüder. Im Übergang zum professionellen Künstler werden die Probleme der Wahrnehmung und der künstlerischen Umsetzung bewusst: Fragen der Grössenverhältnisse, der verschiedenen Stilisierungsmöglichkeiten, der Spannungen zwischen Fläche und Tiefe, zwischen Optischem und Haptischem. Das analytische Vorgehen Giacomettis bringt diese Fragestellungen für den Betrachter im Werk nachvollziehbar zur Geltung, vor allem in den Aktstudien der Akademie und in einer Serie von Köpfen nach dem Vater.

 

Von der Abstraktion zum Surrealismus
1925 gerät Giacometti in eine tiefgreifende Schaffenskrise: er wendet sich von dem abbildenden Vorgehen zu dem von Kubismus und Stammeskunst geprägten modernen Stil. Das Sehen aber bleibt, nun als formbestimmendes inhaltliches Motiv, gerade in den wichtigsten Werken zentral. Der emblematische «Tête qui regarde», mit dem Giacometti zur Phalanx der innovativen Avantgarde-Künstler vorstösst, markiert zugleich die Schwelle zum Surrealismus. Hier sind das Auge und der Blick ein psychologisch hoch aufgeladener Bereich; in zeichenhaften Konstruktionen gestaltet Giacometti irritierende Metaphern für die unlösbaren Spannungen zwischen erotischer Aggression und tödlicher Fixierung.

 

Die Suche nach dem phänomenlogischen Realismus.
Die Auseinandersetzung mit den Surrealisten und ihrem Bemühen, das «Surreale», psychologische Vorgänge und innere Visionen ins Sichtbare zu heben, machte Giacometti deutlich, dass das Sehen primär ein mentaler Vorgang ist. So sucht er, nachdem er sich 1934 von diesem Zirkel gelöst und sich wieder der sichtbaren Realität zugewendet hatte, das aus den äusseren Sinnesreizen aufgebaute innere Bild zu erfassen. Im virtuellen Raum des Gemäldes gelang ihm dies erstmals mit dem Bildnis der Mutter von 1937.
Schwieriger ist dies in der Skulptur zu erreichen: im Abbau herkömmlicher Stilisierungen drohen sich die Figuren ins Amorphe aufzulösen. Der Versuch, das plötzliche Erscheinen einer Person in weiter Ferne zu erfassen, führt zu winzigen Figürchen auf übergrossen Sockeln: Skulpturen, die das optische Phänomen der starken Verkleinerung bei zunehmender Distanz thematisieren.
Erst nach dem Krieg führen visionsartig überdeutliche Wirklichkeitserfahrungen zu überlangen Figuren, in denen Giacometti eine äussere Entsprechung für die innere Vorstellung findet. «La cage» und andere Kompositionen, die vor einem grossen Kopf kleine Figuren erscheinen lassen, bringen diese Subjekt-Objekt-Relation modellhaft zur Anschauung.

 

Die lebendige Präsenz des Gegenübers
In den frühen fünfziger Jahren kehrt Giacometti zum Modellstudium zurück; die phantomartigen Erinnerungsbilder weichen körperhaltigeren Büsten und Figuren. Ihnen ist der Dialog des Sehenden mit dem Gesehenen, von Auge und Gegenüber eingeschrieben. Das Schweifen der Linien folgt den rastlosen Bewegungen des Blickes, in dem sich die Formen unentwegt aufbauen und auflösen. Die Gestaltung der Sockel und der Binnenrahmen, die Behandlung der Oberfläche und der Perspektive, bald expressiv, bald phänomenologisch begründete Deformierungen aktivieren den Wahrnehmungsprozess, in dem der Betrachter den Gestaltungsprozess des Künstlers nacherlebt. Und immer führt dieser zum Auge zurück, für Giacometti der Sitz des Lebens, bis uns in den späten Köpfen das Gegenüber in unabweisbarer Lebendigkeit entgegenblickt. Dass sich Lebendigkeit vor allem im Vorgang des Sehens ereignet, dass das Leben aus den Augen strahlt, sich in den pausenlos umkreisenden Bewegungen des Blickes, die der Künstler seinen Werken einschreibt manifestiert, können die Besucher nur selten in dieser Intensität nachvollziehen.

 

Die Ausstellung, in der Werke aus dem Bestand der Alberto Giacometti-Stiftung, aus der Kunsthaus-Sammlung und Leihgaben Dritter temporär versammelt sind, wird nur in Zürich gezeigt.
(bis 22. Mai 2011)

 

Unterstützt durch die Truus und Gerrit van Riemsdijk Stiftung.

Kunsthaus Zürich, Heimplatz 1, CH–8001 Zürich, Tel. +41 (0)44 253 84 84, www.kunsthaus.ch.

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