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«Arno Camenisch: Der Sonnyboy der Schweizer Literatur»

Von Ingrid Isermann

 

Wir stellen Ihnen den Bündner Schriftsteller Arno Camenisch vor, der auf deutsch und rätoromanisch schreibt. Seine Lesungen sind Kult, der Sound seiner Geschichten, nahe am Alltag, aber nicht alltäglich, kommt beim Publikum an. Arno Camenisch, geboren 1978 im Bündner Dorf Tavanasa, lebt in Biel.

Sein letzter Band «Nächster Halt Verlangen» der handlich gestalteten Reihe aus dem Engeler-Verlag, Solothurn, sind Kolumnen, federleichte Geschichten aus Napoli, aus Rom, Hongkong, Lisboa, aus den Bergen, von irgendwo aus der Pampa, oder einfach über das Wetter, kleine Glanzstücke und Fluchtpunkte aus dem Alltag. An einer Lesung im Zürcher Theater Neumarkt schlägt Arno Camenisch zum Schluss der Stories noch einen Haken mit einer unerwarteten Pointe, fährt sich durch den verwuschelten Haarschopf und lächelt mit verschmitztem Charme ins Publikum.

 

Aufgewachsen ist Arno Camenisch in Tavanasa, einem kleinen Bergdorf mit etwa 60 Einwohnern, das zur Gemeinde Breil/Brigels gehört, wo er die Primar- und Sekundarschule besuchte. Nach dem Lehrerseminar in Chur, reiste er durch Europa, Australien und Südamerika. Drei Jahre war er als Deutschlehrer an einer Schweizer Schule in Madrid tätig und studierte später am Schweizerischen Literaturinstitut (HKB) in Biel, wo er heute auch lebt. Camenisch ist Vater einer siebenjährigen Tochter.

 

Camenisch schreibt Prosa, Lyrik und Bühnenstücke. Bekannt wurde er durch sein mehrfach ausgezeichnetes Buch Sez Ner. In Sursilvan und Deutsch beschreibt er das Leben aus der Sicht der Älpler. Zusammen mit den beiden Büchern Hinter dem Bahnhof und Ustrinkata bildet es eine kleine Bündner Trilogie. Genuine Geschichten, geprägt durch die Topografie der Landschaft, die auch die Sprache prägt und Nähe herstellt. 2013 folgte Fred und Franz. 

 

Und bereits ist im Hausverlag Engeler ein neuer Band erschienen: Die Kur, die Lebensbilanz eines älteren Paares, in Monologen und Dialogen über das Leben räsonnierend. Dank eines Wettbewerbs verbringen sie vier Tage in einem noblen Fünf-Sterne-Hotel im schönen Engadin. Während die Frau in diesen paar Tagen und Nächten Sehnsüchte wieder aufleben lässt, fühlt der Mann sich unbehaglich wie auf seinem letzten Gang.

 

An 47 Orte der Engadiner Umgebung begleiten wir die beiden namenlosen Protagonisten in ihren Episoden über die Wegstrecken die Liebe, das Leben und der Tod, existenzielle Fragen, die sich stellen und für jedermann gültig sind, woher wir kommen, was wir werden wollten, wohin wir gehen. Dabei schlägt Camenisch ernste Töne an, untermalt mit dem vertrauten helvetischen Lokalkolorit; eine leise Melancholie begleitet die mitunter skurril-menschlichen Geschichten. Eine Kur ist es eigentlich nicht, was der verdrossene Senior, der lieber den Geschenkkorb mit Esswaren gewonnen und zuhause geblieben wäre, und seine lebensfrohe  Frau, die gerne Neues erleben und mal wieder tanzen gehen möchte, antreten. Doch liegt die Kur vielleicht in der Erkenntnis, was in der Vergangenheit glücklich war, nicht als solches erkannt zu haben. Die Stories lesen sich wie ein Spiegelbild eines kauzig helvetischen Alltags in bildhaften Miniaturen in Slow Motion, manche stereo, andere stereotyp. Man liest sie mit staunendem Amüsement.

 

Arno Camenischs Texte wurden in 20 Sprachen übersetzt. Er hat zahlreiche Auszeichnungen erhalten, u.a. den ZKB Schillerpreis, den Förderpreis zum Friedrich-Hölderlin-Preis der Stadt Homburg und Berner Literaturpreise für Sez Ner und Hinter dem Bahnhof.

 

 

Auszug aus der ersten Episode aus «Die Kur»

Im Ort. – Wie lange müssen wir hier oben bleiben, fragt er und hinkt ihr den Stutz zum Hotel hinauf nach. Er trägt einen dunkelgrünen Anzug und blaue Turnschuhe mit Klettverschluss. Die Hosenbeine sind zu kurz. Vier Nächte, sagt sie, komm jetzt. Mammamia, wir wären besser zu Hause geblieben, sagt er, ich habe Hunger. In der Hand hat er einen Plastiksack. Wenn wir schon gewonnen haben, dann gehen wir auch, sagt sie. Da gewinnst du einmal bei einer Tombola, sagt er, ein Mal im Leben bist du der grosse Sieger, der König, und dann musst du zur Strof vier Nächte auswärts schlafen, und das ausgerechnet an unserem einunddreissigsten Hochzeitstag, also gerecht ist das nicht, er stöhnt, buah, huara steil. Es ist nicht mehr weit, sagt sie und hält ihr rotes Strickjäckli am Hals zusammen. Hätten wir doch nur den zweiten Preis gewonnen, sagt er, hast du gesehen, was für ein Fresskorb das war? So grosse Fresskörbe findest Du nicht mal in Kroatien. Aber nai, genau diesen schönen Fresskorb hat der Hans abgeräumt, dieser Holzkopf, und der sitzt jetzt zu Hause und lacht sich das Herz in die Hose. Und wir müssen stundenweise im Zug sitzen und durch den Nebel fahren wie durch die Ewigkeit, und plötzlich verschrickst du, weil die Berge wie ein riesiges Piratenschiff vor dir aus dem Nebel auftauchen. Aber was wir so lange hier oben im Wald machen sollen, wo es doch von Wölfen wimmelt, weiss nur der Herrgott selber. Ein paar Tage an der frischen Luft werden dir guttun, hat der Doktor gesagt, sagt sie, und am Abend gehen wir jeweils tanzen.

 

 

Arno Camenisch
Die Kur
Engeler Verlag , Solothurn 2015
Geb., 18,5 x 12 cm, 96 S.
CHF 25. € 19.
ISBN 978-3-906050-22-5

 

 

Arno Camenisch
Nächster Halt Verlangen
ISBN 978-3-906050-18-8
Geb., 18,5 x 12 cm, 64 Seiten
CHF 19. € 16

www.engeler-verlag.com

 

 

 

 

 

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