FRONTPAGE

«Bagdad – Erinnerungen an eine Weltstadt»

Von Ingrid Isermann

 

Bagdad – Traum und Wirklichkeit einer orientalischen Metropole, die in Terror und Krieg unterzugehen droht. Als Najem Wali ein Kind war, erschien ihm Bagdad wie ein Traum. Sein Vater brachte ihm von dort Geschenke und Geschichten mit. Sobald er die Schule abgeschlossen hatte, zog Wali zum Studium in die Hauptstadt. Als 1980 der Iran-Irak-Krieg ausbrach, floh er nach Deutschland.

Nun erinnert Najem Wali an eine Welt, die nach Jahrzehnten des Terrors und der Zerstörung gänzlich unterzugehen droht. Er erzählt von seinem Bagdad, wie er es erlebte, einer Stadt der Kaufleute, der Wissenschaftler und Künstler, so international und chic wie London und Paris. Sein Buch verbindet die Geschichte einer Metropole mit persönlichen Erinnerungen und setzt den Bildern der Verwüstung die Bilder einer blühenden Weltstadt entgegen. Ein intimes und sehr privates Buch über die Faszination des Orients mit einem Fundus abenteuerlicher und romantischer Geschichten aus einer verlorenen Welt.

 

Bagdad blickt auf eine lange Geschichte zurück. Einst war die Stadt im heutigen Irak der kulturelle Nabel der Welt. Najem Wali erzählt die Geschichte einer verlorenen Stadt: Bagdad, dessen grosse Blütezeit um 800 lag, als Harun-al-Raschid sie zum kulturellen Nabel der Welt machte. Wali verknüpft die Geschichte Bagdads mit seinen Erinnerungen, führt uns durch Strassen und durch historische Ereignisse, und obwohl man weiss, dass es dieses Bagdad nicht mehr gibt, möchte man seine Koffer packen und dorthin hinreisen.

 

Leseprobe aus «Bagdad – Erinnerungen an eine Weltstadt»

Im Chevrolet nach Bagdad

«Mein Vater war noch jung, als er meiner Erinnerung nach einen weissen Chevrolet, Modell 1951, erwarb. Es war das einzige Modell mit einer Klimaanlage, was in einem Land, in dem die Temperaturen im Sommer schon einmal 50 Grad Celsius übersteigen, nicht unwichtig ist. Mein Vater kaufte das Auto beim amerikanischen Konsulat in Bagdad. Er war von dem Wunsch, Bagdad zu besuchen, so besessen, dass er seine Arbeit als Mechaniker in einer Autmobilwerkstatt aufgab. Er hatte viele Geschichten über Bagdad gehört, und eigentlich wollte er in die Hauptstadt Bagdad umziehen und mit uns dort wohnen. Wer hätte nicht gern in der Hauptstadt gelebt? Basra war von Amara nur 182 Kilometer entfernt, Bagdad immerhin 365 Kilometer. Mein Vater gab sich nicht mit dem Traum vom Umzug nach Bagdad zufrieden. Seit man immer öfter von dortigen Konzerten mit arabischen und irakischen Sängern und Sängerinnen hörte, suchte er nach einem Weg dorthin. Im Frühjahr 1958 (drei Monate vor dem Militärputsch gegen die königliche Familie) kaufte er ein Auto und fuhr damit Sammeltaxi zwischen Amara und Bagdad. Und tatsächlich unternahm ich mit meinem Vater eine erste Fahrt nach Bagdad. Diese Fahrt hat das Bild der Stadt nicht völlig verwischt, die ich zuvor gebaut hatte, sondern im Gegenteil mich angespornt, unermüdlich an meiner Phantasiestadt weiterzubauen, meiner Traumstadt, die realistischer war als das Bagdad, das ich als Kind mit eigenen Augen sah. Die Phantasie ist das Mittel, sich am Leben zu erhalten. Vielleicht ist die Phantasie das Leben».

 

 

Annemarie Schwarzenbach: Zwischen Opium und Bagdad

 

«Im Gegensatz zu anderen Reisenden hat die damals gerade einmal 25jährige schweizerische Autorin und Fotografin Annemarie Schwarzenbach 1933 Bagdad nur als eine Zwischenstation erlebt, ganz anders als Teheran. (…).
Die erste Reise nach Kleinasien und Fars, wie Iran bis 1934 hiess, sollte eigentlich 1932 gemeinsam mit ihren Freunden Klaus und Erika Mann stattfinden, die sie aus Studententagen in Zürich kannte; ausserdem mit dem Maler Ricki Hallgarten. Doch die Reise fand nicht statt, da Hallgarten sich einen Tag vor Aufbruch erschoss. Es musste einige Zeit vergehen, bevor die Freunde das Reiseprojekt wieder aufnahmen. Am 30. Januar 1933 kam Hitler an die Macht. Für die Geschwister Mann gab es nun drängendere Probleme als die Planung einer Orientreise.
Allein Annemarie Schwarzenbach hielt an ihrer Idee fest. (…) Etwa ein halbes Jahr dauerte ihre erste Reise, von Oktober 1933 bis April 1934. Ihr Weg führte sie durch die Türkei, Syrien, Libanon, Palästina und den Irak bis nach Fars. Von dort aus ging es in die aserbeidschanische Hauptstadt Baku und danach zurück nach Europa. (…)
1934 war Annemarie Schwarzenbach von Januar bis März im Irak unterwegs. In ihrer Erzählsammlung «Bei diesem Regen» erscheint Bagdad in fünf von zehn Geschichten (…). Und nicht zu vergessen die Erwähnung der Stadt in «Das glückliche Tal», während sie mit einer französischen Ausgrabungsequipe etwas ausserhalb Teherans im Zelt sitzt. Im wirklichen Leben kehrte Schwarzenbach immer wieder nach Teheran zurück, in ihren Texten aber nach Bagdad». 

 

 

Max Frisch: Wenn die Stadt zur Alternative für die Frauen wird

 

«Bis jetzt waren für ihn die Frauen eine Zufluchtsstätte. Warum sollte er nicht einmal seinen Kompass verändern? Warum sollte er sich nicht einmal Bagdad orientieren? Frisch war 46 Jahre alt und hatte gerade Homo Faber abgeschlossen, als er beschloss, nach Bagdad zu reisen. Am 31. Juli 1957 schrieb er an Peter Suhrkamp, er habe zwei sehr mühselige Wochen hinter sich, um diesen Roman termingerecht abzuliefern, der ihm einen hohen Rang in der Weltliteratur einräumen sollte. (…) Wer den Lebenslauf von Max Frisch verfolgt, den wird diese Frage nicht befremden. Sein ganzes Leben war eine Flucht. Zumindest bis zu diesem Zeitpunkt. Drei Jahre vor dieser Reise hatte er sich von seiner Frau und seinen drei Kindern getrennt. Weder während der Ehe noch in der Zeit danach kam Frisch in einer festen Beziehung zur Ruhe. Es gab flüchtige Beziehungen, doch aus jeder floh er, kaum hatte er sie begonnen, in die nächste. Berühmt ist der Satz, den er mit dreiundzwanzig Jahren an seine Freundin schrie:«Ich glaube an die Kraft der Liebe und an das Fehlen der Treue». (…) Walter oder Homo Faber, also der Held des Romans, flieht vor seiner Freundin Hanna ebenfalls nach Bagdad, und zwar unter dem Vorwand, die schweizerische Maschinen- und Motorenfirma Escher-Wyss habe ihn dorthin geschickt. Natürlich konnte Peter Suhrkamp ihn nicht von seinem Vorhaben abbringen. Aber er stellte zumindest die Frage: Warum Bagdad? Am 23. August begann die Reise. Start war in Bellinzona, wo Frisch den Arzt und dessen Frau, seine beiden Reisegefährten traf, von denen wir wissen, dass sie das Auto fahren sollten, weil Frisch selbst damals keinen Führerschein besass. Wir erfahren, dass sie Tausende von Kilometern auf schlechten Strassen hinter sich brachten, dass sie am Strassenrand schliefen, dass sie verschiedentlich Reifen wechselten oder das Auto reparieren mussten. Sie waren im Orient und näherten sich ihrem Ziel Bagdad. (…) Alles werde anders, so war Max Frisch überzeugt, wenn sie erst einmal in Bagdad wären. Achthundert Kilometer sind es von Amman nach Bagdad. Meistens lodernde Wüste, glühend heisse Luft, und im Auto war es ähnlich heiss wie draussen. Die Strasse zog sich vor ihnen hin und schien zu sagen: Hier seid ihr nun am Tor zum Zweistromland, nach Mesopotamien, dem Land zwischen Euphrat und Tigris. Dort endlich winkt Bagdad am Horizont jenes Bagdad, einst die Stadt der Kalifen, die Stadt von Tausendundeine Nacht, das vorgesehene Ziel. Dort angekommen, waren sie erst einmal verwirrt. Hatten sie eine Zeitreise in die Geschichte unternommen? … der Gang durch die Strassen, Gassen und Märkte. Frisch selbst wollte gar nicht glauben, dass er nun doch noch dorthin gekommen war.
Siebenmal ist Bagdad in «Homo Faber» erwähnt, zum letzten Mal auf der vorletzten Seite. Es ist, als ob der ehemalige Architekt und spätere Romancier Max Frisch, der ebenso wie sein Held aus Zürich kam, sich mit seinesgleichen, dem Maschinenbauingenieur Walter Faber, auf die Reise nach Bagdad vorbereiten wollte. Wahrlich eine neue Illusion, die sich aber in nichts von der Illusion der Flucht zur Frau uterschied!».

 

 

Najem Wali, 1956 im irakischen Basra geboren, flüchtete 1980 nach Ausbruch des Iran-Irak-Kriegs nach Deutschland. Heute lebt er als freier Autor und Journalist in Berlin. Er ist Kulturkorrespondent der bedeutendsten arabischen Tageszeitung Al-Hayat und schreibt regelmäßig u.a. für die Süddeutsche Zeitung, die Neue Zürcher Zeitung und Die Zeit. Bei Hanser erschienen zuletzt sein Roman «Bagdad Marlboro», für den er mit dem Bruno-Kreisky-Preis 2014 ausgezeichnet wurde, sowie «Bagdad. Erinnerungen an eine Weltstadt» (2015).
Najem Wali

Bagdad
Erinnerungen an eine Weltstadt
übersetzt aus dem Arabischen von Hartmut Fähndrich
Hanser Verlag, 2015
416 S., 
 
Fester Einband
ISBN 978-3-446-24922-6
ePUB-Format 
ISBN 978-3-446-25015-4

Deutscher Buchpreis 2016
Diese Literaturexperten entscheiden, wer den Deutschen Buchpreis 2016 erhält: Die Akademie Deutscher Buchpreis hat Thomas Andre (Hamburger Abendblatt), Lena Bopp (Frankfurter Allgemeine Zeitung), Berthold Franke (Goethe-Institut Prag), Susanne Jäggi (Librium Bücher, Baden), Christoph Schröder (freier Kritiker, Frankfurt am Main), Sabine Vogel (Berliner Zeitung) und Najem Wali (Autor und Kritiker, Berlin) in die diesjährige Jury berufen.

NACH OBEN

Literatur