FRONTPAGE

«Bath: The place to be»

Von Ingrid Schindler

 

Imaginäre Reise in die britische Thermenstadt Bath, die kein Wässerchen trüben kann. Ein Sittenbild aus dem 18. Jahrhundert.

Versetzen wir uns ins 18. Jahrhundert, in die Zeit der Glorious Georges. Die englischen Könige George I bis IV stammten aus dem Geschlecht der Welfen in Hannover und regierten die Briten von 1714 bis 1830. Der Hot(s)pot der georgianischen Ära befand sich im Südwesten Englands in der Grafschaft Somerset. Hätte ein Boris Johnson vor 300 Jahren gelebt, wäre er spätestens bei Ausbruch der Corona-Pandemie ins berühmt-berüchtigte Bath geflüchtet und hätte sich, wenn noch nicht bis dahin, dann sicher dort infiziert. Bath galt als der Ort, dessen Wasser alles und jedes kurieren kann. Wer in der britischen Gesellschaft von Rang und Vermögen war, hielt sich in Bath auf. Nirgends konnte man geistreicher und unterhaltsamer mehr für die Gesundheit, gesellschaftlichen Glanz, Glücksspiel und Geschäfte tun. Machtspiele bei Müssiggang im Bade, wie im alten Rom. Die perfekte Bühne für ausgeprägte Egos, Zocker und Exzentriker.

 

Der Look

Mit seinem gerupften Strubbellook wäre der blonde Boris vermutlich in Bath aufgefallen. Ob er sich eine der angesagten Perücken aufgesetzt und sein Gesicht mit wohlgelegten Locken umschmeichelt hätte? Ist eher umständlich im Bade. Vielleicht hätte er auch auf das in der Upperclass modische Make up verzichtet, sein Teint wäre ohnehin rosig-blass genug. In Ermangelung von Estée Lauder & Co mixten sich die Damen und Herren der Gesellschaft ihre Pasten selbst – aus Pferde- bzw. Kuhdung, Eiweiss, Essig, Öl oder Pomade und giftigem Bleiweiss –, formten sich die Brauen und legten Rouge aus quecksilberhaltigem Zinnoberrot auf. Besonders Eitle stopften sich die Backen mit Korken im Mund aus – das macht die Wangen prall. Backen blähen könnte Bojo auch so. In puncto Garderobe stellen wir uns den georgianischen Boris ein bisschen nachlässig vor: der Rock nicht akkurat gepflegt, leicht verknittert, ein paar Applikationen könnten fehlen, Satinschleifen aufgelöst und Silberknöpfe vom Wams abgesprungen sein. Bei all dem Bier- und Ciderkonsum, fettem Schweinebauch und rahmigem Cheddar, Steak-and-Kidney-Pies und gefüllten Pasteten kein Wunder, wenn es spannt.

 

Der Goût

Wo keine Wasserleitung, da keine Toilette, kein fliessendes Wasser, keine Körperpflege. Handhygiene? Fremdwort. Man hatte ja Fächer zum Verwedeln schlechter Gerüche in der wohligen Wärme des offenen Kamins. Denn den besass jeder Raum – die Silhouette von Bath wird von Schornsteinen definiert. Parfüm war das Mittel, um das allgegenwärtige üble Odeur zu überdecken. Der Nachtopfinhalt landete im Rinnstein, die Brunnen wurden von Ratten, Abfall, toten Katzen und Hunden verseucht, so dass man sie aus gesundheitlichen Gründen zuschüttete und später mit Bäumen bepflanzte. Aber erst in viktorianischer Zeit, denn unter den Georges hatte man für Bäume, Blumenrabatten und Gemüsebeete keinen Sinn. Die schmalen Gärten waren damals Hinterhöfe, in denen die Sänften standen, um die Herrschaften ins Bad zu tragen.

 

Die Kur

Unter derlei Umständen kam die Kur von Dr. Oliver, einem angesehenen Badearzt, gut an: sechs Liter Heilwasser am Tag trinken und mindestens drei Stunden täglich im heissen Thermalwasser baden, in Gemeinschaft. Das weichte selbst die hartnäckigsten Dreckkrusten auf. Je nach Geldbeutel waren die Bäder getrennt, für Royals und Reiche und Arme und Kranken, die gratis baden durften. Hartnäckig hielt sich die Überzeugung, das sei gesund. Alt wurden die Menschen allerdings nicht. Bleivergiftung war eine der häufigsten Todesursachen. Blei war überall enthalten, in Wasser, Zucker, Wein, Gefässen u.v.m. Die Sterblichkeit der Herrschaft lag bei 57 Jahren, die der Dienerschaft bei 27. Damals hätte Boris noch zwei Jahre zugut gehabt.

 

Die Legende

Archäologen weisen seit 8000 vor Christus menschliche Spuren in Bath nach. Über die Entdeckung der heissen Quellen erzählt man sich folgende Legende: Der ausgestossene, keltische Königsohn Bladud bestritt wegen Lepra – früher subsumierte man alle möglichen Hautkrankheiten unter dem Begriff – sein Leben als Schweinehirt. Als sich seine kranken Tiere im Morast der heissen Quellen von Bath suhlten, wurden sie gesund. Daraufhin wälzte sich Bladud selbst im Schlamm und siehe da, er wurde von der Lepra geheilt und zum König der Briten gekrönt. Weil Schweine Eicheln lieben, sind viele steinerne Eicheln auf Simsen, Dachfirsten und Säulen in Bath zu sehen.

 

Die Römer

Seit dem Altertum sprudelt täglich eine Million Liter 46° C heisses Heilwasser aus den Quellen von Bath. Sie sind die einzigen Heilquellen Britanniens und Bath damit das einzige britische Spa. Das Wort ist keine Erfindung moderner PR-Strategen, sondern geht auf die Kurzform von salus per aqua, römisch für Heilung aus dem Wasser, zurück. Ja, es waren Kontinentaleuropäer! Ausländer!, liebe Brexiteers, die 44 n.Chr. den Grundstein zu Aquae Sulis, eurem one and only Spa, in den sieben grünen Hügeln des malerischen Avontals legten. Die Römer brachten Ordnung in die dampfenden Sümpfe, die sie der keltischen Quellgöttin Sulis und ihrem römischen Pendant Minerva weihten, und machten das heisse Wasser nutzbar. Sie fassten die Quellen, verlegten Wasserleitungen (aus Blei) und Bodenheizungen, bauten Heiss- und Kaltwasserbecken, Dampfbäder, Ruhe- und Wandelhallen, Massageräume und errichteten Sulis-Minerva einen Tempel. Aquae Sulis war 300 Jahre lang das Luxus-Spa der Römer in Britannia, bis es nach deren Exit, sozusagen dem umgekehrten Brexit, verfiel und in Vergessenheit geriet.

 

Die Wiederbelebung

In den nachfolgenden tausend Jahren dümpelte die Geschichte Baths zwischen Klöstern, Bischöfen und Kranken dahin, bis neue Bäder über den alten gebaut wurden, vermehrt Quaksalber auf den Plan traten und Elizabeth I. den Wert der heissen Quellen wiederentdeckte. Sie sicherte dem Volk, the poor people, den freien Zutritt ins Bad in einer Charta von 1590 zu. 1652 eröffnete der erste Arzt im Bellott’s Hospital eine ständige Praxis. Royals aus dem In- und Ausland kamen und mit ihnen andere Hochgestellte. Aber erst mit dem Auftritt von Richard «Beau» Nash 1704 machte der Kurort den Sprung in die erste Liga und entwickelte sich zum Baden-Baden bzw. Monaco der britischen High-Society.
 
Der König von Bath

Der notorische Glücksspieler Nash führte einen neuen Lifestyle in Bath ein – und jeder liess den 31-Jährigen gewähren. Als frisch ernannter «Master of ceremonies» taktete er das gesellschaftliche Leben strikt mit Konzerten, Tanztees, Soiréen, Banketten, Bällen und Glückspielen durch, erliess Regeln für Benimm und guten Geschmack und machte die bis anhin verruchte Stadt sicher. Damen verbot er zum Beispiel das Tragen von Schürzen – sie waren das Zeichen für Prostitution –, Herren durften in Gesellschaftsräumen keine derben Stiefel mehr tragen oder fluchen usw.. Der «schöne Nash» galt als bestangezogener Mann seiner Zeit, Prototyp des Dandies, noch lange bevor ihn Oscar Wilde erfand, und machte Bath zum In-Place, nicht ohne sich einen Anteil an den Glücksspielen in der Stadt zu sichern. Die Beau-Street ist nach dem «König von Bath» benannt. Hier befindet sich neben dem Bellott’s Hospital das Luxushotel The Gainsborough Bath Spa, selbst früher ein Spital, das als einziges Hotel über das heisse Quellwasser verfügen kann. Die aufblühende Stadt zog Künstler, Geistesgrössen und Exzentriker an. Die Schriftstellerin Jane Austen, der Porträtmaler Thomas Gainsborough, der Astronom William Herschel oder der durch Zucker und Sklaven reich gewordene Exzentriker Thomas Beckford, der mit frühen Schauerromanen (Gothic Novels) und einstürzenden Neubauten (Beckford Tower) Furore machte, sind nur einige der Stammgäste des Bads. Ihre Wohnhäuser zählen heute zu den interessantesten Museen der Stadt.

 

Hommage an Rom

Die Reise nach Bath war aufgrund der üblen Strassen sehr beschwerlich, man blieb in der Regel eine Saison, das heisst von Oktober bis Mai in der Stadt. Illustre Gäste wollen nobel residieren, neue Luxusunterkünfte mussten also her. Mit Hotels und Gasthäusern allein war es nicht getan. Es traf sich günstig, dass Ralph Allen, der mit der Lizenz für den Postverkehr ein Vermögen angehäuft hatte, Steinbrüche in der Nähe des Kurorts erwarb. Der honiggelbe Bath Stone, ein Kalksandstein, sollte das neue Bild der Stadt prägen. Als Baumeister konnte man unter Nash’s Zutun Vater und Sohn John Wood engagieren. Sie errichteten vornehmste, gleichförmige Reihenhäuser mit antiken Friesen und ionischen Säulenfassaden und schufen stilbildende Strassenzüge, Plätze, Terrassen und Parkanlagen, die in ganz Grossbritannien bis hinauf nach Edinburgh kopiert wurden: den rechteckigen Queen Square, den kreisrunden Circus, den halbkreisförmigen Royal Crescent, die mit Geschäftshäusern bebaute Pulteney Bridge u.v.a.. Vorbild waren das antike Rom zu seiner Glanzzeit unter Kaiser Augustus, das Kolosseum, der Petersplatz, der Ponte vecchio in Florenz und die klassizistischen Villen Andrea Palladios. Ein einheitliches, elegantes, klassizistisches Ensemble aus Bath stone entstand, nach dem Motto Prunk ohne Pomp.
1755 stiess man auf antike Funde. Erst 1796 wurden die alten römischen Bäder beim letzten grossen Bauprojekt der georgianischen Ära, dem Pump Room, ausgegraben. So nannte man das Kurhaus, in dem man High-Tea und Heilwasser bei Kurkonzerten vor oder nach dem Besuch der beeindruckenden Roman Baths, der heutigen Hauptattraktion, geniessen kann.

 

Brighton, das neue Bath

Unter George IV. erlosch das Interesse an Bath. Seebäder kamen in Mode. Der Monarch liess unter der Leitung von John Nash, die Namensgleichheit ist zufällig, den märchenhaften Royal Pavillon nach dem Vorbild indischer Mogulpaläste in Brighton errichten. Bath’s georgianische Architektur fror auf dem Stand von 1830 ein. Die Verblendung der Fassaden mit Bath Stone ist seither bei Renovationen oder Neubauten in Bath Pflicht, damit der geschlossene Eindruck erhalten bleibt. 1987 wurde die ganze Stadt unter den Welterbeschutz der UNESCO gestellt, was ausser Bath nur Venedig gelang.
1978 wurde der Bäderbetrieb in Bath gänzlich eingestellt. Es sollte lange dauern, bis sich neue Investoren fanden. Erst 2006 wurde ein neues, öffentliches Bad, die Thermae Bath Spa, eröffnet. Aus vielen der ehemaligen Spitäler wurden inzwischen Grandhotels.
Das Spiel geht weiter: Wenn der fiktive Gambler Boris nicht gestorben wäre, hätte er weiter das Vermögen seiner Untertanen in den Salons aufs Spiel gesetzt und auf brillante wie rüde Art die Gesellschaft verzückt. Statt dem Maler Gainsborough in langweiligen Sitzungen für Porträts zu posieren und Schosshündchen zu kraulen, hätten man ihm lieber gelauscht, wie man mit Amerika gross Kasse machen könnte. Ob all der abenteuerlichen Geschäfte in den Kolonien, die der gewandte Redner in Aussicht gestellt hätte, wären die Damen vor lauter Aufregung in Ohnmacht gefallen, die Mieder waren doch arg eng geschnürt. Riechsalz hatte Hochkonjunktur wie Desinfektionsmittel heute.
300 Jahre später sahen die Organisatoren des Bath Halbmarathons Mitte März keinen Grund, diesen abzusagen, während Europa heruntergefahren wurde. «Eine Veranstaltung mit geringem Risiko», verteidigte Bath Half-Director Andrew Taylor die Durchführung gegenüber BBC. Man hat schon andere Situation überstanden – und der Prime Minister hat Corona inzwischen auch überlebt.

 

 

Bildlegenden von oben nach unten:

Royal Crescent
Gainsborough Hotel Bath
Quellwasserpool im Gainsborough Spa
Roman Baths
Typisch Bath: Mit Kaminen übersät
Typisch Bath: geschlossene georgianische Strassenzüge

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