FRONTPAGE

«Bodo Morshäuser: Der fortdauernde Krieg»

Von Steffen Richter

 

Eine unheimliche, unheilvolle Kontinuität erkennt der Schriftsteller Bodo Morshäuser in der deutschen Geschichte. Der Schatten Hitlers reiche bis in die Gegenwart, und kein Schritt sei gross genug, daraus herauszutreten.

Auf einer Lichtung im Berliner Grunewald sitzt eine Gruppe etwa sechzigjähriger Männer. Sie behaupten von sich, «Überlebende» zu sein – nicht etwa des Kriegs, sondern des Nachkriegs. Einige Jüngere haben sich um sie geschart und lassen sich erklären, aus welchem Stoff dieser Nachkrieg gemacht war: Schweigen, Gehorsam, Autoritäten. Sowohl drinnen in der Familie als auch draussen auf der Strasse. Ob es kein Aufbegehren gegeben habe? Doch, gewiss. Und danach? «Drogen nehmen, Kommunist werden, Sekten gründen der eine. Mit Drogen handeln, Terrorist werden, Vergewaltigungen organisieren der andere.» Auch ein Nachkrieg hat seine Toten. Ob die Grunewalder Überlebenden nur Hirngespinste sind, ist dem Spaziergänger, der die Gruppe beobachtet, anfangs nicht klar. Das Bild aber scheint ihm eine zwingende Evidenz zu besitzen.

 
Eine stille Daseinsfreude
Der Spaziergänger heisst Bodo Morshäuser. Er ist Schriftsteller und gehört mit seinem Jahrgang 1953 zur Generation der Nachkriegsüberlebenden. Einer Generation, die ihre Kindheit im Prä-68-Universum verbracht hat, einem Universum des Unausgesprochenen, der gestockten Gefühle, der unterkühlten Härte. Man bleibt da nicht unversehrt. Morshäuser aber ist in zweifacher Hinsicht Überlebender: Nachdem vor acht Jahren sein bisher letzter Roman erschienen war, wurde es ruhig um ihn. Beunruhigend ruhig. Die Diagnose der Ärzte: ein bösartiger Tumor von der Grösse eines Tennisballs im rechten Lungenoberlappen. Bronchialkarzinom – Lungenkrebs.
Heute, fünf Jahre später, sitzt Bodo Morshäuser in einem italienischen Restaurant im sehr friedlichen Berliner Stadtteil Friedenau. Doch, es gehe ihm gut, danke! Eigentlich wirkt er, wie er immer gewirkt hat: aufmerksam. Er spricht ruhig und überlegt, nicht ohne eine gewisse Berliner Lässigkeit. Und ja, eine stille Daseinsfreude ist nicht zu übersehen. Die Krankheitskrise hat er zu einer Chance umgedeutet, zum Versuch, noch einmal einiges auf null zu stellen, ein anderer zu werden. Die Erzählung «Und die Sonne scheint» ist der Text zur Krise und zugleich Teil ihrer Bewältigung. Einer Krise, die nicht nur den Autor Bodo Morshäuser etwas angeht. Sein zweites Überleben könnte mit dem ersten zusammenhängen.
Der Krebs-Bericht, der das «Sonnen»-Buch zunächst zu sein scheint, kommt ohne jede Larmoyanz aus. Nüchtern und versessen auf Genauigkeit schildert Bodo Morshäuser das Warten auf die Operation, die Morphinpumpe gegen die Schmerzen danach, die viermonatige Chemotherapie und schliesslich die regelmässigen radiologischen Durchleuchtungen. Ja, sagt Morshäuser, ein Krebspatient wolle genau das: exakte Informationen. Dann aber dränge sich eine andere Frage in den Vordergrund: «Krebspatienten», sagt Morshäuser, und das ist vielleicht der eigentliche Schnitt, der das Leben davor von dem danach trennt, «Krebspatienten sind zur Interpretation verurteilt.» Also: Woher kommt die Krankheit? Vom Lack auf dem Schreibtisch, von den Abgasen des nahe gelegenen Kurfürstendamms oder dem jahrzehntelangen Inhalieren von «Zigaretten und anderem Zeug»?
Nach und nach legt die Hermeneutik des Selbst noch ganz andere Schichten frei. Das Abtasten der eigenen Biografie, immer auf der Suche nach dem Fehler, bringt ein merkwürdiges Selbstbild zutage. Im Text spricht Morshäuser vom Bild als «Zweizimmerexistenz». Er erkennt sich wieder als einen «Alleinleber, Alleinwohner, Alleinesser, Alleinschauer und Alleindenker». Wie aber konnte er zu so einem werden? Einem, der als Typus des «Ausgelöschten» durch die eigenen Bücher geistert?

 
Die Entwirklichung der Grossstadt
Bodo Morshäuser war nicht irgendein Schriftsteller, er war der Stadtschreiber des alten Westberlin. Während einige Feuilletons der Gegenwartsliteratur noch ihr «Versagen vor der Metropole» (Frank Schirrmacher) vorwarfen, fühlte Morshäuser seiner Stadt schon längst den Puls. Westberlin, das war in den 1980er Jahren noch immer Frontstadt mit Schaufensterfunktion, das war das Kultur-Biotop «Bad Westberlin» und ausserdem eine Zeichenstadt mit modernsten Medien – eine hoch subventionierte Kultur der Unwirklichkeit. Eben eine «Berliner Simulation», wie Morshäusers Prosadebüt 1983 hiess.
Das Buch über die sich entziehende Sarah alias Sally, entsprungen aus Christopher Isherwoods Berliner Skizzen «Goodbye to Berlin», war ein faszinierendes Stück Literatur, das umstandslos in den Kanon einging. Es war eine feinsinnige Erzählung über die Entwirklichung einer Grossstadt und die Verdoppelung ihrer Realität in Medien, die alle Ereignisse vor ihrem Eintreten schon einmal durchspielen. Die Erzählung über eine Stadt, in der Strassenkämpfe zwischen Hausbesetzern und Polizei den medial vorgefertigten Modellen von Strassenkämpfen zwischen Hausbesetzern und Polizei folgen – und «was wirklich ist, rutscht, wie üblich, hinten weg».
Morshäuser war nicht nur auf der Höhe der Theorien Jean Baudrillards, des massgeblichen Simulationsexperten, er war vor allem auf der Höhe der Stadt, stets auf der Suche nach der Substanz des Gegenwärtigen. Und das auch mit den folgenden Büchern wie «Blende» (1985) oder «Nervöse Leser» (1987) – Erzählungen über die datenmässige Erfassung der Stadtbewohner in binären Codes und die Überwachung privatester Gefühle. Die Protagonisten agierten wie auf einer Drogenwolke oder tanzten «unbekannte Tänze». In der «Berliner Simulation» setzten sie, die Kaufhaus-Brandstiftungen der RAF zitierend, die Sprinkleranlage im Kaufhaus des Westens in Gang, während der Text schliesst: «Wir sind nicht mehr empört.»
Reinhard Mohr hat in seinem Buch über «Zaungäste. Die Generation, die nach der Revolte kam» (1992) die Jahrgänge Morshäusers treffend als «erste Mediengeneration der Bundesrepublik» beschrieben. Noch wichtiger: Sie formierte sich als «erste wirklich antiautoritäre Generation, die im Windschatten der politischen wie kulturellen Durchbrüche der 68er durch das befreite Gelände stolperte». Diese Kinder des Nachkriegs wurden 1968 in eine ungewohnte Freiheit entlassen, von der sie oft nicht wussten, wozu sie gut sein sollte. Vielmehr waren sie damit beschäftigt, sich in jener «Neuen Unübersichtlichkeit» zu orientieren, in der Jürgen Habermas das Signum des postrevolutionären Jahrzehnts sah: eine Situation, in der sich die utopischen Energien vom historischen Denken zurückgezogen hätten. Sie zersplitterten und flossen nun in ökologische, feministische oder pazifistische Projekte.

 
Ein fatales Missverständnis
Das «befreite Gelände» war in Westberlin noch ein wenig befreiter als anderswo. Morshäusers Bücher erzählen die Halbstadt als Spielwiese des unverbindlichen Lebens – zugleich aber als Erfahrungsverhinderungs-Moloch. Das eingemauerte, kräftig bezuschusste Westberlin der 1970er und 1980er Jahre potenzierte die bundesdeutsche Generationserfahrung von relativer Erfahrungslosigkeit und liess den Eindruck entstehen, in eine frisch liberalisierte, friedliche Wohlstands- und Konsumwelt hineinzuwachsen. Die flankierenden Sinndefizite und die Leere wurden mit jeder Menge bewusstseinserweiternder Verheissungen kompensiert. In «Und die Sonne scheint» trifft man sie wieder, Morshäusers Generationsgenossen, Überlebende wie Tote des Nachkriegs, die als «Terrorsimulanten» oder «Spasssimulanten» die früheren Bücher bevölkerten. Heute haben sie einen Schlaganfall wegen Kokainkonsums hinter sich oder sind wegen aus dem Ruder gelaufener LSD-Trips in psychotherapeutischer Behandlung. Etliche zerbrachen mit einer Überdosis irgendeines Drogencocktails in den Adern an ihrer Freiheit. Manche liegen auf dem Waldfriedhof Grunewald. Wie Nico, die Sängerin von The Velvet Underground.
Das Problem, meint die ehemalige «Zweizimmerexistenz» Bodo Morshäuser heute, sei das fatale Missverständnis von Freiheit als Bindungslosigkeit. Er spricht hochkonzentriert, legt Denkpausen ein. Es sei bereits das «häusliche psychologische Regime» der kriegstraumatisierten Eltern gewesen, das die Beziehungen zu ihren Söhnen und Töchtern vereitelte. Kinder seines Jahrgangs, so erzählt Morshäuser, sind gross geworden unter der Fuchtel des Imperativs, «anständig zu sein, zu wachsen und im Übrigen nicht zu stören». Diese Kinder hätten Bindungslosigkeit verinnerlicht. Jede Art von Festlegung, eine eigene Familie oder auch nur ein fester Job, sei ihnen später als Albtraum erschienen. Und dann noch Westberlin! «Hier kamen doch die Leute hin, die mit ihren Eltern auch räumlich Schluss gemacht hatten.» Die Insel Westberlin wurde bevölkert von Menschen, die sich selbst Inseln waren. Allerdings Inseln mit einer Geschichte.
Letztlich nämlich gründet das Dilemma in der Kontinuität eines Kriegs, für die Bodo Morshäuser schon in dem wunderbar klarsichtigen Erzählungsband «Gezielte Blicke» von 1995 ein prägnantes Bild gefunden hat: das des Sandsturms. Dieser Sand prägte die unmittelbare Nachkriegs-Trümmerlandschaft im Berliner Tiergarten und setzte sich fort in den Baugruben am Potsdamer Platz. In «Und die Sonne scheint» heisst es: «Der Sturm hatte zwar nachgelassen Neunzehnhundertfünfundvierzig, aber aufgewirbelter Dreck und Staub und manches Gefährliche, das noch durch die Luft flog, verdüsterten die nachfolgenden Jahrzehnte, und wenn man jemals meinte, der Wind sei vorüber, dann, weil er gestern stärker gewesen zu sein scheint als heute.» Ob diese Vorstellung eines Dauerkriegs, der Konnex zwischen Nazis und den Drogentoten der 1980er Jahre, tatsächlich plausibel sei? Alice Miller, sagt Morshäuser, habe einmal ein Bild beschrieben: «Als sie in den 1970er Jahren die zwei-, dreihundert Leute sah, die vor der Tür einer Berliner Diskothek standen und gedealt haben, ist ihr aufgefallen, dass das aussah wie der Schwarzmarkt nach dem Krieg, wo man die Lucky Strike der Amerikaner gegen alles Mögliche tauschen konnte.»
«Kein Schritt», behauptet Morshäuser, und zitiert damit den Titel eines eigenen Radiofeatures vom Beginn der 1990er Jahre, «kein Schritt reicht weit genug, um deutsche Gegenwart aus Hitlers Schatten zu führen.» Das gehört zu seinen Grundüberzeugungen – spätestens seit den Recherchen zum neuen Rechtsradikalismus der 1990er Jahre («Hauptsache Deutsch», 1992, und «Warten auf den Führer», 1993). Hier hat er den Umgang mit Nationalismus und «negativem Nationalismus» als modellhaftes Verhalten beschrieben, geprägt durch einschnappende Reflexe, Meinungsfallen und verinnerlichte Drehbücher. Ja, sagt Morshäuser heute, Hitler und die Gewalt, die mit ihm verbunden ist, hätten als fortdauernder Krieg die «Lebenskonzepte mehrerer Generationen zerschossen».

 
Wege aus der Krise
In «Und die Sonne scheint» steht der desillusionierte Satz von den «komplett misslungenen letzten Jahren». Wann die begonnen hätten? «Da gibt es verschiedene Zeitrechnungen», meint Morshäuser. Wenn es nicht eine Frage der gesamten Sozialisation sei, dann begännen sie vor fünf, zehn, «im deprimierendsten Fall vor fünfzehn Jahren». Vor fünfzehn Jahren, am Ende der 1990er, waren Morshäusers letzte Berlin-Texte, «Liebeserklärung an eine hässliche Stadt», erschienen. Mauerfall und Wiedervereinigung hatten sein angestammtes literarisches Terrain nicht nur umgekrempelt – die Stadt Westberlin war ausgeschrieben, sie existierte nicht mehr. Damit dürfte auch der Schriftsteller Bodo Morshäuser an ein Ende gelangt sein. Viele Wege führen in die Krise.
Das Buch, mit dem Morshäuser sich jetzt zurückmeldet, ist also weitaus mehr als ein Krankheitsbericht, als die Beschreibung der Topografie zwischen «Tumortown» und «Wellville». Vielmehr geht es um die Inspektion eines kulturell einflussreichen Milieus der alten Bundesrepublik und einmal mehr um eine Generation, die durch die Raster fiel. Da Suhrkamp, Morshäusers Stammhaus, an der neuen Erzählung nicht interessiert war, gibt es sie nun im winzigen Berliner Hanani-Verlag. Dort wird zugleich die «Berliner Simulation» wieder aufgelegt. Und dass beide Bücher zusammen in einem Schuber zu haben sind, das hat seine Richtigkeit.

 

 

Bodo Morshäuser

Und die Sonne scheint

Hanani-Verlag, Berlin 2014. 148 S.,

CHF 23.50.

Bodo Morshäuser

Die Berliner Simulation

Hanani-Verlag, Berlin 2014.

128 S., CHF. 20.90.

Zusammen im Schuber CHF 40.90.

 

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