FRONTPAGE

«Brigitte Kronauer: Glamouröse Thriller der Büchner-Preisträgerin»

Von Ingrid Isermann

 

Im Hause eines Ornithologen kommt die Schriftstellerin Charlotte ins Sinnieren über die frappanten Ähnlichkeiten von Vogelarten mit Menschen. Sie will 39 Porträts verfassen, unterteilt in strenge Kategorien. Doch daraus wird nichts, denn sie verflechten sich mit einer vielschichtigen Wirklichkeit, die das Schöne, Schäbige und Schwankende unserer Existenz beschwören.

Am 22. Juli 2019 ist die 1940 in Essen geborene, vielfach ausgezeichnete Schriftstellerin Brigitte Kronauer in Hamburg verstorben. Ihr letztes Vermächtnis nennt sie «Roman-geschichten». Das Erscheinen des Buches hat sie nicht mehr erlebt.

 

Im Hause des befreundeten Ornithologen im ländlichen Brandenburg, das die Schriftstellerin Charlotte als Schreibklause für ihr Romanprojekt nutzt, begegnen ihr vielfältige Vogelwelten,  die sie in magische Augenblicke einer Parallelwelt entführen. Die Vogellaute auf Feld und Flur versucht Charlotte zu entziffern und ihre geheime Botschaft zu enträtseln.

 

 

Suspense – das Heimliche, Unheimliche, Unerwartete

Die existenzielle Befindlichkeit des Menschseins verbindet sich mit den Erkenntnissen einer nicht zu fassenden Schönheit inmitten einer schwankenden Welt in den Geschichten Brigitte Kronauers, als Fluidum inmitten von Partikeln, die miteinander kommunizieren und einem geheimen Netzwerk unterstehen.

 

Jedes dieser mit analysierendem Röntgenblick verfassten Porträts ist zugleich von einer hohen Konsistenz der Empathie geprägt. Das Schwankende, das Ambivalente in Menschenleben erfasst Brigitte Kronauer mit seismographischer Konsequenz. Jede Geschichte hat einen psychosozialen Hintergrund, der das Unsichere, Unerwartete, Heimliche, Unheimliche umfasst.

 

 

Die Magie des Augenblicks

Charlotte wurde von der Kritik in ihrem Schreiben eine Art ’narrative Impotenz‘ vorgeworfen, wohl auch, weil ihre Stories sich nicht um einen traditionellen Erzählstil scheren. Mit ihrem geplanten Romanprojekt «Glamouröse Handlungen» wollte sie der Literaturkritik einen eleganten Seitenhieb verpassen. Doch nun handeln ihre Porträts von den kleinen und grossen Dramen des Lebens, von Aufstieg und Absturz, von Krankheit und Tod.

 

 

Da ist zum Beispiel Rosetta, «deren Mund  als Mohnblüte im hellen Feld ihres Gesichts stand», ihr atemberaubend erotischer Auftritt versetzt eine bürgerliche Gesellschaft bei einem biederen Abendessen in Aufruhr, «sie betrat den Raum mit festem Schritt, schwingenden Hüften und einigen in ihr fülliges Haar gesteckten, steil aufragenden Federn, die von einem exotischen Vogel stammen mochten. Diese Frau wusste, wie man einen Raum erobert». Niemand hatte sich indes das Ende des Abends so vorgestellt, wie es sich schliesslich ereignete, nicht einmal die Täterin selbst.

Die Literaturkritikerin Veronika, genannt «Mitsou», elegant, kühl, sexy, mit messerscharfem Verstand, kennt im Liebes- und Berufsleben keine Skrupel, so auch, dass «zum Styling die schnoddrige Grazie der Hochstapelei gehört». Ihren Zauber verliert sie erst, als ihr Lieblingsliebhaber sie verlässt und das Altern nicht mehr aufzuhalten ist, «der Perlmuttschimmer ihres Prachtgefieders ergraute». Franziska wird von einem kriminellen Jüngling in Rom bestohlen, der nicht nur ihre Handtasche mitnimmt, sondern auch die letzte Hoffnung auf ein erotisches Abenteuer, und die sich daraufhin als Buddhistin durchs Leben schlägt. Oder aber die Prächtige, die sich bei stürmischem Wetter im Dünenrestaurant an Charlottes Tisch setzt und ihr eine Geschichte erzählt, die ihr eine unerwartete Pointe enthüllt, bis sie aufgelöst aufbricht. «… Ich sah sie noch am Fenster vorbeilaufen, sah sie vorübertreiben als zerfledderte Krähe, als vom Sturm zerfetzter schwarzer Schirm».

In der letzten Geschichte «Grünewald» geht es um einen 90-jährigen Literaturprofessor, der in der Kunst seine Apotheose entdeckt, eine Ewigkeitslust, anhand des Grünewaldschen Isenheimer Altarbildes der Verkündigung, Kreuzigung und Auferstehung, das durch alle Wirrnisse trägt: «… Die Sehnsucht wird für mich zum Lebenszeichen und zur Gewähr, dass es eine Energie gibt, die über das Irdische hinausgeht. Zu ihr drängt es uns in Wahrheit hin. Warum würde man sonst so sehr danach verlangen?». Grünewald setzte keinen Gottvater in die Wolken. «Der Himmel ist verschlossen, man muss ihn, im Verein mit dem Aufwärtsströmen aller Wesen, mit Glut und Waffen seiner Sehnsucht durchdringen. Nichts anderes bleibt mir Verlassenem übrig». Letzte Worte aus dem letzten Buch von Brigitte Kronauer. Ein Abschiedsgeschenk. Grossartig! Oder wie die Dichterin Marina Zwetajewa es benennen würde: «von grosser Art».

 

 

 

Brigitte Kronauer, 1940 in Essen geboren, lebte als freie Schriftstellerin in Hamburg, wo sie im Juli 2019 verstorben ist. Ihr schriftstellerisches Werk wurde unter anderem mit dem Fontane-Preis der Stadt Berlin, mit dem Heinrich-Böll-Preis, dem Hubert-Fichte-Preis der Stadt Hamburg, dem Joseph-Breitbach-Preis und dem Jean-Paul-Preis ausgezeichnet. 2005 wurde ihr von der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung der renommierte Büchner-Preis verliehen.

 

 

Brigitte Kronauer
Das Schöne, Schäbige, Schwankende
Romangeschichten
Klett-Cotta,Stuttgart 2019,
596 Seiten, gebunden mit Schutzumschlag
CHF 38.90.€ 26 (D). € 26.70 (A)
ISBN: 978-3-608-96412-7

 

 

 

Leseprobe:
DAS SCHÖNE, SCHÄBIGE, SCHWANKENDE
Wie sollte ich ahnen, daß die beiden schon nach sieben Wochen zu Tode erschöpft in der Nacht wie Verfolgte an die Schlagläden klopfen würden! Mir war auch ohne sie verrückt genug zumute.
Kürzlich konnte ich einige Zeit in ihrem Häuschen mit den blauen Schlagläden verbringen, um dort zurückgezogen an einem Romanmanuskript zu arbeiten. Das Manuskript trug den vorläufigen Titel »Glamouröse Handlungen«, der ein bißchen aggressiv gemeint war, denn solange ich veröffentliche, hat man mir vorgeworfen, mal grob, mal mit sanftem Kopfschütteln, vom sogenannten Plot nichts zu verstehen. Im Klartext heißt das, man unterstellt mir narrative Impotenz. Weiß ich etwa nicht, daß die Welt von sogenannten Handlungen und Ereignissen zwischen Mikro- und Makrokosmos geradezu birst und Heerscharen von Autoren ihnen nachhetzen auf Teufel komm raus? Ich hoffte, diesmal den Stier nach meinem Gusto bei den Hörnern packen zu können. Irgendwelche Leute sollten sich schwer wundern.
Das Haus ist nur durch ein schütteres Wäldchen von der Autobahn getrennt, die einerseits nach Berlin, andererseits nach Frankfurt an der Oder führt. Davon merkt man aber nichts, und die vielen Vögel der Umgebung stört es kaum. Das ist wichtig, weil hier normalerweise, wenn er sich nicht in der Stadt aufhält, ein Ornithologe wohnt, den ich, als ich ihn und seine Frau kennenlernte, nicht recht leiden mochte. In den Bücherschränken finden sich die herrlichsten Kompendien.

An den Wänden hängen Fotografien, Schautafeln, Zeichnungen, auf denen das geflügelte Tierreich prächtig und in Überfülle präsentiert ist, vom Eisvogel bis zum Östlichen Waldpiwi, vom Federhelm-Turako bis zum Schwarzstirnwürger. Ein gefiedertes Volk, in dem jeder in der Lage ist, sich dann, wenn es ihm in Erdnähe zu lästig wird, in die Lüfte zu schwingen. Besonders in dem winzigen Raum, in dem ich schlief, waren sie dicht um mich versammelt und sahen mich an, sobald ich die Augen öffnete, und wenn ich sie schloß, spürte ich ihre Blicke erst recht.

Beim Einschlafen glaubte ich, mich in einem italienischen Café zu befinden, in Verona war’s, und es hieß Café Dante, ganz gefüllt mit alten Leuten, die in großer Fröhlichkeit unermüdlich durcheinanderzwitscherten. Keiner hörte dem anderen zu. Darauf kam es nicht an, nur auf die jauchzende Meldung, am Leben zu sein. So war es auch in dem Haus des Vogelkundlers. Seine zweidimensionalen Genossen jubilierten und schrien aber nicht aus der Kehle heraus wie an einem frühen, noch hellgrauen Frühlingsmorgen, sondern aus Leibeskräften mit der in mir nachhallenden Farbenleidenschaft ihres Gefieders. Dann wieder schwiegen sie still, äugten nur und lauerten zu mir hin. Ich nahm in diesen Momenten ihre Schnäbel wahr, die nicht selten, wäre man ihr Opfer, zu tödlichen Instrumenten werden. So ist es von der Natur vorgesehen.
(…) Dabei war ich mit meinem Roman »Glamouröse Handlungen« noch kein Stück weiter. Es mußte an den Vogelabbildungen liegen, die mich, begünstigt durch meine Abgeschiedenheit, von früh bis spät so feurig und hartnäckig umdrängten und auf ganz andere Gedanken brachten. Erinnerungen und Phantasien umstellten mich, wenn ich zwischen den heruntergekommenen Feldern wanderte, von bedrohlichen Hunden erschreckt, von anderen willkommen geheißen an einem schön gewundenen Bachlauf mit mehreren Autowracks, das Blech verrottend, die Vegetation triumphierend aus den Ritzen schießend, wenn ich im verholzten Gestrüpp zwischen den alten Fruchtständen des Sauerampfers auf ausrangierte Waschmaschinen stieß, auf verstoßene Kühlschränke und auf ein paar magere Pferde, eng umzäunt, in unmittelbarer Nachbarschaft von viel leerem Weideland, das ihnen ohne Sinn, Verstand und Mitgefühl vorenthalten wurde.
Die Vögel formierten sich auf diesen Gängen zu einer imaginären Tapete. Richtig, sie tapezierten zunehmend die Wiesen, musterten unverschämt die Wolken und starrten mich herausfordernd an. (…)  Mich amüsierte nämlich etwas dabei. Wie man, jeder hat es schon erlebt, in Mauerrissen, alten Kartoffeln und Felszacken manchmal den suggestiven Zauber von Menschengesichtern entdeckt, so daß man Mühe hat, überhaupt den wirklichen Gegenstand wahrzunehmen, so zwangen mir die Vögel, von Tag zu Tag beherrschender, im Haus und draußen ihre Ähnlichkeit mit Personen auf, mit Freunden, flüchtigen und alten Bekannten.

(…) Das spann ich, durch die barsche, strohige, oft chaotische Landschaft stapfend, weiter aus, dabei Auge in Auge mit den Vogelgesichtern, wohin mein Blick auch fiel. Ich wollte es inzwischen gar nicht mehr anders. Mich trieb und beflügelte eine Besessenheit. Drei Entwicklungsstufen hätten die Figuren zu durchlaufen, mit sehr unterschiedlichem Erfolg, je nach Abteilung. (…) Es ging gut voran. Dann kam die Nacht, in der das Paar an die blauen Schlagläden klopfte. Etwas Merkwürdiges passierte. Das völlig unerwartete Auftauchen der beiden Weißköpfe in meiner Einöde versetzte der sorgfältig geordneten Welt meiner Skizzen und Pläne einen brutalen Stoß. Plötzlich trudelten die Rubriken durcheinander, die Figuren glitten aus ihren Umzäunungen ins Nachbarfeld, richtiger wäre zu sagen, die Linien verwischten sich, alles verlor den sortierenden Halt, alles zwitscherte durcheinander wie die Alten im Café Dante und freute sich seiner Freiheit, die ich ihnen nicht gönnte. Trotzdem ließ ich sie in meiner Ratlosigkeit gewähren.

 

 

 

«Sally Rooney: Gespräche mit Freunden»

 

Zur «ersten grossartigen Autorin der Millennials» hat die «New York Times» die 28-jährige Irin ausgerufen und als die «wichtigste Stimme der Millennialliteratur» bezeichnet sie der «Independent». Für ihr Debüt «Conversations with Friends» wurde Rooney 2017 von der «Sunday Times» als «Young Writer of the Year» ausgezeichnet, mit ihrem zweiten Roman «Normal People» überrundete sie 2019 in Grossbritannien Michelle Obamas Autobiografie als Buch des Jahres. Ohne Frage ein hinreissendes Debüt. Melancholisch, zärtlich, intelligent und aufreizend.

 

Nun ist Rooneys Erstling auf Deutsch erschienen und figuriert bereits auf der Bestsellerliste. Wer in «Gespräche mit Freunden» nach den Kennzeichen eines neuen Generationen-Lebensgefühls sucht, wird fündig. Rooneys ‚Twenty something‘ chatten nachts und mailen am Tage, sie sind sexuellen Praktiken gegenüber aufgeschlossen und finden polyamouröse Beziehungen spannend. Sie regen sich über die griechische Schuldenkrise auf und machen sich gleichzeitig keine Illusionen darüber, irgendwann den ökonomischen Status ihrer Eltern zu erreichen.

 

Kristallisationspunkt dieser Eigenschaften und Tendenzen ist die 20-jährige Frances. Mit ihrer besten Freundin Bobbi war sie während der Schulzeit ein lesbisches Paar. Mittlerweile studieren sie am prestigeträchtigen Trinity College in Dublin und treten als Duo bei Spoken-Word-Events auf. Frances schreibt alle Texte, Bobbi ist die bessere Performerin.

Als die beiden eines Abends die 37-jährige Journalistin Melissa und später deren jüngeren, attraktiven Ehemann Nick kennenlernen, knistert es zwischen Frances und Nick, während Bobbi mit Melissa zu flirten beginnt.

 

 

Leseprobe:
Bobbi und ich trafen Melissa zum ersten Mal bei einer Poetry Night in der Stadt, wo wir gemeinsam auftraten. Melissa machte draußen von uns Fotos, während Bobbi rauchte und ich verlegen mein linkes Handgelenk mit der rechten Hand umklammerte, als hätte ich Angst, es würde sich von mir wegstehlen. Melissa benutzte eine große, professionelle Kamera, und in einer speziellen Kameratasche hatte sie viele unterschiedliche Objektive verstaut. Sie plauderte und rauchte, während sie fotografierte. Sie sprach über unseren Auftritt, und wir redeten über ihre Arbeit, auf die wir im Internet aufmerksam geworden waren. Gegen Mitternacht schloss die Bar. Es fing gerade an zu regnen, und Melissa lud uns auf einen Drink zu sich nach Hause ein.

Melissa nannte dem Fahrer die Adresse in Monkstown, und ich sah aus dem Fenster. Eine Stimme drang aus dem Radio und sagte: Achtziger … Pop … Klassiker. Dann ertönte ein Jingle. Ich war aufgeregt, bereit für die Herausforderung, in die Wohnung einer Fremden zu gehen, und legte mir schon Komplimente und bestimmte Mienen zurecht, um charmant zu wirken.
Wir hielten vor einer Doppelhaushälfte aus rotem Backstein mit einer Platane davor. Unter dem Licht der Straßenlampe wirkten die Blätter orange und künstlich. Ich war ein großer Fan davon, mir anderer Leute Häuser von innen anzusehen, besonders wenn die Leute ein bisschen berühmt waren, wie Melissa.
Sofort beschloss ich, mir alles genau zu merken, damit ich es später unseren Freunden beschreiben konnte, mit Bobbi als Zeugin.
Als uns Melissa hineinließ, rannte uns ein kleiner roter Spaniel auf dem Flur entgegen und fing an zu bellen.
Wir haben Gäste, rief Melissa in den Flur.
Niemand zeigte sich, also folgten wir ihr in die Küche. Ich erinnere mich, dass mir eine dunkle Holzschale mit reifen Früchten und der verglaste Wintergarten auffielen. Reiche Leute, dachte ich. Damals dachte ich ständig über reiche Leute nach.
Wein?, fragte Melissa. Weiß oder rot?
Sie schenkte uns riesige, kugelförmige Gläser ein, und wir setzten uns an einen niedrigen Tisch. Melissa fragte uns, seit wann wir zusammen Spoken-Word-Gedichte aufführten. Wir waren beide gerade mit unserem dritten Jahr an der Uni fertig, aber wir traten schon seit der Schule auf. Die Prüfungen waren mittlerweile vorbei. Es war Ende Mai.
Ich hab neue Leute kennengelernt, sagte sie.
Ihr Ehemann stand in der Küchentür. Er hob zur Begrüßung die Hand, und der Hund raste kläffend und winselnd um ihn herum.
Das ist Frances, sagte Melissa, und das ist Bobbi. Sie sind Lyrikerinnen.
Er nahm sich eine Flasche Bier aus dem Kühlschrank und öffnete sie auf der Küchentheke.
Komm, setz dich zu uns, sagte Melissa.
Ja, würd ich gern, sagte er, aber ich muss vor meinem Flug echt ein bisschen versuchen zu schlafen.
Nick dreht morgen früh in Cardiff, sagte Melissa.
In der Küche schnitt ihr Ehemann Gemüse. Der Hund war wegen unserer kleinen Versammlung richtig aufgeregt. Er sprang auf einen Küchenstuhl und bellte zehn, zwanzig Sekunden lang, bevor Nick ihm sagte, er solle aufhören.
Wollt ihr beide ein Glas Wein?, fragte Melissa.
Wir wollten, und Nick schenkte uns ein. Ich hatte ihn nach unserem ersten Treffen im Internet gesucht, zum Teil, weil ich in echt keine Schauspieler kannte. Er hatte hauptsächlich am Theater gearbeitet, aber auch Fernseh- und Kinofilme gedreht. Vor ein paar Jahren war er einmal für einen bedeutenden Preis nominiert gewesen, hatte ihn aber nicht bekommen. Ich war auf eine ganze Sammlung von Fotos mit nacktem Oberkörper gestoßen, auf den meisten war er jünger, kam gerade aus einem Swimmingpool oder duschte in einer Fernsehserie, die schon seit längerer Zeit nicht mehr lief. Ich schickte Bobbi den Link zu einem dieser Fotos und schrieb dazu: Vorzeigeehemann.
Nach dem Abendessen räumte Nick den Tisch ab, und Melissa machte Fotos. Bobbi saß auf dem Fenstersims, betrachtete eine brennende Kerze, lachte und zog niedliche Grimassen. Ich kann mit ihr reden, wenn du möchtest.
Schon gut. Alle mögen Bobbi lieber.
Wirklich? Ich tendiere ja eher zu dir, muss ich sagen.
Wir sahen uns an. Ich merkte, dass er mitspielte, also lächelte ich.
Ja, wir hatten da gleich so einen ganz besonderen Draht, sagte ich.
Ich hab eine Schwäche für den poetischen Typ.
Ah ja. Ich habe ein reiches Innenleben, glaub mir.
Er lachte, als ich das sagte. Mir war klar, dass ich mich etwas unangebracht benahm, aber ich hatte deshalb kein allzu schlechtes Gewissen.
Ich bin jetzt auch nicht so der Dinnerparty-Typ, sagte ich.
Dafür hast du dich aber ziemlich gut geschlagen.
Du aber auch. Du warst toll.
Er lächelte mich an.
Die Türen öffneten sich, und Melissa kam wieder rein. Sie hielt ihre Kamera in beiden Händen. Sie machte ein Foto von uns am Tisch, auf dem Nick sein Glas in einer Hand hielt und ich leer in die Linse starrte. Dann setzte sie sich uns gegenüber und sah auf das Kameradisplay. Bobbi kam zurück und schenkte sich Wein nach, ohne zu fragen. Ihr Gesicht hatte einen glückseligen Ausdruck, und ich wusste, dass sie betrunken war. Nick sah ihr zu, sagte aber nichts.

 

 

Sally Rooney

Gespräche mit Freunden

Roman

Luchterhand Literaturverlag, 2019

Übersetzung Zoë Beck

384 S., geb.

CHF 31.90. EUR 20.

 

 

 

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