FRONTPAGE

«Bücher helfen uns auch nicht weiter»

Von Evelyn Finger

In Essays, Reden und Gesprächen der letzten Jahre wendet sich Christa Wolf (1929 – 2011) den Werken von Schriftstellerkollegen und bildenden Künstlern zu. Sie schreibt über Thomas Manns Exil in Los Angeles, Schauplatz ihres Romans Stadt der Engel oder The Overcoat of Dr. Freud, über Paul Parins 90. Geburtstag, erzählt von den Aschebildern Günther Ueckers zu Tschernobyl und entwirft beim Nachdenken über den «blinden Fleck» eine kurze Mentalitätsgeschichte der Deutschen zur Literatur. Aus ihrem letzten Band «Rede, dass ich Dich sehe», postum erschienen, stammt das Gespräch der ZEIT-Redaktorin Evelyn Finger mit Christa Wolf von März 2011 über Japan und ihr neu aufgelegtes Tschernobyl-Buch «Der Störfall».

DIE ZEIT: Frau Wolf, gerade ist Ihre Tschernobyl-Erzählung «Der Störfall»von 1987 neu erschienen. Sie war nicht nur ein Erweckungsbuch für die Umweltbewegung, sondern auch ein dramatischer Höhepunkt Ihres literarischen Schreibens über das Zerstörerische unserer Zivilisation. Der Mensch als Naturkatastrophe: Fühlen Sie sich jetzt in Ihren Prognosen bestätigt?
Christa Wolf: Sie wissen ja, dass ich gezögert habe, mit Ihnen dieses Gespräch zu führen. Warum? Meine Hoffnung, dass das, was man nach so einer Katastrophe sagen kann, irgendetwas bewirkt, ist geschwunden. Damals nach Tschernobyl dachten viele: Es kann doch nicht so weitergehen wie bisher. Aber es ging weiter. Das deprimiert mich zutiefst. In Japan hat man über fünfzig Kernkraftwerke auf den Erdbebenboden gebaut. Dass ich vor weiteren Katastrophen gewarnt habe, darin drückte sich auch eine Hoffnung aus, am Ende doch nicht recht zu behalten.

 

ZEIT: Im Vorwort zum Störfall schreiben Sie über die Asche als Metapher der menschlichen Vergänglichkeit und über den Phönix als Sinnbild der Auferstehung und der Ewigkeit.
Wolf: Mein Vorwort bezieht sich auf die Aschebilder des Künstlers Günther Uecker, die in der Neuauflage des Störfalls zu sehen sind. Er hat damals, nach dem Reaktorunglück, Asche hergestellt und sich selber hineingelegt. Den menschlichen Abdruck reproduzierte er dann auf Bildern. Leider gewinnt das Buch nun eine Aktualität, die wir nicht zu fürchten wagten.

 

ZEIT: Wie fühlen Sie sich jetzt, als Kassandra- Ruferin der deutschen Literatur, wenn Sie vorm Fernseher sitzen und nach Japan blicken?
Wolf: Ich sehe mich nicht als Kassandra. Ich fühle mich wie alle anderen Menschen auch. Jeder, den man trifft, hat die Fernsehbilder gesehen und ist schockiert. Das Gefühl der Fassungslosigkeit und auch des Zorns hat sich so weit verbreitet, dass ich mich da nur einfügen kann.

 

ZEIT: Was war Mitte der Achtziger nach Tschernobyl anders?
Wolf: Damals geschah, was keiner erwartet hatte. Diesmal musste man eine Katastrophe für möglich halten. Und trotzdem ist man auf die Bilder nicht vorbereitet. Ich habe natürlich auch nicht 25 Jahre lang in Angst vor der Atomkatastrophe gelebt. Gerade kamen die neuesten Nachrichten aus Japan, dass nun schon drei Reaktoren von der Havarie betroffen sind, und ich frage mich, was, wenn Radioaktivität austritt, aus all den Menschen in diesem dicht besiedelten Gebiet werden soll. Und wer eigentlich den Umkreis der Evakuierung bestimmt. Und warum es ausgerechnet zwanzig Kilometer sind und nicht dreißig oder vierzig. All das bestärkt mich in meiner Meinung, dass die Technik nicht beherrschbar ist. Schon allein die Frage der Endlager: Wie kann man eine Technologie ausbauen, die strahlenden Abfall hervorbringt, für den es keine Lösung gibt? Das allein hätte doch Grund genug sein müssen, diese Atomenergie nicht zu nutzen. Wann lernen wir eigentlich, uns selbst zu beherrschen? Unsere maßlosen Bedürfnisse, die so viel Energie kosten?

 

ZEIT: Die Maßlosigkeit und das Selbstzerstörerische unser Gattung gehören zu Ihren großen Themen. Ist der Mensch eben doch nicht aufklärbar?
Wolf: Schon in den achtziger Jahren war das Ziel der Industriestaaten Wachstum, Wachstum, Wachstum. Jetzt haben wir uns endgültig in dem Widerspruch verfangen: Je bequemer wir leben, auch durch die massenhafte Herstellung zum Teil überflüssiger Industriewaren, desto näher kommen wir einer Zerstörung unserer Welt. Das ist vielleicht der Grund, warum ich noch öffentlich spreche: Wir müssen das Dilemma unserer Gesellschaft endlich diskutieren. Vielleicht bestärke ich andere Menschen.

 

ZEIT: Jetzt streiten die Ingenieure, ob man die Reaktoren in Japan für stärkere Erdbeben absichern müsste. Das Restrisiko bleibt aber dasselbe: die Zerstörung des Planeten. Wie haben Sie als Nicht-Ingenieurin den atomaren GAU recherchiert?
Wolf: Ich habe mir zum Beispiel Material besorgt über die Folgen von Radioaktivität für jene bedauernswerten Menschen, die verstrahlt worden sind. Man hat ja damals Helfer in das verseuchte Gebiet getrieben ohne jeden Schutz. Es war klar, dass sie nicht überleben. Ich denke andauernd daran, wie es diesmal für die Menschen sein wird. Gerade habe ich gehört, dass ein US-amerikanisches Schiff direkt durch eine radioaktive Wolke gefahren ist. Was da noch passieren mag: Ich verdränge das, ich versuche es mir nicht auszumalen und auch nicht darüber zu sprechen. Das ist beinahe schon Aberglauben.

 

ZEIT: Wie wäre einer Menschheit zu helfen, die aus ihren Fehlern nichts lernt?
Wolf: In Japan scheinen die Menschen unendlich technikgläubig zu sein. Man müsste sie fragen: Was ist eigentlich das Ziel unseres Daseins? Momentan wohl Profit, den wir in einem tödlichen Wettkampf zu erlangen versuchen. Die Utopien unserer Zeit treiben Monstren hervor. Aber das ist den meisten Menschen nicht bewusst, denn sie leben ja mitten in ihrer Zeit und können sich aus dem Hamsterrad des Fortschritts nicht lösen. Vielleicht kann ein Unglück wie dieses doch ein Nachdenken über andere mögliche Wege anstoßen. Aber wie soll man all die Menschen in eine andere Richtung lenken? Dafür reicht meine Fantasie nicht aus. Der Forscherdrang hat sich immer weiter in diese eine Richtung entwickelt: Was machbar ist, wird gemacht. Und wenn ein Land aus moralischen Gründen etwas nicht macht, macht es das andere. Und weil beide das voneinander wissen, machen sie weiter. Wir schaffen es einfach nicht, diese Entwicklung, die wir „Fortschritt“ nennen, zu bremsen.

 

ZEIT: Früher dachte man, dass die Literatur geeignet wäre, der Menschheit die Augen über sich selbst zu öffnen. Glauben Sie noch daran?
Wolf: Kaum. Alles was ich dazu sagen kann, würde sehr naiv klingen. Wenn ich zum Beispiel sage, dass ich mir statt eines zerstörerischen Wettlaufs eine solidarische Gesellschaft wünsche, weiß ich doch, wie lächerlich das auf einflussreiche Mächte wie die Atomlobby wirken muss. Die lachen sich über die Idee eines solidarischen Miteinanders krank.

 

ZEIT: Es gab und gibt aber friedliche Revolutionen, in denen kritische Intellektuelle eine wichtige Rolle spielen. Und es gibt neuerdings wieder Bürgerproteste in Deutschland.
Wolf: Na gut, ich will das Wort von der totalen Hoffnungslosigkeit ein bisschen einschränken. Denn ich habe gegen Ende der DDR gelernt, dass völlig Unerwartetes in der Geschichte möglich ist. Da bin ich ganz auf der Seite der protestierenden Bürger, die Unvernünftiges zurückweisen und produktiv Entscheidungen erzwingen wollen. Allerdings glaube ich, dass größere Menschenmassen eher nicht von der Ratio, sondern von ihren Wünschen und Instinkten angetrieben werden. Dem müsste man eine utopische Richtung geben. Da könnte Literatur noch etwas bewirken. Ich merke bei meinen Lesungen und an Briefen, dass es da ein großes Bedürfnis nach Orientierung gibt. Vielleicht kann aus kleineren Zirkeln, die sich jetzt sammeln, mit der Zeit doch ein Einfluss entstehen auf die größeren Zirkel der Welt.

 

ZEIT: Könnte es sein, dass Menschen schwer leben können, wenn am Horizont der Zukunft nichts ist als der Traum vom eigenen kleinen Glück?
Wolf: Wenn Sie Utopie als Lebensnotwendigkeit sehen, dann sind wir schon zwei. Literatur ist ja an sich utopisch: Sie schafft eine Realität aus dem Nichts, die sich als tragfähig erweisen soll – als neue Realität.

 

ZEIT: Ihre großen Romane wie Kassandra und Medea enden katastrophal. Würden Sie sich selber als Apokalyptikerin bezeichnen?
Wolf: Ganz im Gegenteil. Ich bin immer auf der Suche nach den kreativen Zügen in Menschen oder Figuren, auch wenn ich beschreibe, dass sie untergehen. Kassandra, Medea, Karoline von Günderode sind mir am liebsten, weil sie auf der Suche nach Zukunft sind.

 

ZEIT: Das sind aber alles gescheiterte Figuren.
Wolf: Ich habe einen anderen Begriff von Scheitern. Kassandra ist nicht gescheitert, sondern besiegt, vernichtet, getötet. Aber sie hat, ebenso wie Medea, das Ihrige getan, ist nicht stumm geblieben oder hat sich unterworfen. Wie wäre denn die Geschichte, wenn es solche Figuren nicht gegeben hätte? Trostlos! Wir müssen schon mutig sein.

 

ZEIT: Die mutigen Helfer jetzt in Japan, die sich ins Katastrophengebiet wagen: Wären das auch Figuren, über die Sie schreiben könnten?
Wolf: Das ist wirklich Sache von Reportern. Ich bewundere die, die in Japan noch Bericht erstatten und uns diese Bedrohung vermitteln und vielleicht dadurch etwas bewirken. Wir wollen sehen, was los ist. Das wäre nicht Sache der Literatur. Was ich zum Thema sagen konnte, habe ich im Störfall gesagt.

 

ZEIT: Zu Anfang des Buches geht es um Metaphern, die man nach dem GAU nicht mehr benutzen kann. Etwa, dass das Grün des Frühlings explodiert.
Wolf: Ja, damals habe ich auch geschrieben: Welcher Autor kann jetzt noch das Wort Wolke naiv verwenden? Wer will noch sagen: Wie herrlich leuchtet mir die Natur! Aber es hat sich gezeigt, dass man das sehr wohl weiter kann, weil das Schreckliche wieder vergessen wird. Jetzt, während ich die Bilder aus Japan sehe, denke ich überhaupt nicht an Dichtung. Ich empfinde einfach eine unheimliche Bedrückung, die mich bis in den Schlaf verfolgt.

 

ZEIT: Der letzte Satz von Störfall lautet: „Wie schwer würde es sein, von dieser Erde Abschied zu nehmen.“ Welches Gefühl überwiegt derzeit bei Ihnen: Angst oder Zorn?
Wolf: Trauer. Um diese unglücklichen Menschen und um unsere Erde, die eine tiefe Wunde empfangen hat.

Courtesy DIE ZEIT 23.03.2012

Christa Wolf
Rede, dass ich dich sehe
Essays, Reden, Gespräche
207 S., geb.
Suhrkamp Berlin 2012
CHF 28.50 / Euro 19.95 (D) / 20,60 € (A)
ISBN 978-3-518-42313-4

Christa Wolf wurde am 18. März 1929 in Landsberg an der Warthe als Christa Ihlenfeld geboren. zählte zu den bedeutendsten deutschen Schriftstellern ihrer Zeit, ihr Werk wurde in viele Sprachen übersetzt. Sie arbeitete als wissenschaftliche Mitarbeiterin beim Deutschen Schriftstellerverband und als Lektorin verschiedener Verlage sowie als Redakteurin bei der Zeitschrift „neue deutsche literatur“. Von 1955 bis 1977 war sie Mitglied im Vorstand des Schriftstellerverbandes der DDR. Seit 1962 war Christa Wolf freie Schriftstellerin und lebte von 1962 bis 1976 in Kleinmachnow, später in Berlin. Von 1963 bis 1967 war sie Kandidatin des ZK der SED und seit 1974 Mitglied der Akademie der Künste der DDR.
Bereits 1972 unternahm sie eine Reise nach Paris und wurde 1984 Mitglied der Europäischen Akademie der Wissenschaften und Künste in Paris. Zwei Jahre später trat sie der Freien Akademie der Künste in Hamburg bei. Da sie zu den Unterzeichnern des „offenen Briefes gegen die Ausbürgerung Wolf Biermanns“ gehörte, wurde sie 1976 aus dem Vorstand der Berliner Sektion des Schriftstellerverbandes der DDR ausgeschlossen und erhielt in einem SED-Parteiverfahren eine „strenge Rüge“. Wolf unternahm Lesereisen u.a. nach Schweden, Finnland, Frankreich und in die USA, wo sie das Ehrendoktorat der Ohio State University erhielt.
Ihre Werke wurden von der Kritik kontrovers aufgenommen, man warf ihr das Festhalten an der Utopie einer sozialistischen Gesellschaftsordnung vor. Ihren USA-Aufenthalt von 1992 verarbeitete Wolf in dem 2010 erschienenen Werk «Stadt der Engel oder The Overcoat of Dr. Freud». Sie reflektierte ihr Erleben der Nachwendezeit, ihre Verbundenheit zur sozialistischen Utopie und ihr Erschrecken vor den Auswirkungen des Kapitalismus wie dem Elend der Schwarzen und dem Ersten Irakkrieg. Christa Wolf starb am 1. Dezember 2011 in Berlin.

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