FRONTPAGE

«Chinas leere Mitte. Ökologie der Angst»

Von Ingrid Isermann

 

Was das Reich der Mitte ausmacht, hat man sich in China selbst wie auch ausserhalb Chinas seit Jahrhunderten immer wieder gefragt. Helwig Schmidt-Glintzer findet in seinem luziden und weitreichenden Essay die Antwort in der leeren Mitte und dass China für die globale Moderne möglicherweise besser gerüstet ist als Europa.

Ausgehend von dieser Prämisse leuchtet er zunächst die Identität dessen aus, was unter «China» zu verstehen ist, um dann die Ambivalenz der chinesischen Kultur gegenüber Herrschaftsansprüchen zu deuten und die Geschichte der chinesischen Staatlichkeit zu rekonstruieren. Vor diesem Hintergrund wird es möglich, manches Rätsel zu entschlüsseln, weshalb China dem Westen oft fremd erscheint. Doch möglicherweise ist China für die globale Moderne besser gerüstet ist als die meisten anderen Länder.
Mit dem Aufstieg Chinas ist immer deutlicher geworden, dass neben den USA inzwischen China die andere Weltmacht ist. Ob dies zu einer neuen Bipolarität führt, oder nicht doch ein Weg zu einer Multipolarität offen ist, ist derzeit ungewiss. Dass Amerika nicht mehr Garant der liberalen Weltordnung ist, wird spätestens seit der Präsidentschaft Donald Trumps deutlicher bewusst. Offenbar hat diese Einsicht mit dazu geführt, dass sich die Stimmen häufen, die eine Neupositionierung Europas gegenüber China anmahnen. Andererseits gelte es gerade, die zunehmende Bedeutung Chinas in allen Bereichen nicht im Modus der europäischen Vergangenheit als Expansion zu begreifen, man müsse vielmehr von Praktiken einer wirtschaftlich fundierten «pénétraion pacifique» sprechen. Dies wiederum führt zu einer neuen europäischen Selbstbestimmung, die gerade erst zu beginnen scheint. Zugleich aber gilt es, das vielbeschworene Selbstbild zu hinterfragen, wonach die Kultur Europas in zahlreichen Facetten einen gewaltfrei dominanten, im wörtlichen Sinne attraktiven Charakter entfaltet hat.

 

Solange die Diskurse nur auf die vermeintliche Überlegenheit des eigenen Systems starren, werden sie zwangsläufig die Vorzüge anderer Systeme bestreiten. Es ist Zeit, dass Europa sich nicht mehr auseinanderdividieren lässt. Die grösste Herausforderung für die Demokratien des Westens in den kommenden Jahrzehnten wird nicht Russland, es wird China sein.

 

 

Helwig Schmidt-Glintzer, 1948 geboren, ist Sinologe und war von 1993 bis 2015 Direktor der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel. Er ist Direktor des China Centrums Tübingen und veröffentlichte zuletzt «Biografie Mao Zedong. Es wird Kampf geben».

 

 

Helwig Schmidt-Glintzer
Chinas leere Mitte
Die Identität Chinas und die globale Moderne
Reihe: Fröhliche Wissenschaft Bd. 138
128 Seiten, Klappenbroschur
Matthes & Seitz, Berlin 2018
12 €
ISBN: 978-3-95757-633-0

 

 

 

«Ökologie der Angst»

Angst ist ein zentrales, zum Überleben notwendiges Gefühl. Wir alle kennen Angst in ihren unterschiedlichen Ausprägungen. Auch Tiere haben Angst, im Brennpunkt des Emotionslebens der meisten höheren Tiere steht die Angst vor dem Menschen. Jens Soentgen analysiert in seinem Essay naturwissenschaftliche Theorien.

 

Die Angst der Tiere kann man zwar nur von aussen beobachten, aber wir wissen aus eigener Erfahrung, was sie fühlen. Jens Soentgen nimmt die Angst als Ausgangspunkt einer Ökologie von innen und trägt damit einen entscheidenden Aspekt zur Ökologie des Anthropozäns bei. Seine These: Die Relationen zwischen Feind und Beute haben ein subjektives, emotionales und kognitives Moment, das ökologisch bedeutsam ist. Die Rolle des Feindes wird heute meist vom Menschen übernommen. Das weltweite Töten der Tiere durch den Menschen bewirkt nicht nur eine drastische Reduktion von Populationen, es verbreitet Angst unter den Überlebenden. Diese Angst verwandelt das Verhalten, die Fortpflanzung, die Nahrungsaufnahme und die Bewegung der Überlebenden. Soentgens Versuch ist auch ein Versuch über Möglichkeiten der Versöhnung: Angstminderung ist ein ebenso gut begründbares ethisches Gebot wie die Minderung von Schmerz.

 

 

Eine Ökologie der Subjekte
Im Geflecht der biologischen Wissenschaft nimmt die Ökologie neben der Evolutionstheorie eine zentrale Stellung ein, weil sie zum einen eine Gesamtsicht ermöglicht, zum anderen diejenige Theorie ist, die unmittelbar mit Fragen der Naturpolitik verbunden ist. Nicht umsonst gibt es eine politische Ökologie, eine sozial-ökonomische Forschung, die cultural ecology und die Humanökologie.

Die Ökologie ist eine Beziehungswissenschaft, heute wie vor 150 Jahren, als Ernst Haeckel den Begriff in seinem Werk Generelle Morphologie der Organismen prägte.
Der ökologische Naturbegriff, der die Natur als Biosphäre auffasst, also als Geflecht aller Ökosysteme und der in ihnen eingebundenen Medien, ist der wichtigste Naturbegriff der Gegenwart. Diese Natur ist gesetzmässig strukturiert und doch ein singuläres Phänomen im Kosmos. Es gibt zwar ungezählt viele Planeten im Universum, die Sonnen umkreisen, doch nie fand man bislang Anzeichen, dass einer dieser Planeten eine Biosphäre trägt. Diese Einsicht trug das späte 20. Jahrhundert zum modernen Naturbegriff hinzu; sie ist wesentlich, weil sie die Einzigartigkeit, die Unwiederbringlichkeit der Natur, unserer Natur, verdeutlicht. Bis Mitte der 1950er Jahre waren viele Naturwissenschaftler zuversichtlich, dass es irgendwo, in nicht allzu weiter Ferne auf anderen Planeten andere Biosphären geben könnte, und sie sprachen damit eine Überzeugung aus, die bereits in der Antike verbreitet war. Selbst Immanuel Kant beteiligte sich an den Spekulationen über das ausserirdische Leben. Heute hat sich längst Ernüchterung unter den Forschern breitgemacht. Komplexes Leben, eine komplex organisierte Biosphäre hat sich nach allem, was wir wissen, nur auf der Erde entwickelt und diese Einsicht macht die voranschreitende Naturzerstörung noch quälender.

 

Es geht nicht darum, eine angstfreie Natur zu schaffen, denn Angst ist ein biologisches Urphänomen. Wir haben aber die Möglichkeit, die chronische Angst der Wildtiere vor den Menschen einzudämmen. Wir können und sollen Verhältnisse schaffen, in denen Vertrauen zwischen Menschen und Tieren wachsen kann. Vertrauen, das einerseits emotional bewegende, bereichernde und beglückende Begegnungen mit Wildtieren in der Natur ermöglicht und Tiefe und Dichte des Naturerlebnisses steigert und andererseits für das Leben und Überleben der Tiere in einer menschengeprägten Welt wichtig ist, weil Tiere, deren Angst vor den Menschen gemildert wurde, auch menschennahe Habitate besiedeln können.

Wenn wir auf unsere Ängste zugehen, statt sie zu verdrängen, können wir wachsen. Auch auf wissenschaftlicher Ebene eröffnet die Angst wichtige Erkenntnisse, nicht nur in der Philosophie, sondern auch in der Biologie und besonders der Ökologie. Wenn es eine naturwissenschaftliche Theorie gibt, die als Platzhalter für eine allgemeine Theorie der Natur gelten könnte, dann ist es heute nicht mehr die Physik, deren Naturbegriff weiter, damit auch aber abstrakter gefasst ist. Es ist die Ökologie.

 

 

Jens Soentgen, 1967 in Bensberg geboren, ist Leiter des Wissenschaftszentrums Umwelt der Universität Augsburg und Adjunct Professor für Philosophie an der Memorial University of Newfoundland in St. John’s, Kanada.

 

 

Jens Soentgen
Ökologie der Angst
Reihe: Fröhliche Wissenschaft Bd. 117
160 Seiten, Klappenbroschur
Matthes & Seitz, Berlin 2018
14 €
ISBN: 978-3-95757-552-4

 

 

 

 

«In Badehosen nach Stalingrad: wo ist Roger Köppel – what happened?»

 

Roger Köppel ist so, wie er ist. Weil die Schweiz so ist, wie sie ist. Wie das? Wenn die Schreiber in den Medien zwischen Arroganz und Minderwertigkeitskomplex oszillieren, so ist das Roger Köppels Sache nicht. Er nennt sich selbst einen Eklektiker oder wahlweise auch Anarchisten, ein unbeschriebenes Blatt ist er jedenfalls nicht. Man weiss, was man an ihm hat, wenn man ihn in Talkshows einlädt. Wo er auftaucht, ist Widerspruch programmiert. Und doch hat ihm eine überraschende Mehrheit einen Nationalratssitz mit dem bisher besten Ergebnis der SVP beschert.

 

Nach Erscheinen der nicht autorisierten Biografie wurde er zu Talkshows eingeladen. Er hatte das Buch noch nicht gelesen. Ein geschickter Schachzug. So bleibt man cool. In einem Land, in dem lieber herumgeschwurbelt wird, redet er Klartext. Ungewohnt brillant, das konstatieren auch seine Kritiker. Hier ist die Luft dünn für intellektuelle Auseinandersetzungen, über die Parteidoktrin kommen sie selten hinaus. Man stösst sich an Köppels Unverfrorenheit und die Machos verschiedenster Couleur missgönnen ihm seine Resonanz und den Erfolg. So rief eine Künstlergruppe zur Aktion Ermordung Roger Köppels auf, die vom Theater Neumarkt unterstützt wurde und einen Sturm der Entrüstung entfachte. Bis vor Köppels Haus zog die Gruppe, das Theater bangte danach um die Subventionen. Das Vorgehen war der demokratischen Schweiz zutiefst zuwider.

 

Doch Verhärtung, die Köppel seitens der Medien vorgeworfen wird, ist
zumindest die Kehrseite der Medaille, werden doch oft Personen durch Medien verunglimpft oder unmöglich gemacht. Kleinkariertes Denken und Duckmäusertum prägen das Bild. Nicht für Köppel. Er macht Aussagen, die andere gegen ihn aufbringen (sollen). Und es bereitet ihm sichtlich Vergnügen auszuprobieren, wieweit er es noch treiben kann. Wieviel Kalkül dabei ist, darüber kann man spekulieren.
Rechtes Denken ist in der Schweiz beheimatet, was ist daran neu.
Gutmensch? Who cares? Ethik? Erfolg ist alles, die Banker zeigens vor.

Köppel geht nach Erfolg und Aufmerksamkeit. Übervater Blocher machts vor, wie man Erfolg hat. Köppels Seitenwechsel beunruhigt ihn selbst daher nicht. Nur sein verschmitztes Lächeln, das mitunter aus ihm herausbricht, wie die letzten Reste der Kindheit, und sein Lausbubengesicht verraten, dass er wohl selbst alles nicht so ernst nimmt. Wir sind in einem Land der freien Meinungsäusserung. Und es könnte ja auch alles ganz anders sein. Roger Köppel hat ein Faible für starke Männer, von Blocher zu Bannon, von Trump zu Orban. Ersatzväter? Das Patriarchat lebt!

Der Eindruck drängt sich auf, die deutsche Herkunft, Rhetorik und Durchsetzungskraft, lasse sich bei Blocher und Köppel nicht verleugnen, als ob Eingewanderte 200 Prozent beweisen müssen, dass sie echte Schweizer sind. So gross ist der Anpassungsdruck zur Konformität, sich zugehörig fühlen zu dürfen und die neue Heimat mit Haut und Haaren zu verinnerlichen. Dieser Drive erklärt manches Verhalten, das über dem schweizerischen Durchschnitt liegt. Ironie des Schicksals: Köppel lobt die «Genialität des Mittelmasses». Da liegt des Pudels Kern: Durchschnitt als Mass, Ignoranz als Staatsform, wie es schon Frisch kritisierte. Aus dem engen Korsett brechen die national gesinnten Geister aus, die sich mit dem Mittelmass nicht begnügen wollen und Grösseres vorhaben, und sei es die Gartentüre zu schliessen. Und sie finden ihre Gleichgesinnten.

 

Angst vor Verlust des Besitzstandes ist eine mächtige Motivation. Schon James Schwarzenbach hatte mit Überfremdungsinitiativen Erfolg, Christoph Blocher setzte diese Politik fort. Ausgerechnet er! Mit seiner Ems-Chemie heimste er Millionen Fördergelder von der EU ein und die Bilanz des Milliardärs zeigt, dass die grossen Gewinne im Ausland erwirtschaftet werden. Wie blöd muss man sein, um auf das Geschwafel gegen die EU und einen Rahmenvertrag  hereinzufallen?
Da braucht man natürlich Gehilfen, die die Botschaften unters Volk bringen, und Roger Köppel ist sich nicht zu schade, denn letztlich ist er ebenfalls Profiteur. Ohne Lobby und finanzstarke Förderer hätte er wohl kaum die «Weltwoche» erwerben können. Darüber
schweigt er. Aber sein Tatendrang und sein Enthusiasmus wollen in der ordnungsliebenden Schweiz befriedigt werden und so ist er mit Feuereifer für die SVP tätig und findet immer neue Argumente für die Sache der Rechten. Wir sind in einem freien Land, oder?

 

 

«In Badehosen nach Stalingrad. Der Weg von Roger Köppel» von Daniel Ryser orientiert über den familiären Hintergrund von Roger Köppel und seinen Werdegang als Journalist und Nationalrat, der 2006 durch den Kauf der «Weltwoche» Teil der medialen und politischen Elite der Schweiz wurde. Für die nicht autorisierte Biografie führte Daniel Ryser ausführliche Interviews mit früheren und heutigen Wegbegleitern und Vertrauten, von ehemaligen Klotener Schulfreunden bis zum Tessiner Milliardär und Financier Tito Tettamanti sowie mit Roger Köppel selbst. Eine schillernde Soap Opera der Medienwelt, süffig und gut geschrieben. Lesenswert!

 

 

Daniel Ryser
In Badehosen nach Stalingrad
Der Weg von Roger Köppel
Echtzeit-Verlag, 2018
Gebunden, 272 S., CHF 36.
www.echtzeit.ch

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