FRONTPAGE

«Christian Morgenstern: Poetische Galgenlieder»

Von Ingrid Isermann

 

Christian Morgenstern (1871-1914) war Journalist, Schriftsteller, Aphoristiker und Übersetzer. Mit seinen «Umwortungen der Worte» brachte er die Sprache zum Klingen. Noch kein Gedicht von Morgenstern gelesen? Dann wird es Zeit, hier ist nicht über allen Gipfeln Ruh‘, seine surreal-phantastischen «Galgenlieder» passen in jede Zeit, auch perfekt in die unsere. Neu erschienen bei Diogenes Zürich zum 100. Todestag.

 

«Der Flügelflagel gaustert durchs Wiruwaruholz. Der Zwölf-Elf hebt die linke Hand. Ein Knie geht einsam durch die Welt. Es ist ein Knie, sonst nichts. Das Mondschaf steht auf weiter Flur, es harrt und harrt der großen Schur, und Palmström reist, mit einem Herrn v. Korf, in ein sogenanntes Böhmisches Dorf».

 

Wie kaum ein anderer brachte Christian Morgenstern die Sprache zum Klingen in seinen »Umwortungen der Worte«, seinem humoristisch-heiteren »Spiel- und Ernst-Zeug«. Zuweilen verschlug es jedoch auch ihm, wie alle Humoristen und Lyriker ein Moralist und Melancholiker, die Sprache, wie im wohl berühmtesten wortlosen Gedicht aller Zeiten, einer Fortführung von Goethes ›Wandrers Nachtlied‹.

 

«Man lacht sich krumm, bewundert hinterher, ernster geworden, eine tiefe Lyrik, die nur im letzten Augenblick ins Spasshafte abgedreht ist – und merkt am Schluss, dass man einen philosophischen Satz gelernt hat», meinte Kurt Tucholsky.

 

Lass die Moleküle rasen,

was sie auch zusammenknobeln!

Lass das Tüfteln, lass das Hobeln,

heilig halte die Ekstasen!

 

 

 

Die Zeit

Es gibt ein sehr probates Mittel,

die Zeit zu halten am Schlawittel:

Man nimmt die Taschenuhr zur Hand

und folgt dem Zeiger unverwandt.

 

Sie geht so langsam dann, so brav

als wie ein wohlgezogen Schaf,

setzt Fuss vor Fuss so voll Manier

als wie ein Fräulein von Saint-Cyr.

 

Jedoch verträumst du dich ein Weilchen,

so rückt das züchtigliche Veilchen

mit Beinen wie der Vogel Strauss

und heimlich wie ein Puma aus.

 

Und wieder siehst du auf sie nieder;

ha, Elende! – Doch was ist das?

Unschuldig lächelnd macht sie wieder

die zierlichsten Sekunden-Pas.

 

 

Das Mondschaf

Das Mondschaf steht auf weiter Flur.

Es harrt und harrt der grossen Schur.

Das Mondschaf.

 

Das Mondschaf rupft sich einen Halm

und geht dann heim auf seine Alm.

Das Mondschaf.

 

Das Mondschaft spricht zu sich im Traum:

‚Ich bin des Weltalls dunkler Raum.‘

Das Mondschaf.

 

Das Mondschaf liegt am Morgen tot.

Sein Leib ist weiss, die Sonn‘ ist rot.

Das Mondschaf.

 

 

Geiss und Schleiche

Die Schleiche singt ihr Nachtgebet,

die Waldgeiss staunend vor ihr steht.

 

Die Waldgeiss schüttelt ihren Bart,

wie ein Magister hochgelahrt.

 

Sie weiss nicht, was die Schleiche singt

sie hört nur, dass es lieblich klingt.

 

Die Schleiche fällt in Schlaf alsbald.

Die Geiss geht sinnend durch den Wald.

 

 

                   Die Trichter

Zwei Trichter wandeln durch die Nacht.

Durch ihres Rumpfs verengten Schacht

             fliesst weisses Mondlicht

                  still und heiter

                      auf ihren

                      Waldweg

                            u.s.

                             w.

 

 

Eine illustre Biografie

Mitunter verfällt man der Illusion, dass Namen von gestern auch gestrig seien. Im Gegenteil, soviel pralles Leben sucht seinesgleichen. Folgen wir hier den Spuren Christian Morgensterns, 1871 in München geboren.  Sowohl der Vater Carl Ernst Morgenstern, als auch der Vater seiner Mutter Charlotte Morgenstern, waren Landschaftsmaler. 1881 starb seine Mutter an Tuberkulose, der zehnjährige Sohn hatte sich bei ihr angesteckt und zeitlebens würde ihn diese Krankheit verfolgen. Nach ihrem Tod wurde er seinem Paten Arnold Otto Meyer, einem Kunsthändler in Hamburg, anvertraut, ohne in der frühen Kindheit regelmässig am Schulunterricht teilzunehmen. Ein Jahr später kam er nach München in ein Internat. Der Vater heiratete erneut und wurde 1883 an die Königliche Kunstschule in Breslau berufen, wohin Christian mit ihm ging und das Maria-Magdalenen-Gymnasium besuchte.

 

 

Im frühen Alter von sechzehn Jahren begann er zu schreiben und beschäftigte sich mit Arthur Schopenhauer. Mit achtzehn lernte er auf dem Gymnasium Friedrich Kassler und Fritz Beblo kennen, mit denen ihn eine lebenslange Freundschaft verband. Ab Herbst 1889 besuchte Morgenstern eine Militär-Vorbildungsschule, da der gestrenge Vater eine Offizierslaufbahn für ihn vorgesehen hatte. Nach nur einem halben Jahr verliess er die Militärschule und besuchte ein Gymnasium in Sorau, wo die Freundschaft mit Marie Goettling begann, die später in die USA auswanderte, mit der er stets in Kontakt blieb, auch während seines Studiums der Nationalökonomie in Breslau. Hier gehörten Felix Dahn und Werner Sombart zu den bedeutendsten Dozenten. Mit Freunden gründete Morgenstern die Zeitschrift «Deutscher Geist» unter dem Motto: «Der kommt oft am weitesten, der nicht weiss, wohin er geht», einem Oliver Cromwell zugesprochenen Zitat. 1893 mit 22 Jahren entschied sich Morgenstern, nach dem Abbruch des Studiums, als Schriftsteller zu leben. Nach der dritten Heirat seines Vaters war das Verhältnis zu ihm gespannt.

 

 

Nietzsche, Strindberg, Ibsen, Hamsun

Im April 1894 zog Morgenstern nach Berlin, wo er eine Stellung an der Nationalgalerie fand. Er beschäftigte sich mit Friedrich Nietzsche und Paul de Lagarde und war für die Zeitschriften «Tägliche Rundschau» und «Freie Bühne» tätig, ausserdem schrieb er Beiträge für die Zeitschriften «Der Kunstwart» und «Der Zuschauer».

Im Frühjahr 1895 erschien das erste Buch des 24-Jährigen Christian Morgensterns, der Gedichtzyklus «In Phanta’s Schloss». Er bereiste anschliessend 1895/96 Helgoland, Sylt und Salzburg, übersetzte 1897 die autobiografischen Aufzeichnungen Inferno von August Strindberg und unterzeichnete einen Vertrag mit dem S. Fischer Verlag, der die Übersetzung von Werken Henrik Ibsens betraf, obwohl er die norwegische Sprache noch nicht beherrschte. Im Februar 1898 sollte «Das Fest auf Solhaug» fertig sein, von Mai bis Herbst 1897 bereiste Morgenstern Norwegen, um die Sprache zu erlernen, wobei er sich auch mehrmals mit Ibsen traf.

 

 

Rege Reisetätigkeit

1900 folgte eine Kur in Davos, anschliessend brach er auf zu Reisen an den Vierwaldstättersee, Zürich, Arosa, Mailand, Rapollo, Portofino, Florenz und Heidelberg. Im Dezember 1902 besuchte er Rom und kehrte Mai 1903 nach Berlin zurück. In dieser Zeit übersetzte er Knut Hamsun und Bjornstjerne Bjornson.

Ab 1903 wurde Morgenstern literarischer Lektor im Verlag von Bruno Cassirer, zuvor als Dramaturg bei Felix Bloch Erben. 1905 reiste er nach Wyk auf Föhr und absolvierte einen Sanatoriumsaufenthalt. Zudem erschienen in diesem Jahr mit 34 Jahren seine «Galgenlieder» und er las Dostojewski. Soweit zur Vorgeschichte der Galgenlieder, wo er aus dem reichen Fundus seiner Erfahrungen schöpfte. Ein Jahr später reiste er aus gesundheitlichen Gründen ins Gebirge u.a. nach Bad Tölz, Meran, San Vigilio und beschäftigte sich mit Jakob Böhme, Fechter, Fichte, Hegel, Eckhart von Hochheim, Fritz Mauthner, Spinoza und Tolstoi.

Im Juli 1908 lernte Morgenstern in Bad Dreikrichen Margareta Gosebruch von Liechtenstein kennen. Nach ihrer Abreise blieb er mit ihr in regem Briefverkehr. Als Margareta im Oktober erkrankte, fuhr Morgenstern zu ihr nach Freiburg im Breisgau. Im November zog Morgenstern wie auch Margareta nach Berlin.

 

Enger Kontakt zur Theosophie und Anthroposophie

Im Januar 1909 schloss Morgenstern bei den Berliner Vorträgen Rudolf Steiners mit ihm eine enge und dauerhafte Freundschaft. Um dessen Vorträge zu hören, reiste er nach Düsseldorf, Koblenz, Kassel und München. Im Mai trat er einen Monat nach Margareta der von Steiner geführten Deutschen Sektion der Theosophischen Gesellschaft bei. Bei der folgenden Spaltung der Gesellschaft 1912/13 blieb er auf der Seite Rudolf Steiners und wurde Mitglied der Anthroposophischen Gesellschaft. 1909 übersetzte Morgenstern auch Knut Hamsun, besuchte den Internationalen Kongress in Budapest und seinen Vater in Wolfshau, er reiste mit Margareta in den Schwarzwald und nach Obermais. Dort erkrankte er, vermutlich auch infolge der zahlreisen Reisen, an einer schweren Bronchitis. Sein Zustand verbesserte sich jedoch und so heiratete Morgenstern im Alter von 39 Jahren Margareta Gosebruch von Liechtenstein am 7. März 1910.

 

 

Italien und die Schweiz

Von Mai bis August 1910 hielt sich Christian Morgenstern in Bad Dürrenstein in den Dolomiten auf, bis er an einem Vortrag Rudolf Steiners in Bern teilnahm. Nach einem Aufenthalt in München reiste er im Oktober über Verona, Mailand und Genua nach Palermo und schliesslich nach Taormina. Anschliessend begann seine Zusammenarbeit mit dem Verleger Reinhard Piper, die bis zu seinem Lebensende anhielt. Eigentlich wollte Morgenstern mit Margareta ein halbes Jahr in Taormina verbringen, da er erneut schwer erkrankte, suchte er im Frühjahr 1911 das Deutsche Krankenhaus in Rom auf und wechselte danach in das Waldsanatorium Arosa, wo er seinen Vater und die Mutter Margaretes traf, die anfangs nicht mit der Ehe einverstanden gewesen war. Nach dem Aufenthalt im Sanatorium bezog er mit Margareta eine Wohnung in Arosa.

1912 erhielt Morgenstern eine Spende der Deutschen Schillerstiftung über 1000 Mark. Bald darauf wechselte er nach Davos, noch immer krank fuhr er mit Margareta nach Zürich, wo er Rudolf Steiner traf. Anschliessend kehrte er nach Arosa zurück. Ab Frühjahr 1913 hielt er sich in Portorose auf, wo er Gedichte Friedrich des Grossen aus dem Französischen übersetzte und Michael Bauer, der ebenfalls lungenkrank war, zum Freund gewann. In München konnten die Morgensterns ihren Arzt nicht erreichen, nach einem kurzen Aufenthalt in einem Sanatorium bei Bozen zog er in die Villa Helioburg in Meran-Untermais, wo er noch an dem Druckbogen der Sammlung «Wir fanden einen Pfad» arbeitete. An Michael Bauer hatte er geschrieben: «Jetzt liege ich wieder einmal darnieder und komme nicht in die Höhe… wir wollen zu Hartungen nach Meran». Bauer fuhr nach Meran zu Morgenstern, der mit 43 Jahren am 31. März 1914, gegen fünf Uhr morgens starb. Am 4. April 1914 wurde er in Basel eingeäschert. Die Urne hob Rudolf Steiner auf, bis sie im neuen Goetheanum aufgestellt wurde. Seit 1992 ist die Urne auf dem Goetheanum-Gelände in Dornach beigesetzt.

 

 

Rezeption

Nach seinem Tod gab seine Witwe Margareta Morgenstern zahlreiche seiner Werke heraus, die sie mit bisher unveröffentlichten Teilen des Nachlasses ergänzte, nur etwa die Hälfte seines Werks war zu Lebzeiten Morgensterns veröffentlicht worden. Seine ernste Dichtung fand nie die Resonanz, die sich Morgenstern erhofft hatte und blieb auch von der Forschung weitgehend unbeachtet. Einem grösseren Leserkreis bekannt wurde Morgenstern praktisch nur mit seiner humoristischen Dichtung. Morgensteins Gedichte wurden später von vielen Komponisten vertont und in zahlreiche Sprachen wie ins Englische, Französische, Hebräische, Italienische und Spanische übersetzt. Auch sind zahlreiche Werke Morgensterns auf Tonträgern erhältlich. Diverse Literaturrezensionen beschäftigen sich mit dem Werk Morgensterns. Inzwischen sind 35 Gedichtbände von Christian Morgenstern erschienen.

Besonders in den Galgenliedern entfaltete Morgenstern seinen liebenswürdigen, scharfsinnigen Sprachwitz. Zum geflügelten Wort wurde der Schluss des Gedichts Die unmögliche Tatsache (aus Palmström):

 

Und er kommt zu dem Ergebnis:

Nur ein Traum war das Erlebnis.

Weil, so schliesst er messerscharf,

nicht sein kann, was nicht sein darf.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Christian Morgenstern

Alle Galgenlieder
Galgenlieder / Palmström / Palma Kunkel / Der Gingganz

Diogenes Verlag Zürich, 2014

CHF  14.90

€ (D) 9.90 / (A) 10.20

ISBN 978-3-257-20400-1

 

 

Hörbuch:

«Die Mitternachtsmaus».

Christian Morgenstern, präsentiert von

Monica Bleibtreu & Uwe Ochsenknecht.

Patmos Verlag Düsseldorf, 2006.

ISBN 3-491-24123-5

 

 

Veranstaltungshinweise zum 100. Todestag:

Galgenbruders Erben

Duo MeierMoser & der Huber

Musikalisch-theatrale Hommage

sogar theater

13. bis 17. März 2014

www.sogar.ch

 

«Alle Dinge werden mir ein einzig Du»

Begegnung mit Christian Morgenstern

 

Kulturtagung 28.–30. März 2014 im Goetheanum Dornach

 

«In Nietzsches Werk begegnet Morgenstern den Abgründen der Zeit. Sein Blick auf die Welt ist wie eine fortwährende Suche nach der geistigen Natur des Menschen, und schon früh wird ihm Selbsterziehung eine unablässige Forderung. In Seelenstürmen erobert er sich die Innenschau des Mystikers; durch entbehrungsvolle Einsamkeit gehend, findet er langsam zu einer neuen, verwandelten Begegnung mit der Welt und dem anderen Menschen».

www.goetheanum.org

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