FRONTPAGE

«Die Kunst der Wislawa Szymborska»

Von Ingrid Isermann

 

Die Ingredienzen, die die Wirklichkeit ausmachen, sind die Zutaten zu Wislawa Szymborskas Gedichten – ein Kunststück, das ihr in mannigfaltigen Ausführungen gelungen ist. 1996 wurde sie mit dem Nobelpreis ausgezeichnet. Ihr erster Gedichtband durfte 1948 in Polen nicht veröffentlicht werden. Am 1. Februar 2012 ist die Dichterin mit 88 Jahren in Krakau verstorben. Nun sind im Nachlass die noch nicht publizierten frühen Gedichte aufgetaucht, die auch Aufschluss über ihre Stellung zum kommunistischen Regime geben sollen.

Wislawa Szymborska hat in ihren Gedichten die Welt betrachtet, so wie sie ihr begegnete und so, wie sie sich es auch anders hätte vorstellen können. Mit leiser Ironie nahm sie, sich selbst nicht ausnehmend, aufs Korn, was das Mensch-Allzumenschliche bewirkt, von kleinen und anderen Irrtümern der Zeit und der Zeitgeschichte, und sie fand mit ihrem lakonischen Ton eine grosse Anhängerschaft. Ihr unbestechlicher Blick stellte sich auch existentiell-metaphysischen Fragen, die über Ort und Zeit hinausgingen, ihre Freude am Schreiben feierte und die Wirklichkeit der literarischen Landschaft beschwor.

 

 

Ihre Inspirationen philosophischer Natur verbinden sich bei Szymborska auf heute seltene Weise mit Inspirationen aus naturwissenschaftlichen Quellen. Was sie zentral beschäftigt, ist die Menschheit als biologische Gattung, und zwar ihre Fremdheit, ihre Entfremdung und Abseitigkeit in der Welt. Gleichzeitig macht diese Poesie auf das feste zwischenmenschliche Band, auf die die Menschheit aller Epochen, plötzlich zusammengeballt in der Zeit, verbindende Gemeinsamkeit aufmerksam (aus dem Nachwort von Jerzy Kwiatkowski).

LAMPENFIEBER

Der Schriftsteller und die Dichter – heisst es allgemein.
Die Dichter sind also – keine Schriftsteller, sondern?
Die Dichter sind für die Dichtung. Die Schriftsteller für die
Prosa.
Prosa lässt alles zu, auch die Dichtung,
doch Dichtung nichts als Dichtung, heisst es.

Gemäss dem Aushang, der sie anzeigt
mit grossem D und Jugendstilgeschnörkel,
schön eingezeichnet in die Saiten einer beschwingten Lyra,
müsst ich den Saal befliegen eher als betreten
und besser barfuss als in diesem Schuhwerk aus der Kleinstadt,
das klopft und knarrt in unbeholfener Vertretung eines Engels.

Wäre mein Kleidchen schleppenhafter wenigstens, länger,
und kämen die Gedichte statt aus meiner Handtasche gleich aus
dem Ärmel,
zum Fest, zum grossen Läuten, zur Parade,
vom Bim zum Bam
ab ab ba.

Doch auf dem Podium lauert schon das Tischchen
fast spiritistich auf vergoldeten Beinchen,
und Kerzen qualmen darauf,
das heisst, ich soll bei Kerzenlicht lesen,
was ich unter der einfachen Birne
tipp tipp auf meiner Schreibmaschine tippte.

Ohne mir rechtzeitig darüber den Kopf zu zerbrechen,
wie diese Dichtung ist,
eine, in der die Prosa ungern gesehen wird,
eine, die in der Prosa gern gesehen wird,
und ob ich darauf Antwort geben kann
vor dem weinroten Vorhang
mit den violetten Fransen?

 

JAHRMARKT DER WUNDER

Ein Alltagswunder:
dass es so viele Alltagswunder gibt.

Ein gewöhnliches Wunder:
das Bellen unsichtbarer Hunde in einer stillen Nacht.

Ein Wunder von vielen:
eine kleine und flüchtige Wolke,
aber sie kann den grossen und harten Mond verschwinden
lassen.

Mehrere Wunder in einem:
eine Erle, die sich im Wasser spiegelt,
und dass sie von links nach rechts gewendet ist
und dass sie mit der Krone nach unten wächst
und überhaupt nicht bis auf den Grund reicht,
obwohl das Wasser seicht ist.

Ein Wunder an der Tagesordnung:
Recht schwache und milde Winde,
doch in der Sturmzeit böig.

Ein erstbestes Wunder:
Kühe sind Kühe.

Ein zweites, nicht geringeres:
dieser und kein anderer Garten
in diesem und keinem anderen Obstkern.

Ein Wunder ohne schwarzen Frack und Zylinder:
ausschwärmende weisse Tauben.

Ein Wunder, denn was sonst:
die Sonne ging heute um drei Uhr vierzehn auf
und sie wird untergehen null Uhr eins.

Ein Wunder, das nicht so verwundert, wie es sollte:
die Hand hat zwar weniger Finger als sechs,
dafür mehr als vier.

Ein Wunder, so weit man schauen kann:
die allgegenwärtige Welt.

Ein beiläufiges Wunder, beiläufig wie alles:
was undenkbar ist – ist denkbar.

Wislawa Szymborska
Hundert Freuden
Gedichte
Herausgegeben und übertragen von
Karl Dedecius
Mit einem Vorwort von
Elisabeth Borchers und einem
Nachwort von Jerzy Kwiatkowski
Suhrkamp Taschenbuch 2589,
1.Auflage dt. 1996.
Suhrkamp Verlag Berlin 2012
CHF 16.90
ISBN 978-3-518-39089-4

 

Wislawa Szymborska, 2. Juli 1923 in Posen – 1. Februar 2012 Krakau, die «Erste unter den Lyrikerinnen Polens» (Julian Przybos), studierte polnische Philologie und Soziologie. 1945 veröffentlichte sie ihr erstes Gedicht in einer polnischen Tageszeitung. Ihre ersten Gedichte 1948 wurden zensiert und durften nicht erscheinen. 1952 erschien ihr erster Gedichtband. 1991 erhielt sie den Goethepreis der Stadt Frankfurt am Main, 1995 den Herder-Preis. 1996 wurde sie mit dem Nobelpreis für Literatur ausgezeichnet – «für eine Poesie, die mit ironischer Präzision den historischen und biologischen Zusammenhang in Fragmenten menschlicher Wirklichkeit hervortreten lässt». In ihrem Nachlass wurden die frühen Gedichte gefunden und gegenwärtig zur Veröffentlichung bearbeitet.

«Hundert Freuden» enthält eine Auswahl aus ihrem Gesamtwerk von 1945 bis 1986. Ebenfalls im Suhrkamp Verlag sind erschienen: Auf Wiedersehen. Bis morgen. Gedichte (1995) und «Der Augenblick/Chwila. Gedichte (2005).

NACH OBEN

Lyrik