FRONTPAGE

Die Malerin Rosina Kuhn: «Bis unter die Haut»

Von Isolde Schaad

Da ist also eine, die will malen, zu einer Zeit, da die Kunstrichtungen sich verlaufen, verfasern in die Idee, die triumphiert über das Werk. Da will eine malen, jawohl, sogar gegenständlich, als sei der Malerei nichts geschehen im 20. Jahrhundert; als sei keiner gekommen und hätte sie auf ein schwarzes Quadrat reduziert, und ein anderer hätte ihr den Garaus gemacht. Sie malt uns ein Personal von blühender Integrität hin, als einen Entwurf der menschlichen Möglichkeit. Als die mit Verve erstellte Behauptung, dass der Mensch derzeit besser sei als sein gesellschaftliches Abbild.

Anwesend sind Zeitgenossen und Zeitgenossinnen. Männiglich und weiblich kreuzen auf in der Porträtserie 1988–1995. «Tout Zürich» posiert oder sitzt, sodass der aufrechte Gang noch im Sitzen ersichtlich ist. Da sind Töchter und Söhne aus bestem Hause zu sehen, als sei das Jahrhundert seit Manet und Degas auf einer mit Samt ausgelegten Rampe zur Zukunft geschritten, ohne Umschweife über die Brüche der Kunstgeschichte, in ein unverwüstliches Malglück hinein.

Und doch, da ist Gegenwart, akute Präsenz. Es ist nicht leicht zu erklären, wie sie zustande kommt. Einmal dies: Die menschliche Figur ist nicht die Alternative zum Gegenstand, sie ist autonom und tritt malerisch sozusagen als Single auf, ohne Insignien der Saison und ausserhalb einer Mode.

Du sollst dir ein Bildnis machen ohne erkennungsdienstliche Pflicht: Rosina Kuhn malt Bilder, die den Menschen zum Thema haben, und nennt sie Porträts. Rosina Kuhn will sich ein Bildnis machen, um das Menschenbild zu rehabilitieren, in aller Form und gegen den Kunstbetrieb. Sie will das Porträt als einen geradezu anthropologischen Affront – setzt die Würde des Individuums gegen den hurtigen technischen Bluff und das digitale Getöse der Szene. Als wäre das Menschenbild noch zu retten mit jeder anständig erfassten Einzelperson.

Das hat mit Nostalgie nichts zu tun, gar keine Frage, ob Malerei noch zeitgemäss sei, es schert sie einen Deut, dass sie als rückständig gelten mag, denn sie malt so, als sei sie für die Malerei hier und heute persönlich zuständig. Die Kunst des Farbauftrags könnte nämlich durchaus nochmals von vorn beginnen und die Abstraktion neu erfinden. Punkt und Linie zur Fläche: Zu weiterer Erkenntnis hat es der Peinture im letzten Jahrhundert ja nicht gereicht. Das ist dieser Malerin nicht genug, wie ihr überhaupt nichts genug ist in ihrer Schaffenswut, ihrem glühenden Impetus, der auf der Leinwand bedeutend mehr vorhat; was heisst mehr? Alles will sie, alles wollen und können und machen will sie.

Malen, was ihr unter die Augen kommt, den Tisch mit den Malutensilien, Köpfe, Gesichter, Landschaften und Personen entfesseln, ein Angesicht malen, damit es im Ozeanischen der Farbe aufgeht. Dann eine kurze Pause, nur einen Atemzug lang irgendwo anders hinschauen, und wieder von neuem ans Werk, in diesen satanischen Limbo, in diese Himmelshölle der Malerei; jetzt Rücken malen, den Rumpf, Lendenstücke und Torsi malen, als hätte es nie einen Chaim Soutine gegeben. Den Alltag anrichten mit der Palette, und immer wieder das Menschenganze. Als Blume des Bösen, Strunk des Guten, als Schauensfrucht und keineswegs als Allegorie oder gar Ikone der Philantropie. Die Welt ist ein Füllhorn, du musst nur hinsehen. Dort drüben zum Beispiel geht eine alte Frau zum Kiosk, in einer Haltung, die unbedingt gemalt werden muss, diese unnachahmliche und unverwechselbare Statur muss unbedingt sofort gemalt werden, und dieser Bub da, der juckt, der entzückt alle Pinsel mit seinem Himmelfahrtsblick.

Ihre Gier nach dem Konterfei: Da blitzt noch etwas von dem Frevel auf, der das Porträt einmal gewesen ist. Der blasphemische Akt der Menschenverherrlichung. Das Bildnis des Bürgers hat erst die Renaissance zugelassen. Das erste autonome Porträt der europäischen Malerei hängt im Louvre und zeigt den französischen König Jean le Bon als Individuum. Es hängt dort, wo Rosina Kuhn als Kind das Staunen gelernt hat, am Altar der alten Meister, da steht sie mit dem Vater vor Paolo Uccellos Schlachtengetümmel, und der Vater sagt, schau diese Heere, der Rhythmus der Beine, der Speere, abstrakt, schau, das ist abstrakt.

Die Kunstgeschichte zeigt bis tief in unser Jahrhundert, dass die Porträtmalerei ein eigenes Anliegen hat, denn die Erfindung der Fotografie hat sie nicht ersetzt oder getilgt. Das Porträt der Malerei hat sämtliche Epochen nach der Moderne beschäftigt, von Frida Kahlo über Andy Warhol bis zu Arnulf Rainer. Etwas vom Brio der Popkunst ist in Rosinas Porträts enthalten, es dreht dem bestandenen Malen die Nase, verunglimpft die Perspektive, dehnt, stopft oder schrumpft Glieder, den Kopf und die Beine, jeden Verdacht auf einen Akademismus muss sie vereiteln. Die Wirkung der Popkunst auf die mittlere Generation hält an. Dieser Andy, der Ende der Sechziger über dem Säntis und dem Jungfraujoch erschienen war, sein Stigma am weissen Leib entblösst, und mit bleicher Stimme ins Schweizer Mittelland hinuntergesagt hatte, yeah, anybody can do it, so do it, Rosina, sodass die Schweizer Kunst der mittleren Generation übers Wasser wer weiss wohin aufbrach. Sie ist ihm nach New York gefolgt.

Die postfeministische, die junge amerikanische oder angelsächsische Kunst zeigt jetzt den Menschen als Labor-Produkt, als Geschlechtsfragment oder als Monstrum des Marketings. Bei Helen Chadwick oder den Bad Girls ist das Pin-up bereits gentechnisiert. In der neueren Fotografie erscheint das Porträt in der Kälte des Auges, als Arrangement von Körperteilen, bei Cindy Sherman monströs. Oder als Body Design bei Fotografen, etwa Helmut Newton. Die an der Epidermis endende Identität erzeugt dann eine perfekte Leere, fast möchte ich sagen, das sei Revolveraesthetik, wenn die Person dermassen im Griff des Künstlers ist: Der Künstler als Täter.

Dagegen tritt nun eine Mutter zur Verteidigung der Leinwandpersönlichkeit an, ihre Porträts sind ihre Kinder, Freuden- und Sorgenkinder, die gegen die Verheerungen der Gegenwartskunst zu verteidigen sind, altmodisch mit Farbe und Pinsel. Rosina Kuhn übt den Beruf der Malerin aus, und wenn ein Bild missrät, stellt sie es beiseite, um es dann immer wieder vorzunehmen, in der Wohnung oder im Atelier, in diesem Gehöft von Leinwandpersonen, in dem sie lebt. Sie arbeitet in Schüben von Energien, besessen, kraftvoll und gleichzeitig leichthändig, unglaublich sicher, geradezu virtuos greift sie mit beiden Händen ins Geschehen. Man wird als Modell mitten aus dem Leben gerissen, und landet im Verkehrsknotenpunkt von Biografien. Und ist Teilnehmerin geworden, wenn es heisst: Die nächste, bitte!

Ein Leben in einem Gesicht darstellen. Oder in einem Rücken, in einer Schulter und ihrer substanziell herausmodellierten Binnenstruktur. Destillate von Malkultur, und wenn man sie – polemisch- als Epigonin vergangener Grösse sieht, so ist ihr selbst diese denunziatorische Sicht völlig egal. Im Gegenteil, das würde bedeuten, Kenntnis zu nehmen von Stilepochen, und was wäre Stil denn anderes als das Wissen vom Können, ein Zeugnisablegen vom Studium der Tradition, und wo anders hätte sie ihr Métier denn lernen können als in der Malerei selbst?

Wenn man im Kleinstadtmuseum von Olten steht, wo vor dem Bodenfenster die Einkaufsgesellschaft vorbeizirkuliert, wird man gleichzeitig zur Betrachterin und zur Betrachteten. Das ergibt einen erhellenden Gedankengang zum Porträt als sozialer Kategorie. Was mir die Ausstellung klarmacht: Die Fotografie friert den Augenblick ein, aber die Malerei erinnert an ihn, es kommt mir vor, als sei ihr Drang nach Mimesis durch nichts zu ersetzen: Rosina spricht fast süchtig von ihren Porträts. Dieser Menschenhunger, der Kommunikation meint, Zwiesprache und Wegzehrung.

Das ergibt keine Stillleben mit Haut und Frisur, wie es die Porträts des Empire und Postklassizismus sind; ich denke an Ingres‘ perfekte Rückenakte und dann natürlich an Vallotton. Diese Makellosigkeit, malpflegerisch angerichtet wie eine Delikatesse, und nichts für den feministischen Blick. Die Porträts solcher Meister zeigen den physischen Sachverhalt. Rosina Kuhn will etwas anderes. Sie will die essenzielle Persönlichkeit.

In Zürich sitzen ihr auch entfernte Bekannte, sodass sie sich den Feind aneignen kann, ihn befrieden. Das Bild muss Gegenseitigkeit enthalten, Ebenbürtigkeit von Malerin und Modell, die auch antagonistisch sein kann, aber immer so, dass die Bereitschaft, gemalt zu werden, aus dem Bild spricht.

Man spürt, Rosina Kuhn lebt aus dem Kollektivgeist der Siebzigerjahre, es ist eine Grosszügigkeit des Teilens und Mitteilens um sie.

*

Du wirst also von einer wissenden Frau gemalt und breitest dich beim zweiten Mal schon behaglicher aus, zur Inspizierung und Diagnose. Die Schwellenangst hat sich gelegt, Rosinas Pinsel ist keine Fuchtel und keine Schere, sondern die Verlängerung eines grossen tragfähigen Armes mit fünf geschmeidigen Linsen und einer Faust.

Fürs Erste ist dann das Resultat nicht nach meinem Geschmack.

Diese Wehmutsverflossenheit im Gesicht, und dann dieses Hosengebäude. Oben Greco und unten Botero, – wenn ich mich selber länger betrachte, in Rosinas Hohlspiegel-Auge, Rosinas Fischauge, Rosinas Zyklopenauge, während Rosina in der Küche hantiert, sehe ich, was sie vorhat. Sie will die Repräsentanz meiner Person.

Das wird sich alles fortlaufend ändern. Das Endgültige wird sie mir erst nach der unwiderruflich letzten Sitzung antun.

Wir betrachten zusammen das Bild. Behutsam, in schüchterner Frauenverschworenheit, wir kennen uns nicht allzu gut.

 

Eins weiss ich, sie ist loyal. Sie hat als Porträtistin keinen Karikaturblick wie etwa Varlin, der dann über ein Gesicht verfügt und einen Menschen zurichtet wie einen Gottharddurchstich. Ich werde kein Opfer ihrer Pinselaustreibung und fühle mich entsprechend harmlos. Sie suche, sagt sie, den Zwischenraum von Déjà-vu und Noch-nicht der Person. Das Bild wird nie fertig, sondern hört irgendwann einmal auf. Es ist seiner Eigendynamik gefolgt und kommt eines Tages zu einem Schluss. Der Schluss ist nur unter Umständen das Ziel gewesen.

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Natürlich muss man sein Leben verdienen, und so ist man Lehrerin an der Schule geworden, an jener Schule, die einen hervorgebracht hat und aus der fast alle Schweizer Kunst kam. Grosse Pädagogen hat sie gehabt, hat das Pädagogische nie verleugnet, und dabei bleibt es: Schweizer Kunst kommt aus der Schule, und die Schule ist ein Hort der Begabung und ein Hindernis der Vision.

 

Will man die Schweizer Kunst auf den Nenner bringen, auf den Stand höchsten Mittelmasses, und das durchaus positiv verstehen im Sinne der Qualität, die aus dem Geist der guten Form kommt – eine Kunst also, die Perfektion durch Risikolosigkeit schafft –, so müsste man von dieser Künstlerin annehmen, dass sie die Schule hasst. Doch Rosina Kuhn hat das Unterrichten nie als Hemmnis für ihre Kunst empfunden, ihr Temperament hat von vornherein vom Odium der Schule entlastet. Ein Temperament, das auf dem Höhepunkt der Revolte, die sogar Zürich ergriff, in die Welt hinausschrie: «Di ganz Wält möcht ich aamaale!»

 

Rosina Kuhn ist die Tochter von Künstlern, von Adolf und Lissy Funk, er Maler, sie Webkünstlerin. 1940 in Zürich geboren, in Zürich gross geworden, zur Schule gegangen, Maturität gemacht, dann, Elternverdikt, Künstlerverdikt, das Zeichenlehrerpatent hinter sich gebracht. Damit sie endlich, endlich zum Malen kommt. Sie kann früh ausstellen, hat Erfolg, heiratet, macht Reisen, lebt in einer der ersten progressiven Hausgemeinschaften, bekommt einen Sohn und ein Stipendium für einen Loft in New York. Es ist 1976, und die Zeiten sind hochgemut, sogar in der Stadt Zwinglis, die Welt steht im Zenith ihrer totalen Erneuerung, und Rosina Kuhn macht den grossen transatlantischen Schritt. Die Frauenbewegung proklamiert das Ende der Penetration, und Rosina Kuhn hebt vom Alten Kontinent ab.

 

New York. Hochzeit, Höchstzeit der Malerei. Der Freundeskreis auf Besuch ist vom Fach und applaudiert. Prunkende Embleme für ihre Grossstadt-Kunst: Anmut und Grazie, sagt Alex; Farbfelder, sichtbare Musik, sagt Christoph; wild explodierende Bouquets, atmende Farbmelodien und zärtliche Wolkenkissen, sagt Bice; im Regenbogenstrauss dieser Mallust … aus jeder neuen Gegenwart geboren … das nimmer fixierbare, vorbeiquirlende Leben der Lebendigen, sagt Guido, der angehende Vizedirektor des Zürcher Kunsthauses, über die Malerin Kuhn in New York. Und das Crescendo hält an, aber sie weiss, es wird verebben, wenn sie zurückkommt, nach Zürich, weil man das Nahe in der Ferne verklärt; noch steht sie in Lob eingehüllt zuoberst auf der Treppe von Soho. Rosina, die Absolute, weiss, es werden härtere Zeiten kommen, in Zürich, wie schon die junge Bachmann in ihrem Gedicht gewusst hat. In der Jugend gelingt einem etwas, was man nie wiederholen kann, sagt Rosina. Zwanzig Jahre später klingt das, als sei eben ein Kranz an der Türe abgegeben worden.

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Man kann sich einen Anspruch vom Leibe halten durch Freundlichkeiten, das ist ihr mittlerweile bewusst. Der Mensch ist allein und begehrend, wie Freud gesagt hat, der nicht hat freundlich sein können mit ihr. Der Cafard gehört dazu. Die Vision des Unwiederholbaren ist, kann sein die Sprungkante, die den Malakt auslöst, der wie eine Springflut hereinbricht. Und dann mit allen Pinseln hinein in die zu sprengende Fläche, Papier oder Holz oder Karton oder Leinwand, das ist in diesem Moment schnuppe. Das muss schnell gehen, muss Null Komma plötzlich passieren, keine Rede von einem horror vacui bei dieser Malerin, ihr Malen ist immer Action painting.

 

Diese uralte Sehnsucht in der zerspringenden Brust der Rosina; nun hat sie innen befriedet, sozusagen geerdet, was früher schonungslos aussen lag, blutig und roh wie eine Leber: die Seele. Sie spricht davon in einer leisen Fatalität, in einer Lebensergebenheit, die die Stimme ganz dunkel macht, dann flüsternd, als wolle sie Zeugnis ablegen vor einer grossen Instanz. Die sie nie ganz erhaschte, von der sie nie ganz gewusst hat, wer das war. Gott war es nicht, es sei denn, der Gott der unerreichbaren Schönheit, jenseits von Narziss und Adonis, die sind ihr Eigen-Verhängnis genug. Vielleicht ist es, schlage ich vor, der unbekannte Liebessoldat, oder die männliche Muse, als reine Hingebung an die Peinture? Wahrscheinlich, vermute ich, ist es jemand im Umfeld der Nabis und ganz nahe bei Paula Modersohn-Becker. Das könnte sein. Aber womöglich ist diese Instanz doch der Vater gewesen.

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Der Blick ist das Schwerste, den Blick zu malen, der Blick ist nackter als die Scham, vor dem Blick scheut man sich, sowohl das Modell, das ich bin, scheut sich, als auch die Malerin, denn sie will an mir nicht diese Gefrässigkeit von Malergenies praktizieren, sodass ich zur weiblichen Nippsache gerinne. So meide ich zunächst ihre Augen und gebe die Absicht bekannt, ins Grüne zu blinzeln. Im Halbprofil bin ich geschützter. Irrtum, nun droht erst recht Kollisionsgefahr, nun bin ich in der Zone der beidseitig gewetzten Pupille. Das kann sich zu einem Augenkampf entwickeln und zu einer dramatischen Leinwandaffäre. Dabei kann man durchaus ins geschliffene Messer des Geschmacklichen laufen und, im schlimmsten Stadium, in der Schlinge der Konvention umkommen, sodass man ausschmückt, statt zu malen. Damit muss gerechnet werden, um im geglückten Fall den grössenwahnsinnigen Anspruch zu erfüllen, das Ganze als das Wahre eines Menschen darzustellen.

 

Die jungen Männer da, diese Darlings kommen dann wie gerufen aus der Unschuld heraus auf die Leinwand. Wie auf einen Pinselpfiff stehen die da. Sie vertreten den Sohn, der erwartungsgemäss am schwersten darzustellen ist. Das ist eine Beziehungsfrage, und so fühlt man sich mit Jünglingen am unverfänglichsten, wenn man nicht ihre Mutter ist. Der Paul hat einen kostbaren Geist, der hochkant aus der Person winkt, der Kurt hat einen Malefiz-Blick, der sich eben ein Geständnis verkneift. Serge ist auch so ein Herzbub. Das sind leuchtende leichte Momente des Porträts. Das ist der gelungene Leinwandflirt, die getupfte, gefiederte Impression.

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Rosina Kuhn hat nicht die weibliche Selbsterforschung zum Thema gemacht und keinen feministischen Blick verselbstständigen wollen, wie er in der Kunst von Frauen seit den Siebzigerjahren zutage trat. Sie hat die anderen Frauen gemalt. Sie wählte die möglichen Schwestern und Töchter als Gegenüber. In der Oltener Ausstellung gab es einen Raum der geballten Frauengeschichte. Da hingen weibliche Köpfe wie abgehangene Schicksale. Trotz, Trauer und Auflehnung, auch Haltung wie auf dem Laufsteg des Scheiterns. Bis tief hinter die Miene versickerte Hoffnung. Die generelle Enttäuschung bis auf den Grund und Boden der Leinwand sichtbar gemacht.

 

Frau K. sitzt beautiful da als trüge sie zusätzlich ein Make-up über dem Ölgemälde. Beine hübsch parallel, Hände manikürt, ein Leben in Party-Stellung. Benachbart, übers Eck hockt eine Verstörung, die Hände im Schoss, alle Farbe aus dem Charakter gewichen, die Haut dünn geworden ums Schlüsselbein. Hier sitzt das Ergebnis des Aufbruchs der Frauen, erloschen, und das Dasein legt sich als gräulicher Mull um die eingesunkenen Schultern, einer von ihnen wurde sichtlich Blut abgezapft. Mehr vermögen Malerin und Modell nicht über diese Sache mit der Frauenbefreiung in Zürich zu sagen. In diesem Raum ist die soziale Konsequenz festgefahren. Diese Frauen der mittleren Jahre ertragen das kleine Format, sagt die Malerin, denn da kommt konzentriertes Empfinden aus einem Zentrum, während die Männer das grosse Format beanspruchen müssen, und auch da pflichte ich bei: Die grossen Männer sprengen das Kleinformat, die Erfolgsphysiognomie grosser Männer hat keinen Platz im kleinen Rahmen. Das Bildnis des Erfolgs braucht Umschwung im Leben wie auf der Leinwand.

 

Mein Gesicht wahren möchte ich schon. Ich pflanze mich also von Neuem aufs gelbgemusterte Sofa, während mich Rosina wieder beschaut. Und diesmal scheint sie gar nicht mit der Arbeit an mir beginnen zu wollen, und ich fürchte, heute sei kein Fortkommen mit der Fron des Sitzens. Als ich mich entsprechend äussere, fixiert mich durchdringend der Kontrollblick und spricht: Diese Jeans da sind nichts für dich, du bist zu arm darin, körperarm, du musst etwas anderes tragen. Sie verpasst mir schliesslich ein senfgrünes T-Shirt und dazu prunkblaue Pluderhosen. Sie will mich ausstatten. Porträtiert werden heisst auch Farbe bekennen.

 

Die Lebensentzündung, das Leben. Ein Wert an sich, das Lebendige als das Ganze, das Überhaupt und An-und-für-Sich. Rosina holt das Wort tief aus dem Gaumen und in ihren Augen schimmert der Jungmädchentraum: die Weltumarmung durch Malerei. Den hat sie nie aufgegeben und diese Ekstase-Emphase tritt jetzt noch ein, wenn sie etwas ergreift, eine Musik, ein Mensch. Zuletzt war das ein junges nomadisches Weibsbild, in das sie ihre eigene verschüttete Wildheit hineingoss, sie sei begraben worden in der Erziehung von Zürich, in der alles verpönt war, was Lust macht. Jetzt wird diese Entdeckung malerisch zu einer Fanfare, zu einem Abenteuer mit ihrem anderen ungeborenen Ich, und diese fremde Schöne, die ihr Modell sitzt, einer rabiaten Ophelia gleich, wächst über das Porträtformat hinaus und wird eine einzige Gesichtslandschaft, aus dem Grundwasser steigend eine Persona, die Anima der Rosina als Lebensfarbstrom. Das ist die Geschichte einer Leinwandliebe in siebzehn Bildern. Und das ist das Schreckliche, das Furchtbare an einer Porträtserie und der Personenbindung, die dadurch entsteht: Du musst den Abschied aushalten können.

*

Rosina hat einen Kopf mit zwei hellen Lukarnen, Rosina hat die nordische Lichtheit von der Mutter im Hirn und hinter der Stirn, wo es denkt. Unten im Körper wird es südlich maternal, da kocht es und strudelt, da steckt die grosse, gastfreundliche Ungeschürztheit. Das Leben ist eine Katastrophe mit Glücksverrenkungen, die die Gesellschaft für Entgleisungen hält, sodass eine wie sie immer daneben sitzt. Schon in der Tanzstundenzeit und in Stöckelschuhen stellt sie sich vor, es könnte der Zukünftige ihr das Malen verbieten. Grauenhaft.

 

Unerträglich.

Manchmal, revidiert Rosina, und sinnt hinaus in die Dämmerung, die vor dem hohen Fenster steht. Die ist nun sehr blau geworden, so blau,

wie das Bild jener Maid, die an Balthus gemahnt, nur vorgeblich Ballettratte unterm Theatervorhang, gleichsam der Knicks, die Einladung in die Ausstellung. Diese Bengelin, ihre Schülerin.«Das finden alle so scheusslich, das Bild». In diesem Satz ist wieder die eigene missratene Mädchenblüte anwesend, die sich das Weite gewünscht hat und einen Raum, unbesetzten, unermesslichen Raum. Die Mutter hat die Familie mit Sticken durchbringen müssen, mit Nähen aufrechterhalten. Raumnot schafft keine Nähe, sie schafft die innere Emigration.

 

Die Stadtwohnung an der Kappelergasse kommt mir fast wienerisch vor in der grossbürgerlichen Dimensionierung. Garderobenständer voller Kleider, die auf den Auftritt warten. Überall ihre grossen Formate, alles wie ein Aufbruch zu grossen Durchquerungen und Transporten. Barockfreuden und Erinnerung an die vergangene Kunst des Geniessens. Die Aquarell-Pinsel hängen wie rares Wild in der offenen Schrankvitrine. Zeichnungen und funkelnde Funde auf den Gesimsen, Möbel, Objekte und Gerätschaften wie aus versunkener Jagdzeit; ich ertappe mich dabei, insgeheim nach einem ausgestopften Fasan Ausschau zu halten. Zumindest müsste eine Fruchtschale mit Äpfeln von Cézanne da sein.

 

Bei Rosina wird aufgetischt, nachgedacht, betrachtet und kontempliert. Das Gespräch erlaubt Pausen, die Wohlbefinden erzeugen, und die Katze springt auf den Tisch und das Telefon klingelt und der Wassertopf sirrt. Manchmal hebt sie einen Satz auf und nimmt ein Wort daraus an die Brust, um es zu wiegen, und dann kommt Rosina, die Mutter, zum Vorschein, die sorgend auf die Umgebung blickt, und dann hält sie an und schaut inwendig nach, wo alles bewahrt ist.

 

Das ist ein Schicksal, dem nicht zu entgehen war, darin das Wunderbare geschah und darin das Furchtbare geschah. Das Wunderbare: mit dem Vater Bilder betrachten, stundenlang, wortlos; er war keiner, der redete. Zum Beispiel Sinnieren über die Rotflächen bei Nicolas de Staël.

 

Die Vatertochter nimmt kaum wahr, dass in ihrer weltoffenen Häuslichkeit keine Malerinnen auftauchen, denn in diesem Künstlerhaushalt sind Degas oder Matisse nur zufällig Männer. Sie wird Malerin, weil sie keine Tänzerin ist. Wie die Mutter, die bei Mary Wigman tanzte und die ihre widerspenstige Tochter gern zu einer Zürich-Dame hätte dressieren wollen, als eine Deutsche von draussen unter Anpassungsdruck. Die Fantasien der Tochter müssen gedrosselt oder umgetopft werden. Da stehen sie immer noch, wie grosse Kulissen im Wohnen und Leben, die Träume von üppig bestallten Häusern, kathedralenhoch und weiss wie die Segel auf See. Sie können bleiben. Als Ausstattungsstücke für die Bühne der Vorstellungskraft.

 

Es ist zum Ersticken gewesen in der Wohnung im Seefeld, vorne der malende Vater und hinten die Mutter mit ihren Stickerinnen; sie, Rosina und der jüngere Bruder mit der Haushaltshilfe zusammen in ein Zimmer gepfercht. Den unersättlichen Superlativ unterdrücken. Raum sparen, Nahrung sparen, Stoff sparen, Gefühle sparen, und die ewige Geldnot. Du musst die Kleider der Kusine tragen und das Brot derer essen, die daneben sind.

 

Wie ich das kenne, sag‘ ich.

Könnte es sein, dass die Raumnot der Jugend das Lebensthema ergeben hat? Der lebenslängliche Kampf um den richtigen Abstand, zur Person, zum Nächsten, zum Übernächsten, zur Gesellschaft, zum Thema, zum Stoff: Das Studium von Nähe und Distanzierung, was das Porträt auch ist?

*

Lucian Freud kennt keine Hemmschwelle vor dem Modell.

 

Die Feststellung fällt wie ein Apfel vom Baum. Und ich spüre, die Zeit ist reif, um zum Eigentlichen vorzudringen.

 

Das ist die Malerei, die sie erfüllt, begeistert, ergreift, von der sie spricht mit einer Intensität, die man verschlucken muss, hier, in der Coolness, wo alles Schöpferische zum Design gefriert. Zürich bringt zwar Originale hervor, sagt Rosina, zum Beispiel Fischli/Weiss, und dann das Heer eines genialischen Mitläufertums. Dieses atemlose Hinterher und Adabei der Kunstpeople von Zürich.

 

Sie steht rasch auf, holt die Monografie und legt dann das Bild des Menschen als offenes Buch auf den Tisch.

Lucian Freud und das unheilige Fleisch ohne Erbarmen des Herrn, das geht unter die Haut. Wir beugen uns beide über diese bare, den Begriff Akt hohnsprechende Nacktheit.

Jede Stelle des Körpers, sagt Rosina, durchlitten, mit Meisterschaft durchgestanden in einer einzigen Pinselfuhr von oben rechts nach unten links.

Das Wort liegt auf der Zunge, ich wage nicht, es auszusprechen, ich weiss, es passt nicht zur Stimmung. Ohnehin glaube ich die Erwiderung zu kennen. Kitsch, das ist nur die Ausrede für die fehlende Hingabe. Aber, sage ich laut, aus Furcht vor der Bildfrömmigkeit, die aufkommen könnte, solche Unmittelbarkeit gedeiht nur im Grossstadtbiotop, wo die soziale Kontrolle entfällt.

 

Ich weiss insgeheim, und sie wird es bestätigen, ihr grosses Vorhaben bleibt der

Akt. Das Antlitz des Körpers.

Lucian Freud und die schonungslose Auslieferung des Leibes.

«Wenn ich etwas so Konsequentes zustande brächte», sagt sie. Ohne Seufzen kommt das, aus der innersten Mitte des Wollens.

Sie hält ihn für den grössten Realisten des 20. Jahrhunderts.

Dieser vergewaltigte und gleichzeitig opferwillige Leibesacker. Das Menschentier. Und das Frauengeschlecht, die Frauennot wie eine Offenbarung gemalt, und die Armut in die Haut gegerbt, und die Unentrinnbarkeit des Geschöpfs eingeschlitzt wie eine offene Gesellschaftswunde.

Ich sehe diesen Freud-Enkel, diesen amerikanischen Engländer, wie zum ersten Mal und bin fast erstaunt, dass ich ihn bisher für einen überkommenen, ziemlich sentimentalen Finsterling gehalten habe. Das meint sie also, wenn sie von der Konsequenz der malerischen Ausführung spricht.

Ich ziehe, sage ich, Francis Bacon vor, er ist moderner, er übersetzt das Animalische. Stille tritt ein. Schliesslich sagt sie verhalten:

«Lucian Freud ist näher beim Menschen, beim Menschlichen. Schau, diese mit der Könnerschaft zusammenflutendepersönliche Inbrunst. Ohne Umweg und ohne Ausweg übers Lavieren, bei ihm gibts kein Schummeln, das sich als Abstraktion ausgibt». So zu malen sei bei uns nie möglich geworden.

 

Rosina Kuhn spricht bitter von Zürich: Bei uns konnte der Realismus sich nicht entfalten, damals. Franz Gertsch habe einen Anfang gemacht. Doch dann musste der gepainteten Gesellschaftskritik noch ein Hut aufgesetzt werden, da durfte man keinen Baum als Baum malen und keinen Teich mit sterbenden Fischen und keinen Verkehrsunfall mit abgerissenen Kinderarmen, ohne den Kommentar hineinzustanzen. Die Alphütte als Alphütte gemalt, das wäre als reaktionär verlacht worden, und deshalb musste man das Wohlverhalten als ideelle Überhöhung tarnen, um Abstand zu nehmen vom eigenen Puls. Tief verstaut die Einsicht, dass das schonungslos wirklichkeitsnahe, also das erotische Malen hier nicht geht, nicht in Zürich, nicht in Deutschland, nicht im engen Europa, da gibt es zu viele gesellschaftliche Tabus, die einen Realismus abschreiben, weil sie ihn in seiner wahrhaftigen Härte nicht ertragen. Was damals bei Egon Schiele in Wien hätte beginnen können, wurde Formalismus. Die Kunst ist jetzt ein Produkt unter anderen in einer alles beherrschenden Produktegestaltung.

 

Da bleibt nur der Einzelgang in der Nacht mit ihren Sternschnuppen und Leuchtfeuern. Für eine wie sie. Im Übrigen lohnt es sich, noch ein paar gute Bilder zu malen.

 

Rosina Kuhn:
Ein Leben lang Malerin.
Hrsg. Guido Magnaguagno.
Verlag Benteli, Zürich 2011.
204 S., 146 farbige Abb., 53 s/w-Abb.
22 x 28 cm, deutsch.
Mit Texten von Dieter Bachmann, Bice Curiger,
Christoph Kuhn, Isolde Schaad, Alex Sadkowsky,
Paul Tanner.
Leinenband mit Schutzumschlag und Banderole.
CHF 68.-
ISBN: 978-3-7165-1697-3

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