FRONTPAGE

«Durs Grünbein: Koloss im Nebel»

Von Ingrid Isermann

 

Es kann sein, dass Ihnen ein Gedicht von Durs Grünbein en passant schon begegnet ist… in einer Zeitung, in einem Bücherstapel in einer Buchhandlung, aber es ist eher nicht ein Gegenstand, den Leute sonst beim Shoppen mitnehmen oder anpeilen. Und doch, wenn man ein Gedicht in die Hand nimmt, bekommt es ein Gesicht… und auf einmal befindet man sich in einem anderen Land.

Gedichte sind imaginäre Gemälde, aber Gemälde in Aktion. Der Entstehungsprozess des Bildes ist bei ihnen das Bild selbst, hat Durs Grünbein einmal selbst gesagt. Sein neuer Gedichtband folgt dem Plan wie einer grossen Ausstellung. In sieben Abschnitten werden Arbeiten aus den letzten Jahren präsentiert.

 

Das Titelgedicht widmet sich der griechischen Meereswelt. Doch Vertrautes erscheint in entrückter Form. Nichts ist real: Berlin ist im Umbruch, das heutige Rom erscheint im Spiegel des alten Weltreiches, das Mittelmeer als antike Wiege Europas, das Amerika der Phantasmen, die atlantische Ankunft nach einer Ost-West-Passage, die Surrealismen der barocken Welt.

 

Momentaufnahmen und Exkursionen

Es sind Momentaufnahmen verschiedener Landschaften und Städte, Exkursionen in den verborgenen Alltag, Selbstporträts und Historienbilder, Studien von Liebe und Sexualleben.

Und was ist das für ein Koloss im Nebel? Hat es etwas mit dem Koloss von Rhodos zu tun?
Wir werden sehen.

 

 

Koloss im Nebel

1
Ganz sicher weiss ich nicht mehr, wann es war,
Dass wir das Schiff bestiegen, einen Klapperkahn von Fähre.
Die fleckig weisse Bordwand seh ich noch, das Ankerloch, ein Maul,
Aus dem in Stössen rostig rote Brühe troff, als die Maschine anzog.
Die Kette rasselte, Kommandos schallten über das Hafenbecken
(…)
Ein trüber Sud war es, dies eingesperrte Meer. Ägäis,
Das klang nach Ärgernissen, älteren Gefahren, Dissonanz.
Weindunkel, purpurn, traubenfarben: von den Epitheta, die Homer
Den schattenlosen Flächen gab, den thalassalen Aufmarschstrassen
Zu jenem Korridor von Zypern bis Mallorca, blieb hier wenig mehr
Als ein sonores Grau, der Einheitston präziser Hochseekarten.
Es war, als hätte Zeitungsdruck sich der Natur bemächtigt
Und alle Odysseen unter sich begraben in gebändigter Grisaille.
(…)
Nur blieb die Route, die wir nahmen rätselhaft. Warum,
Warum der Zickzackkurs durch diesen ältesten der Archipele?
(..)
Man hielt auf Inseln zu, die kleiner wurden, wenn man näher kam.
Von Ferne dicht besiedelt, war ihr Ufer kahl, ein Trockenstreifen,
Sobald wir längsseits drehten und verschwanden. Von den Namen
Behielt man kaum die letzte Silbe, ein Kometenschweif
Von einer Feuerstelle, einst berühmt, Exil für den und jenen.
Von Kommunisten war die Rede, invaliden Kriegern, Eremiten
Und von Propheten, die kein Rom ertrug, Jerusalem und kein Athen.
„Da vorn ist Delos“, sagte einer. „Holy shit“, rief jemand in das Grau.
„Ich sehe nichts.Und wo liegt Patmos? Weiss das jemand, bitte?“

Patmos lag anderswo, in einer andern Zone – bei Atlantis und Palau,
Ein Endzeitort, den nur die Dichter kannten. Nicht die bitterarme
Sporaden-Insel vor den Toren Asiens, die ein kalter Ostwind schliff.
(…)

Niemand war vorbereitet auf den Zwischenfall.
Da war die Ahnung mancher Wintertage, grimmig kalt hier,
Und jeder hatte sein Gefühl. Wer aber konnte seinen Augen trauen?
Kurz vor der Hafeneinfahrt wars, dass sich aus dichtem Nebel uns
Ein Streifen Land entgegenschob, der Rücken einer Sandbank oder
Der Rest von einer Mole aus antiker Zeit. Man sah das Algenhaar,
Wild aufgewühlt vom Wellengang der Fähre, sah Medusen strudeln
Dicht unterhalb der Bordwand in den schwarzen Wassern.Dann
Fuhren wir langsam ein in eine Schattenzone, halbe Sonnenfinsternis.
Etwas Gewaltiges, gemessen an den Säulenschäften, schräg verankert,
Zog alle Blicke aufwärts, dorthin, wo in grosser Höhe, wie es schien,
Die Konstruktion zusammenstrebte als ein kolossales Schenkelpaar.
Von oben ging ein himbeerfarbenes schwaches Licht aus, das pulsierte
Wie nie ein Leuchtturmfeuer, Sternenstrahl, kein Pentagramm.
(…)
Man sah die Ginsterbüsche auf den Hügeln, weisse Häuserwürfel, Esel.
Erinnern kann ich mich an Tintenfische auf der Leine, die Tentakeln
Entlang der Uferpromenade schaukelnd. An die kleine Pyramide
Am Kai, ein Häuflein Steine, wohl ein Werk von Kinderhand.

 

 

Interieur mit Eule I

Mond scheint ins Zimmer. Nichts ist real.
Jeder Augenblick unergründlich, die Welt
Kolossales Echo im Labyrinth der Sinne.
In der Hand eine Münze – mein Talisman.
Siebzehn Gramm Silber, reines Symbol.
Eule, erleuchte mich, öffne die Augen.
Tier auf der Tetradrachme aus Attika, hilf.

 

Eine Metawelt wird hier erkundet, Sublimes begegnet dem Populären, die Schauplätze der Liebe mit ihrem trügerischen Augenblicksglück. In Grünbeins Dichtung stehen innere und äussere Welt als Polaritäten in einem fruchtbaren Spannungsverhältnis, die das authentische Lebensgefühl ausmachen und Fragen stellt nach der Imagination und wie sie unser Bewusstsein verändern könnte.

 

 

Durs Grünbeim, geboren 1962 in Dresden, lebt seit 1985 in
Berlin; neben anderen Auszeichnungen erhielt er 1995 den
Georg-Büchner-Preis, 2004 den Friedrich-Nietzsche-Preis,
2005 den Friedrich-Hölderlin-Preis, 2006 in Italien den
Pasolini-Preis, 2012 in Schweden den Tomas-Tranströmer-
Preis.

 

 

Durs Grünbein
Koloss im Nebel
226 S., gebunden mit Schutzumschlag
Suhrkamp Verlag Berlin 2012
CHF 35.50. Euro 25.00.
ISBN 978-3-518-42316-5

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