FRONTPAGE

Editorial Nr. 92

Editorial Nr. 92

November/Dezember 2021

 

Liebe Kunstinteressierte, Freundinnen und Freunde,
herzlich willkommen auf Literatur & Kunst!

 

Der Herbst im bunten Blätterkleid zeigt seine ganze Pracht und wir präsentieren Ihnen unsere November/Dezember-Ausgabe von Literatur & Kunst als bunten Strauss von Anregungen und Inspirationen! Lassen Sie sich überraschen.
 
Premiere für Deutschland: Die Ampelkoaliton SPD/Grüne/FDP!
So geräuschlos verlief noch selten eine Machtübernahme nach 16 Jahren mit Angela Merkel als Kanzlerin der grossen Koalition CDU/CSU mit der SPD. Nun hat es die SPD ganz an die Spitze geschafft und stellt den Bundeskanzler. Und der heisst seit dem 8. Dezember 2021 Olaf Scholz! Jawohl, und dazu gibt es erstmals eine Ampelkoalition mit den Grünen, Vizekanzler und Klimaminister Robert Habeck und Aussenministerin Annalena Baerbock, sowie FDP-Chef Christian Lindner, der das gewichtige Finanzministerium von Olaf Scholz übernimmt. Eine Rochade, die nach Aufbruch klingt, den die drei Parteien jetzt wahr werden lassen wollen. Eine Überraschung ist der neue Gesundheitsminister Karl Lauterbach, bestens bekannt aus den Talkshows als Warner in der Pandemiewüste, der nun das Land aus dem Coronatief herausführen soll. Die neue Führungsgarde, paritätisch mit acht Frauen und acht Männern besetzt, wurde von der neuen Bundestagspräsidentin Bärbel Bas souverän vereidigt. Olaf Scholz, unprätentiös und uneitel, nahm die Ernennungsurkunde von Bundespräsident Frank Walter Steinmeier entgegen. Mit dieser Koalition verbinden sich nun viele Hoffnungen und für die Schweiz hofft man, dass etwas von diesem Aufbruch und frischen jungen Politikern auch auf die Schweiz und ihre festgefahrenen Positionen abfärben möge. Und sei es, ein bisschen mehr Mut zum Risiko eines Rahmenvertrages mit der EU.
9. Dezember 2021 Ingrid Isermann

 

«Die Ampel steht!»

Das verkündete der designierte deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz an der gestrigen Pressekonferenz, wo die Ampel-Koalition aus SPD, Grünen und FDP ihren Koalitionsvertrag vorstellte. Vizekanzler wird Robert Habeck, der das Amt ursprünglich angestrebt hatte, Aussenministerin Annalena Baerbock von den Grünen. Christian Lindner, FDP, bekommt das Finanzministerium, wie gewünscht. Alles in Butter? Wenn da nur die schlimme Pandemie nicht wäre… Ansonsten kann man nur gratulieren und alles Gute wünschen bis zum endgültigen Vertragsabschluss. Und dann sollte kurz nach dem 6. Dezember, wo sich ja alle was vom Nikolaus wünschen dürfen, zur Tat geschritten werden. Denn dass Deutschland einen Aufbruch braucht, dürfte allen klar sein, Unkenrufen von hier und dort zum Trotz. Die Ärmel aufkrempeln und frisch ans Werk gehen!
25. November 2021
 
 
Wann waren Sie zuletzt im Kunsthaus? Und schon im Erweiterungsbau?

Schauen Sie sich den Chipperfield-Bau an, von oben bis unten, es lohnt sich (siehe auch Beitrag Rubrik Architektur Kunsthaus Zürich). Und das nicht nur wegen der Bührle-Sammlung, aber auch, die soviele Schlagzeilen im In- und Ausland lieferte über den umstrittenen Mäzen, der in Kriegszeiten diese Sammlung aus meist jüdischem Besitz aufbauen konnte, mit dem Geld, das er durch Waffengeschäfte an die Nazis und später mit der ganzen Welt machte. Ein Waffenhändler, der Zwangsarbeiter zwang, für ihn zu arbeiten. Empörend, wohl wahr. Was den Historiker Erich Keller zu seinem Buch «Das kontaminierte Museum» veranlasste. Kontaminiert ist genauer gesagt nicht das Museum, sondern allenfalls die Sammlung Bührle. Und sollte man sie nun nicht mehr zeigen? Oder nur noch mulmige Gefühle dabei haben? Schuldgefühle, die eher dem kompromisslosen Waffenhandel geschuldet wären? Die Bilder stehen für sich, sie sind unschuldig. Der Hintergrund ist es nicht. Ein Minenfeld. Wie ist es damit in der Gegenwart? Was machen heutige Waffenhändler in der Schweiz? Wohin liefern sie? Wen töten die Waffen? Und was ist mit den alltäglichen antisemitischen und rassistischen Vorfällen, auch in der Schweiz, die dabei keine Insel ist? Wo sind dann die energischen Stimmen, die dagegen halten? In der Presse oft kaum eine Zeile wert und von den meisten kaum beachtet. Wie hängt das zusammen?
Wenn man das eine kritisiert, sollte man das andere nicht ausser Acht lassen.
Denn es ist wahrlich komplex.
Ihre Ingrid Isermann
 

 

Nachsatz zur Kontroverse um den Erweiterungsbau und die Provenienz der umstrittenen Bührle-Sammlung.
Ja, das neue Chipperfield-Kunsthaus wirkt wie ein Finanzministerium, es ist ja auch ein Tresor mit millionenfachen Werten, die gut und einbruchssicher geschützt sein wollen. Was die umstrittene Sammlung anbetrifft, – wo erneut Kritiker in der Presse eine Kommission für die Herkunftsforschung fordern -, täte die Familie Bührle gut daran, dem Kunsthaus ihre Bilder als Schenkung statt als huldvolle Leihgabe für 20 Jahre zu überlassen. sozusagen als grosszügige Geste einer Wiedergutmachung. Denn nur so ist auch gewährleistet, dass Werke, die unter Kunstraub oder Fluchterwerb fallen, in einem unbegrenzten Zeitraum ausfindig gemacht werden können. Es wäre eine faire Lösung für alle Beteiligten.
9. November 2021 

 

Die Unsichtbaren
In der Schweiz leben etwa Hunderttauschend Menschen ohne Papiere, die «Sans Papiers», sie sind aus ihrem Heimatland geflohen, aus Diktaturen, aus Unterdrückung und Gewalt, um hier ein besseres Leben in Frieden führen zu können, aber im Untergrund. Denn Aussicht auf eine Arbeits- und Aufenthaltsbewilligung besteht kaum, nur in sog. Härtefällen. Diese ermöglichten es bisher etwa 10.000 Menschen in der Romandie, eine Aufenthaltsbewilligung zu bekommen, im Kanton Zürich waren es bisher gesamthaft nur 30. Ein krasser Gegensatz, der politisch motiviert ist. Die SVP und Teile der FDP machen mobil gegen ein humanes Menschenrecht, die Initiativen der SVP gegen die Überfremdung bis hin zum Abbruch eines Rahmenvertrages mit der EU tun ihr übriges, um die Situation ständig anzuheizen.

Im Kosmos versammelten sich am 30. Oktober zu einer Buchvernissage die Fotografin Ursula Markus und die Journalistin Tanja Polli im vollbesetzten Saal, um über ihr Buch «Die Unsichtbaren» zu informieren, Schicksale vorzustellen, die erschüttern, manche auch mit Happy end. Einige, die es geschafft haben, traten auch auf die Bühne. Und man fragt sich, wieso gibt es keine Initiativen, den Sans Papiers, die jahrzehntelang hier arbeiten, nicht eine Aufenthaltsbewilligung zu geben? Sie schaden niemandem, sie nützen der Volkswirtschaft und tragen zum Wohlstand bei. Dem Staat entgehen durch die Schwarzarbeit Millionen Franken an Steuern.

Die Unsichtbaren, Ursula Markus, Fotografie, Tanja Polli,
Texte. Rotpunktverlag, Zürich 2021.

 
 
Annäherungen an Niklaus Meienberg («Zürich liest» 30. Oktober 2021)

Warum beschäftigt ein Journalist wie Niklaus Meienberg immer noch die Schweiz bzw. die Medien? Im September 2023 jährt sich sein 30. Todestag.
Im „Karl der Grosse“ sassen die Journalistin Margrit Sprecher und der Schriftsteller Daniel de Roulet auf dem Podium und sprachen im vollen Saal über den umstrittenen Autoren, der immer noch bewegt. Könnte man heute noch so schreiben, so subjektiv und engagiert? Nein, meinte Margrit Sprecher, die Zeiten sind vorbei, es gilt Faktencheck in Zeiten der Fake News, was sicher langweiliger als spannendes story telling ist, wie es Meienberg, gewürzt mit Helvetismen, einführte. Ein unverkennbarer Sprachstil, den viele versuchten, zu kopieren. Aber das story telling ist heute durch Journalisten, die die Wahrheit mit Stories, die unwahr waren, in Verruf brachten, nicht mehr à la mode. Wahr ist jedoch, dass Meienberg eher ein Schriftsteller und Dichter war als ein Journalist, was ihm viele Neider einbrachte. Zudem war er ein Einzelkämpfer, wie meist Persönlichkeiten, und eckte damit an. Als er sich von Geheimdiensten verfolgt fühlte, und über den Golfkrieg eigene Meinungen hatte, wurde es den Redaktionen, auch der WOZ zuviel, wo er schrieb (der Tages-Anzeiger hatte ihm schon für 10 Jahre Schreibverbot wegen eines kritischen Artikel zu Hans-Adam von Liechtenstein auferlegt, ziemlich absurd).
Meienberg geriet mehr und mehr ins Abseits, von den vielen vermeintlichen Freunden und Bewunderern war niemand mehr da, den Absturz aufzufangen. Er war zu mächtig gewesen und seine sensible Seite hatte man nicht wahrnehmen wollen. Sich von der Willkür der Meinungen anderer unabhängig zu machen, schaffte er nicht. Sein Intermezzo beim „Stern“ dauerte nicht lange, er war nicht an bundesrepublikanischen Intrigen interessiert. Er liebte Paris und die Schweiz, trotz allem. Als sein Gedichtband in der NZZ verrissen wurde, war das ein weiterer Todesstoss. Niklaus Meienberg nahm sich mit 53 Jahren 1993 das Leben.
Vielleicht wird seine Grösse und die fast dokumentarischen Reportagen über die Schweiz auch erst von Historikern zu einem späteren Zeitpunkt entdeckt.
 
«Da und döt» – Das Geschwurbel der FDP in der Samstagsrundschau Radio SRF1

Zur EU und zum gescheiterten Rahmenabkommen muss man den neuen FDP-Chef Thierry Burkart nicht befragen, das ist für ihn Geschichte und der richtige Entschluss des Bundesrates, weil es keine Volksmehrheit gegeben hätte. Netter Versuch, aber woher will er das wissen? Das Volk hat schon dreimal Ja gesagt zu den Bilateralen. Und die neue Initiative der Grünen und der Libero-Organisation, den Bundesrat via Volksinitiative zu zwingen, einen neuen Vorschlag zur EU auszuarbeiten, weil sonst nichts geht, ist für ihn unnötig, sogar Quatsch. Der Bundesrat benötige Zeit für die Verhandlungen. Die hat er nun seit 2014 reichlich gehabt und sich nicht vom Fleck bewegt. Burkarts Beschönigungen, dass man mit der EU den bilateralen Weg weitergehen will, ohne jedoch irgendeine klare Aussage zu machen, wie, ist mehr als unglaubwürdig. Anscheinend hält sich die FDP nun an die stärkere SVP, obwohl diese sie bis aufs Hemd ausgezogen hat und die einstmals stolze Gründerpartei zu einer kleinen Partei degradierte. Burkart gibt zu, dass er nie zu den EU-Befürwortern gehörte und schweift ab, dass die Schweiz nicht nur wegen der EU, sondern auch wegen anderer Handelsbeziehungen so gut dastehe. Da ist kein Fortkommen. Selbstgefällig und stur, erinnert es an die Treichler von der SVP. Aber wo sind die Kühe? Die geben nämlich Milch und tun etwas für die Volkswirtschaft. Dummes Gerede hilft nichts.
Die Schweiz wird zunehmend seltsam und immer seltsamer. Wo ihre Interessen liegen, sollte das Volk bestimmen, nur hat es hier gar nichts zu sagen. Das ist autoritär, fast traditonell, retro auf jeden Fall und bringt uns nicht weiter. Das Volk soll mitbestimmen, der Souverän!
Insofern ist eine Inititiative, die dem SVP-gesteuerten Bundesrat Beine macht, mehr als nötig und willkommen.
6. November 2021   Ingrid Isermann

 

 

Was können Sie im November/Dezember auf Literatur & Kunst entdecken?

 

Colin Whitehead (*1969 in New York) ist der Star der amerikanischen Literaturszene. Nach dem National Book Award gewann er als erster Autor zweimal den Pulitzer-Preis hintereinander für Belletristik. Sein mitreissender Roman versetzt uns in die atmosphärische Dichte des New York der 60er Jahre: «Harlem Shuffle», Carl Hanser Verlag, München 2021.

 

Jonathan Franzen (*1959, lebt in Santa Cruz, Kalifornien) erhielt für seinen Bestseller «Die Korrekturen» 2001 den National Book Award und u.a. 2013 für sein Gesamtwerk den WELT-Literaturpreis. Seine Familiensaga über kulturelle Umbrüche anfangs der 70er Jahre ist eine unterhaltsame und spannende gesellschaftliche Studie. «Crossroads», Rowohlt Verlag, Hamburg 2021.

 

Patricia Highsmith müssen wir Ihnen nicht vorstellen. Sie war schon mehrmals zu Gast auf Literatur & Kunst. Nun sind verdankenswerterweise ihre «Tage- und Notizbücher» im Diogenes Verlag, Zürich 2021 erschienen, die Einblicke in ihre Lebens- und Zeitgeschichte geben.
 

Françoise Gilot «Leben mit Picasso» ist vom Diogenes Verlag 2021 neu aufgelegt und erfreut sich anhaltenden Interesses. Wer aus erster Hand mehr über Picassos Wirken erfahren möchte, findet in diesem Taschenbuch eine Fundgrube.

 

«Unter Orangen» des Lyrikers Norbert Lange (*1978) vertreibt garantiert den November Blues. Matthes & Seitz, Berlin 2021.

 

Annette von Droste-Hülshoff lernen Sie kennen als «Dichterin zwischen den Feuern», Südverlag, Konstanz 2021. Eine spannende Romanbiografie von Maria Regina Kaiser.

 

Nicolas Party (*1960 in Lausanne, lebt und arbeitet in New York) ist ein Geheimtipp. Seine erste Ausstellung in Europa findet in der Schweiz im MASI, Lugano statt. «Rovine», Scheidegger & Spiess, Zürich 2021.

 

Max Bill,  retrospektive Ausstellung im Zentrum Paul Klee. «max bill global. Ein Künstler als Brückenbauer», Scheidegger & Spiess, Zürich 2021.

 

Meret Oppenheim, grosse Ausstellung im Kunstmuseum Bern «Meret Oppenheim. mon exposition» und im Kunstmuseum Solothurn.

 

50 Jahre Fotostiftung Schweiz. Fotografie nach der Natur. Ausstellung Fotostiftung Schweiz, Winterthur. Interview von Rolf Breiner (folgt). Aktuelle Filmtipps.

 

Das neue Chipperfield-Kunsthaus Zürich ist nach fünfjähriger Bauzeit eröffnet! «David Chipperfield Architects Berlin und das Kunsthaus Zürich», Scheidegger & Spiess, Zürich 2021. «Die Sammlung im neuen Licht. Kunsthaus Zürich», Scheidegger & Spiess, Zürich 2021. Hingehen und anschauen!

 

Widescreen: Goya, Fondation Beyeler, Riehen b. Basel

 

Zwei Reportagen nehmen Sie mit in den hohen Norden und in den Süden Italiens:
lassen Sie sich inspirieren, gute Unterhaltung!

Reportage «Rügen, Wismar und Stralsund: Buchenwälder, Nosferatu, Hering und Fischleder» von Ingrid Schindler. Eine Entdeckungsreise mit Kuriositäten und Überraschungen.

 

Reportage «Bella Puglia – Zauberhaftes Apulien und Salentinische Halbinsel»: Impressionen aus Ostuni, Castel del Monte, Bari, Lecce, Alberobello und den Trulli und den traumhaften Küstenstädten Gallipoli und Monopoli. 

 

«Human Rights Watch» ist ein Begriff, Julieta Schildknecht hat Direktor Ken Roth interviewt.

 

Wir wünschen Ihnen einen bunten Herbst, stimmungsvollen Advent, spannende Winterabende mit Literatur & Kunst und einen schönen Ausklang des Jahres!

 

Herzlich
Ihre Ingrid Isermann, Herausgeberin

Editorial