FRONTPAGE

Editorial Nr. 31

Editorial Oktober 2013

 

Liebe Leserinnen und Leser, liebe Kunstinteressierte, herzlich willkommen!

 

Nachruf
Nichts deutete darauf hin, dass er Deutschlands beachtetester und auch umstrittenster, scharfzüngiger Literaturkritiker werden würde. Er holte die Literatur aus dem Elfenbeinturm und gründete 1977 die «Klagenfurter Literaturtage», an denen er zehn Jahre als Juror teilnahm, und das «Literarische Quartett» im ZDF (1998-2002). Seine 2009 verfilmte Autobiografie «Mein Leben» (1999) ist ein erschütterndes Zeitdokument. Den Nobelpreis wie sein Kontrahent Günter Grass für «Die Blechtrommel» hat er dafür nicht bekommen, aber vielleicht werden genau diese beiden Lebenswerke in Erinnerung bleiben. 

Am 2. Juni 1920 als Marceli Reich in Włocławek, Polen geboren, ist Marcel Reich-Ranicki am 18. September 2013 in Frankfurt am Main mit 93 Jahren verstorben, zwei Jahre nach seiner Frau Teofila, mit der er siebzig Jahre verheiratet war und die seit dem Warschauer Ghetto an seiner Seite war. Versöhnen kann man sich mit dieser (Zeit-)Geschichte nicht, aber versöhnlich ist, dass es die Bundesrepublik Deutschland war, die ihm zur literarischen Heimat wurde und die Liebe zur Literatur buchstäblich ihrer beider Leben rettete, was er am 27. Januar 2012 als 90-jähriger in seiner Rede zum Holocaust-Gedenktag im Deutschen Bundestag in Berlin mit bewegenden Worten einer bewegten Zuhörerschaft schilderte.

Dass MRR, auch als Autor, mehr Wirkungsmacht entfaltete als andere Koryphäen, mag ihn mit später Genugtuung erfüllt haben. Ranicki bestand darauf, dass es in guter Literatur nur um die Liebe und den Tod gehen könne. Fast ein Jahrhundert Zeitzeuge – es ist eine der phantastischsten Lebensgeschichten des letzten Jahrhunderts. Ingrid Isermann

 

Die Literatur ist und bleibt en vogue… und das will ich lesen…

Wir stellen Ihnen Neues von der Schweizer Literatur vor:

 

Urs Widmers phantasievolle «Reise an den Rand des Universums», Diogenes Verlag Zürich. Dazu der Essay von Urs Widmer über die Freuden und Leiden beim Schreiben, den er Literatur & Kunst freundlicherweise zur Verfügung stellte, und einen Auszug aus seiner Autobiografie.

 

Ferner Henriette Vásárhelyi und ihr Debüt «immeer», Dörlemann Verlag Zürich, das auf der Shortlist des Schweizer Buchpreises steht, sowie den Debütroman von Bettina Spoerri «Konzert für die Unerschrockenen», Braumüller Verlag Wien.

 

Ausserdem eine Hommage an die unvergessene Filmschauspielerin Ingrid Bergman («Casablanca») und die neue Biografie ihrer Tochter Isabella Rossellini mit unveröffentlichten Aufnahmen aus dem Privatarchiv, Schirmer/Mosel München.

 

Heinrich Pestalozzi und seine Ehefrau Anna Schulthess-Pestalozzi werden im Buchtipp Carte Blanche mit exklusivem Auszug vorgestellt, eine Neuauflage des Römerhof-Verlages Zürich. Kopf, Hand und Herz, auch für eine nicht nur sachverwaltete Schule.

 

Vom 9. bis 13. Oktober findet die Frankfurter Buchmesse mit Brasilien als Gast statt, aber auch hierzulande wird Brasilien Einkehr halten, mit den Literaturtagen Zofingen vom 18. bis 20. Oktober 2013, www.literaturtagezofingen.ch.
Lyrikerinnen und Lyrikern aus Brasilien können Sie auch auf Literatur & Kunst begegnen: VERSschmuggel transVERSAL.
Und en passant den Lyrik-Taschenkalener 2014 von Wunderhorn kennenlernen.

 

Und wieder werden die Buchpreise verliehen, der Deutsche Buchpreis 2013 am 7. Oktober an der Frankfurter Buchmesse, auf der Shortlist stehen die Namen: Mirko Bonné, Reinhard Jirgl, Clemens Meyer, Terézia Mora, Marion Poschmann und Monika Zeiner.

Nachtrag: Terézia Mora erhielt den Deutschen Buchpreis für ihren Roman «Das Ungeheuer».

 

Auch der Schweizer Buchpreis 2013 winkt und im Wettbewerb stehen Ralph Dutli, Roman Graf, Jonas Lüscher, Jens Steiner und Henriette Vásárhelyi auf der Shortlist des Schweizer Buchpreises 2013. Der Preis ist mit insgesamt 40‘000 Franken dotiert. Die öffentliche Preisverleihung findet am Sonntag, 27. Oktober im Theater Basel statt.

Der Schweizer Buchpreis 2013 geht an Jens Steiner. Der Zürcher erhält die mit 30’000 Franken dotierte Auszeichnung für seinen Roman «Carambole», erschienen im Dörlemann Verlag Zürich, 2013.  Die Jury würdigte das Buch als ein Werk «von grosser poetischer Kraft», (siehe auch Archiv Literatur, Literatur & Kunst).

 

Nachtrag:

Literaturnobelpreis für die 82-jährige kanadische Autorin Alice Munro

Alice Munro wurde am 10. Juli 1931 in Wingham in der kanadischen Provinz Ontario geboren, wuchs auf einer Farm auf und studierte zwei Jahre Journalistik und Anglistik.  Das Studium brach sie vorzeitig ab. Mit ihrem Mann führte sie in Victoria in Britisch-Kolumbien eine Buchhandlung. Sie begann schon in jungen Jahren zu schreiben und seit den fünfziger Jahren Texte in Zeitschriften zu publizieren. Erst 1968 veröffentlichte sie ihren ersten Erzählband, «Dance of the Happy Shades», im Dörlemann Verlag 2010 als deutsche Erstübersetzung unter dem Titel «Tanz der seligen Geister» erschienen. 1971 erschienen lose verknüpfte Erzählungen unter dem Titel «Lives of Girls and Women» (dt. «Kleine Aussichten: ein Roman von Mädchen und Frauen», 1983). Seither hat sie zahlreiche Erzählbände veröffentlicht. Zuletzt erschien 2012 der Band «Dear Life», dessen Übersetzung bei S. Fischer erscheinen wird, sowie 2009 «Too much happiness» (dt. «Zu viel Glück», 2011). Die Kurzgeschichte entsprach ihrer Ausdrucksform, die sie zur kunstvollen Meisterschaft entwickelt hatte. Alice Munro erhielt zahlreiche Preise, darunter 2009 den Man-Booker-Preis für internationale Literatur. Alice Munro lebt heute in Clinton in der Provinz Ontario. Der Literaturnobelpreis wird im Dezember in Stockholm verliehen.

 

Der Friedensnobelpreis ist der Organisation für den Verbot chemischer Waffen (OPCW) verliehen worden. Seit 1997 überwacht die Organisation die Umsetzung und Einhaltung der Konvention für das Verbot der Produktion und Lagerung von Chemiewaffen der Vereinten Nationen. Nach den Giftgasanschlägen in Syrien ist das Thema Chemiewaffen von erneuter Aktualität.

 

Der 16-jährigen Pakistanerin Malala Yousafzai, die ein Attentat der Taliban nur knapp überlebte, wurde vom EU-Parlament in Strasbourg der mit 50 000 Euro dotierte Sacharow-Preis «für die Freiheit des Geistes» verliehen. Die junge Pakistanerin fordert Bildung für alle Mädchen und kritisierte die islamistischen Taliban, die Mädchen von Bildung und Schulbesuch ausschliessen wollen.

 

Die weissrussische Schriftstellerin Swetlana Alexijewitsch erhält den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. Seit Beginn der Perestroika leiht die Schriftstellerin den Menschen der ehemaligen Sowjetunion ihr Ohr und porträtiert Zeugnisse über den Alltag.

 

Den begehrten Booker-Preis erhielt die erst 28-jährige Neuseeländerin Eleanor Catton für ihre Goldsuchersaga «The Luminaries» als jüngste Gewinnerin überhaupt des Booker Prize, der um die Themen Identität, Gier und menschliche Schwäche kreist.

 

Die Schriftstellerin Sibylle Lewitscharoff wird mit dem renommierten Georg-Büchner-Preis 2013 ausgezeichnet. (Siehe auch Beitrag über ihre Publikation «Blumenberg» von Ijoma Mangold, Archiv Rubrik Literatur, Literatur & Kunst).

 

 

Und noch ein Nachsatz:

In einem Interview mit der ZEIT sagt der Schweizer Autor Christian Kracht, der zusammen mit seiner Frau Frauke Finsterwalder das Drehbuch zum mit einem Goldenen Auge preisgekrönten Film «Finsterworld» (bester deutschsprachiger Spielfilm am Zurich Film Festival 2013) schrieb: «Die Schweiz ist das insularste, vertrocknetste, kleinlichste Kleinland, das es überhaupt gibt. Die Schweizer Diaspora ist sehr groß, ein Fünftel der Bevölkerung lebt außerhalb der Schweiz. Es heißt auch: „die fünfte Schweiz“, das ist der offizielle Titel dieser Menschen, die es da nicht aushalten». Wird darüber diskutiert? Wohl kaum.

 

Vom 24. bis 27.Oktober findet zum dritten Mal das grösste Literaturfestival der Schweiz statt: «Zürich liest». Es bietet 140 Lesungen und literarische Veranstaltungen mit über 200 AutorInnen, auch an Orten wie u.a. dem Prime Tower, in der Sternwarte, im Staatsarchiv oder in der Hafenkneipe. www.zuerich-liest.ch.

Auch in Basel findet das Lesefest statt, «Buch Basel» vom 25. bis 27. Oktober, Programm: www.buchbasel.ch

 

Am 7. November wäre Albert Camus 100 Jahre alt, der in Algerien geborene Franzose erhielt 1957 den Literatur-Nobelpreis, für u.a. auch das Hauptwerk «Der Fremde». Mit 46 Jahren kam er 1960 bei einem Autounfall ums Leben. Iris Radisch, Literaturkritikerin bei der ZEIT, hat im Rowohlt-Verlag eine Biografie über Camus verfasst: «Das Ideal der Einfachheit», wie auch Martin Meyer, Feuilleton-Redaktor der NZZ: «Albert Camus. Die Freiheit leben», erschienen im Hanser Verlag.

 

«Zehn Milliarden» heisst das im Suhrkamp Verlag Berlin erschienene Sachbuch von Stephen Emmott, das uns das Fürchten lehrt. Der Professor in Oxford, Leiter eines von Microsoft aufgebauten Forschungslabors für computergestützte Naturwissenschaften, präsentiert neue Fakten zur Lage des Planeten Erde und seiner Bevölkerung, die in kurzer Zeit auf sieben Milliarden angewachsen ist und bald zehn Milliarden überschreiten wird. Emmett verlangt ein radikal umgekrempeltes Wirtschaftssystem, wenn wir überleben wollen. Seine Thesen in das Gehör möglichst vieler Politiker, CEO’s und Wirtschaftsexperten und natürlich auch allen Konsumenten und Erdbewohnern.

 

Die NZZ am Sonntag (6.10.2013) meldet, dass ein griechischer Politiker 2007 2.5 Mio. Euro Schmiergeld an Noch-Bundesrat Christoph Blocher bezahlt haben soll. Ziel der Zahlung sei es gewesen, allfällige Rechtshilfeersuchen aus Athen betreffend Bankkonten in der Schweiz mit Bezug zu Minister Tsochatzopoulos zu behindern. Der heute 74-jährige Tsochatzopoulos war von 1996 bis 2001 griechischer Verteidigungsminister. Seit April 2012 befindet er sich in Athen in Untersuchungshaft, seit April dieses Jahres steht er vor einem Athener Gericht. Die Schweizer Behörden haben im April 2013 in der Causa Tsochatzopoulos Bankkonten mit Guthaben in Millionenhöhe in Genf und Zürich eingefroren.

 

Was macht die Kunst?

Das Centre Le Corbusier, im Zürcher Seefeld an der Höschgasse 8, ist weltberühmt. Alljährlich pilgern Tausende an den See, um das letzte Bauwerk Le Corbusiers zu sehen und zu bestaunen. Die Initiantin und Besitzerin Heidi Weber hat das Museum gegründet, doch nach 50 Jahren Baurechtsvertrag läuft dieser Vertrag im Mai 2014 aus. Was geschieht weiter mit dem Centre Le Corbusier in Zürich? Lesen Sie dazu das Interview mit Heidi Weber und die Vorgeschichte, wie es überhaupt zur Museumsgründung kam.

 

9. Zurich Film Festival

Am 26. September begann das 9. Zurich Film Festival, das bis 6. Oktober dauert und attraktive Filmgrössen an die Limmat lockt: Hugh Jackman erhält den Golden Award für sein Lebenswerk. Mehr in der Rubrik Photo/Film von Rolf Breiner.

 

Architektur-Buchtipps: Vom Künstler Harald F. Müller präsentieren wir «First Cuts», realisiert im Prime Tower der Architekten Gigon/Guyer. Ferner ein Beitrag von Fabrizio Brentini über die neuen Wahrzeichen von Luzern und eine neu erschienene Monographie.

 

In der Kolumne reflektiert Hedi Wyss über Piraten und Terroristen.

Die neue Reportage folgt demnächst.

 

Die Bundesrepublik Deutschland hat gewählt, und was viele aufgrund der schwierigen Euro-Wirtschaftslage vermutet haben, ist eingetreten: Die vermutlich grosse Koalition der CDU/CSU unter der Kanzlerin Angela Merkel mit der SPD. Sondierungsgespräche mit der SPD, aber auch den Grünen, haben stattgefunden.

 

Apropos: Literatur & Kunst haben bisher schon 1.8 Mio. Leserinnen und Leser gewählt. 
Wir danken Ihnen für Ihr Interesse, wünschen Ihnen einen goldenen Herbst und machen Sie’s gut!

 

Herzlich
Ihre Ingrid Isermann, Herausgeberin

Editorial