FRONTPAGE

«Ein Ufo landet in Tottenham»

Von Marion Löhndorf

 

Das Londoner Stadtviertel Tottenham erholt sich von Jahrzehnten der Vernachlässigung und den schweren Unruhen, die 2011 das Land erschütterten. Die Bewohner betrachten erste Zeichen von Gentrifizierung aber mit Skepsis.

Kleine Reihenhäuser mit blätterndem Putz und verblassenden Farben stützen einander. In den meisten Vorgärten wächst längst kein Gras mehr. Sie sind zubetoniert und dienen als Parkplätze und Abstellorte für Mülltonnen und ausrangierte Möbel: Tottenham hat einmal bessere Zeiten gesehen – aber das ist lange her. Im späten 19. Jahrhundert entwickelte es sich vom ländlichen Vorort zum Suburbia der unteren Mittelschicht, zur Einfahrtschneise der Arbeiter in die Innenstadt Londons. Im Zweiten Weltkrieg wurde es heftig bombardiert. Mehrere schwere Unruhen nahmen von dort ihren Ausgang.
Rund 115 000 Menschen leben heute in Tottenham, und es heisst, es sei die ethnisch vielfältigste Community in Europa; 300 verschiedene Sprachen sollen dort angeblich gesprochen werden. Das Wort Multikulti könnte in Tottenham im Londoner Bezirk Haringey erfunden worden sein.

 

 

Die Trutzburg muss weichen
Winzige Geschäfte säumen viele Strassen – Döner-Buden, Kioske, die tägliches Allerlei verkaufen, das beim Grosseinkauf im Supermarkt vergessen wurde, und Läden, die Kleinkram rund ums Mobiltelefon anbieten. All das passieren Fussballfans auf dem Weg zum Stadion von Tottenham Hotspur, einem der besten und wohlhabendsten Klubs Englands, ganz egal, wo sie parkieren oder aus welchem U-Bahn-Schacht sie auftauchen.
All das soll jetzt anders werden. Glänzender, schöner. Der Fussballklub, der die Identität des Bezirks entscheidend prägt, baut neu. Und auch in seiner Umgebung soll sich vieles verändern.
Das alte Stadion von Tottenham Hotspur mit seinen 34 000 Sitzen war funktional. Nicht modern, aber wie eine Trutzburg inmitten siechender Kleinbauten. Die berühmte Sportstätte an der White Hart Lane stand dafür, dass Erfolg eben doch möglich ist, auch in dieser Gegend. Zwar hat der Klub seit 1961 keinen Meistertitel in der Ersten Liga mehr geholt, «seit der Schwarz-Weiss-Ära», wie die Fans sagen. Aber er mischt seit Jahren in den oberen Tabellenplätzen mit, die Augen unverdrossen auf den Meistertitel gerichtet, oft tragikomisch am ganz grossen Sieg vorbeischrammend, wie seine Gegner behaupten. Und: Tottenham Hotspur steht unter den reichsten Fussballklubs der Welt an zwölfter Stelle.

Zum Ende der Saison 2017 wurde das Stadion abgerissen. Nur einen Steinwurf entfernt entsteht nun ein neues, das 61 000 Zuschauern Platz bieten wird und 750 Millionen Pfund kosten soll. Auf den Betonklotz von einst folgt ein Glaspalast, eine «Entertainment-Destination der Weltklasse».
Von August an soll dort nicht nur Fussball gespielt werden. Auch Pop-Konzerte wird es geben und Spiele der NFL, der Liga des American Football. Das Stadion, das ein Hotel, eine Kletterwand, Restaurationsbetriebe und ein Museum umfassen wird, soll 293 Millionen Pfund im Jahr für die lokale Umgebung generieren und 3700 Menschen beschäftigen; 1700 dieser Jobs werden neu geschaffen. Da sind nicht nur Sport und Gastronomie, sondern auch die London Academy of Excellence Tottenham (LAET), ein College, das ab September Schüler in Empfang nehmen wird: Der Fussballklub mit dem Motto «To Dare is to Do» sponsert die Schule.

 
Krisenjahr 2011
Möglich, dass der geschwungene Riesen-Neubau, der wie ein Ufo inmitten von viktorianischen Häusern landet und dem seine Umgebung ganz egal zu sein scheint, die Kontraste zwischen dem reichen Klub und seinem Umfeld nur noch deutlicher hervorhebt. Doch wenn alles gut läuft, könnte er der geplanten Regeneration des ganzen Bezirks Schwung verleihen. So geschah es mit dem Ödland, das die Tate Modern, ein ehemaliges Kraftwerk, jahrzehntelang umgab: Die Eröffnung des von der Industrie-Kathedrale zum Kult-Museum der Moderne umfunktionierten Gebäudes führte zur Wiederbelebung der ganzen Gegend.

Die Generalüberholung, die Tottenham bevorsteht, ist bitter nötig. Und das nicht nur, weil es zu den ärmsten Stadtgebieten Londons und auch des ganzen Landes gehört. Im vergangenen Jahr brannte der Grenfell Tower in North Kensington. Im August 2011 aber stand mit Tottenham ein ganzes Stadtviertel in Flammen. Von dort aus begannen mehrtägige Krawalle, die sich über weitere Bezirke Londons ausbreiteten und in anderen englischen Städten – von Liverpool über Birmingham bis Manchester – wie in einem Stafettenlauf der Gewalt Nachahmer fanden. Der Hochhausbrand in North Kensington und der Feuersturm der Verwüstung, der durch Tottenham ging – das waren keine Zufälle, sondern Katastrophen, die symptomatisch waren für die Vernachlässigung der betroffenen Orte.

 

Ausgelöst wurden die Krawalle in Tottenham durch die Erschiessung eines jungen Schwarzen, Mark Duggan, in Ferry Lane durch die Polizei. Beteiligt waren in der Mehrheit junge und sehr junge Leute, Teenager und Twens, Schwarze und Weisse, Männer und Frauen. Kritiker der Regierung waren schnell bei der Hand, die Ausschreitungen als Antwort auf die Sparmassnahmen zu interpretieren und auf die sich infolgedessen weiter öffnende Kluft zwischen Arm und Reich. Doch wenn die Vorfälle eine politische Aussage hatten, dann die einer Absage an die Politik – oder die Manifestation ihrer Bedeutungslosigkeit in den Augen der Randalierer.

 
Die Postleitzahl als Stigma
Schon Mitte der achtziger Jahre hatte es schwere Ausschreitungen in Tottenham gegeben: «Uns hängt unsere Postleitzahl wie ein Felsbrocken um den Hals», sagte eine Bewohnerin. Damals begannen die Unruhen im grauen, labyrinthischen Siedlungsblock Broadwater Farm. Auf eine der Häuserwände ist heute ein idyllischer Wasserfall gemalt, ein paar Balkone sind pastellfarben gestrichen. Ein besonderer optischer Gewinn ist beides nicht. Dafür gibt es einen Spielplatz und ein Gemeindezentrum, das sportliche Aktivitäten für alle Altersstufen anbietet.
Schon im Nachgang der Unruhen in den achtziger Jahren folgten erste Regenerationsbemühungen. Die U-Bahn- und die Eisenbahnstation Tottenham Hale wurden erneuert und zusammengelegt; damit wurde Tottenham direkt mit dem Flughafen Stansted verbunden. Ein weiterer Umbau des Bahnhofs folgt. Jetzt schon sind neue Häuser in seiner Umgebung entstanden.
Das Selby Centre, das sich in einer ehemaligen Schule eingerichtet hat, bietet seit 1992 Projekte für ehemalige Strafgefangene an, eine HIV-Initiative, Unterstützung für Arbeitsuchende und eine Food Bank: Es wirkt integrativ und hat sich dem wirtschaftlichen, kulturellen und sozialen Wachstum aller Communities, vor allem der historisch benachteiligten, verschrieben. Es ist einer der Orte, die Tottenham am dringendsten benötigt: eine Anlaufstelle für junge Leute. Denn viele Jugendliche dort fühlen sich weder in die nachbarliche Umgebung eingebunden noch ins gesamtgesellschaftliche Gefüge. Arbeitslosigkeit und schlechte Schulbedingungen gehen Hand in Hand, oft über Generationen hinweg. Drogen und Waffen und vor allem Messerstechereien gehören zum Alltag der sich seit Jahren bekämpfenden Jugend-Gangs in London.

 

London lebt von seiner Dynamik, Stagnation ist ein Fremdwort. Auch seine Selbstheilungskräfte nach Fehlentwicklungen und Katastrophen sind phänomenal. Doch gross angelegte urbane Regeneration ist in der Regel schmerzhaft. Reibungslos gestalten sich diese Prozesse selten. Insgesamt sind 10 000 neue Häuser in Tottenham geplant. Auch das Schul- und das Gesundheitssystem werden erneuert. Das klingt gut, wenigstens auf dem Papier. Doch viele Einwohner sind gegen die «Gentrifizierung»; sie fürchten einen Anstieg der Immobilienpreise und, erstaunlicherweise, auch einen Gesichtsverlust ihres Bezirks. Offenbar gilt hier wie überall in London: Egal wie traurig das Gesicht einer Gegend ist, so ist es doch vertraut, und man hält gern daran fest, eisern.

 
Vorboten des Aufschwungs
Dem Neubau des Spurs-Stadions mussten 72 Geschäfte durch Umzug weichen; das ging nicht ohne Kämpfe ab. Auch die Betreiber des nahe der Tube-Station Seven Sisters gelegenen Seven Sisters Indoor Market mit seinen lateinamerikanischen Produkten fühlen sich unter Druck gesetzt. Während einer Neubauphase sollen die dort ansässigen Händler umgesiedelt werden: Sie fürchten, sich eine Rückkehr nicht mehr leisten zu können. Um den Markt herum werden rund zweihundert neue Wohnungen, Geschäfte und Restaurationsbetriebe entstehen.

Inzwischen zeigen sich in Tottenham die Vorboten jeder Londoner Gentrifizierung: Die ersten Künstler richten ihre Ateliers hier ein, junge Leute aus anderen, zu teuer gewordenen Bezirken ziehen zu. Cafés wie «Craving Coffee» servieren Heissgetränke mit Blumenmustern im Cappuccino-Schaum und «Boutique-Weine» und stellen lokale Künstler aus. Pubs bieten nicht nur Lager oder Ale an, sondern Craftbeer aus Mikrobrauereien. Kleine Gaststätten experimentieren mit Gerichten, in denen fast alles «bio» ist oder aus lokalen Ressourcen stammt.
Seit 2007 besitzt der Bezirk auch ein eigenes Kunstzentrum, das Bernie Grant Arts Centre, das die multikulturelle Einwohnerschaft in seinem Angebot exemplarisch spiegelt. Auf seiner Website bezeichnet das Kunstzentrum Tottenham stolz als eine der am schnellsten wachsenden Kreativ-Zonen der Stadt. Noch muss man genau hinsehen, um das zu erkennen. Doch sollte sich das einstige Krawallviertel tatsächlich zur angesagten Adresse wandeln, dann wären auch seine Tage als Künstler-Biotop bald gezählt.

 

Erstveröffentlichung NZZ, 14.2.2018 mit freundlicher Genehmigung der Autorin.

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