FRONTPAGE

«Eine Frau von vierzig Jahren»

Von Vita Sackville-West

Als die vierzigjährige Vita Sackville-West 1932 ihren Roman «Eine Frau von vierzig Jahren» veröffentlicht, ist die Aufregung in der Londoner Gesellschaft groß. Anklage? Beichte? Selbstdarstellung? Auf jeden Fall empörend offen, unkonventionell, wenn nicht gar skandalös. Erzählt wird die Geschichte der aus großbürgerlichen Kreisen stammenden Witwe Evelyn Jarrold, die mit vierzig Jahren die Liebe ihres Lebens erfährt. Die Begegnung der reifen Frau mit dem fünfzehn Jahre jüngeren Miles reißt Evelyn aus den Konventionen ihres eleganten, aber inhaltleeren Lebens. Sie ist zu vollkommener Hingabe bereit. Miles dagegen denkt gar nicht daran, sein ausgefülltes Leben als Gutsbesitzer, Politiker und Buchautor ihr zuliebe zu ändern, auch wenn er sie zweifellos anhimmelt. Denn wie sagte schon Byron: „Im Leben eines Mannes ist die Liebe eine Nebensache.

Teil II
Evelyn konnte kaum glauben, dass man keine fünfzig Meilen von London entfernt mitten auf dem tiefsten Land war. Sie kannte Surrey besser als Kent. Dan und sie mussten noch einmal umsteigen, und nun fuhren sie mit der kleinen Lokalbahn mitten durch die Wälder und Obstplantagen von Kent. Der Zug hielt auf jeder Station und nahm auch dazwischen nicht so richtig Fahrt auf, so dass Evelyn reichlich Gelegenheit hatte, aus dem Fenster zu schauen und sich mit Miles Vane-Merricks Grafschaft vertraut zu machen. Sie versuchte sich vorzustellen, wie es hier im Frühling aussah, wenn die Obstbäume als Wolken von Weiß und Rosa dicht über dem Boden schwebten, wenn die Wälder zu weiten Flächen von Grün anschwellen und wenn am Himmel über der Hügelkette der North Downs die weißen Wolkensegel sich türmen und weiterziehen würden. Überall wo der Zug vorbeikam, streckten die Obstbäume geisterhaft ihre winterweiß gekalkten Zweige in kleine Alleen hinaus. Das Braun der kahlen Laubbäume schob sich in das blaugrüne Waldgebiet von Weald. In den Hopfengärten öffneten und schlossen sich die langen Reihen der abgeernteten Kletterstangen vor dem Blick der Vorüberfahrenden. Der Winter entfaltete seine ganz spezielle Schönheit, wenn auch nicht die gefühlvolle Schönheit, die man üblicherweise mit dem Frühling in Kent verbindet.
Niemand konnte den Reiz dieses südlichen Landstriches leugnen. Zum Teil verdankte es diesen Reiz der Tatsache, dass er sich selbst treu geblieben war. Die Hügellinie, die Weite des offenen Waldrandes vom Weald, die rötlichen Hütten, die fernen Kirchtürme zusammen mit den schmalen Heckenwege fügten sich harmonisch zu einem Bild zusammen, das dort und nirgends anders hingehörte. Jeder mit einem Gefühl für den Charakter einer Landschaft hätte bei ihrem Anblick sofort erkannt, dass er durch Kent fuhr − durch das obsttragende Kent, das Hopfenland Kent, das Kent, das sich dem Zugriff Londons entzieht. Miles hatte nicht viel gesagt über die Gegend, in der er lebte, nur dass er gern wollte, dass sie sie kennenlernen sollte. Bedauerte sie es, dass sie nicht erst im Frühling oder Sommer gekommen war? Sie zögerte, als sie sich das Schleierkraut an den Wegen und die Heckenrosen an den Zäunen vorstellte. Insgesamt bedauerte sie es jedoch nicht. Die Bäume waren karg, das Wasser in den Teichen gefroren; diese Strenge, die über einer versteckten Zartheit lag, verhalf ihr vielleicht sogar besser zu dem Mut, den sie brauchte.
Im Laufe der Fahrt steigerte sich Evelyns Spannung fast schmerzlich. Sie würde Miles in seinem Heim begegnen, sie konnte sich nicht vorstellen, wie das werden würde.

Was für ein Streich spielte ihr das Schicksal, das ihr Miles über den Weg geführt hatte? Er lief vorneweg, überließ es ihr, allein über Zäune zu steigen, sich von dornigen Brombeerranken zu befreien und aus dem Schlamm heraus zu waten. Und das ihr, der verwöhnten, verzärtelten und feinen Frau, die sich ohne Miles Vane-Merrick in Luxor oder Caux oder an der Riviera aufhalten würde, in passender Garderobe des Modehauses Rivers & Roberts. Er hielt es für ganz selbstverständlich, dass sie sich ohne die Dienste von Privett behalf. Und doch war er keinesfalls grob oder unsensibel; er hatte in jeder Hinsicht ein breites Verständnis, seine Bildung war umfassend, sein Esprit lebhaft und unterhaltend. Der Miles, der ein Dutzend Themen streifte, wenn er seinen Wein trank, war ein anderer Mensch als der Miles, der an einem Winternachmittag seine Felder durchstreifte. Dennoch waren diese beiden in Wirklichkeit nur eine einzige Person; und Evelyn, deren geistige Fähigkeiten unentwickelt sein mochten, deren Auffassungsgabe jedoch trotz mangelhafter Übung scharf war, erkannte die Wahrheit, die in William Jarrolds Urteil über Miles lag: ein ganzer Mann.
Das war es, was sie an Miles fesselte: Er war vital; er packte das Leben an. Ob er sich mit Dan unterhielt oder Evelyn über die Felder schleppte oder sie in seinem Turm erwartete, immer brachte er sich mit voller Energie ein. Das Gefühl der Unzulänglichkeit kannte er nicht.
Er war erst fünfundzwanzig.
Die Liebe war eine neue Erfahrung für ihn. Er behandelte sie wie ein großes unbekanntes Gebiet des Lebens, das es zu erforschen galt und das er mit enormem Eifer erstürmte. Und doch konnte er die Liebe völlig getrennt halten von anderen Dingen, was Evelyn sehr störte.
Sie hätte es gern gesehen, wenn er die ganze Zeit nur an sie denken würde. Er jedoch schien sie stundenlang völlig zu vergessen und ihr blieb nur der Trost, dass er sie eine gute Zuhörerin nannte. Doch wenn er sich ihr als Liebender widmete, konnte sie sich über nichts beklagen, denn er brachte dieselbe Intensität und Konzentration für die Liebe mit, die er auch auf andere Dinge verwendete. Ihre Stimmung fiel und stieg, je nachdem ob sie glaubte, dass er überhaupt nichts für sie übrig habe, oder ob sie glaubte, dass sie ihn so vereinnahmt hatte, dass alles andere ausgeschaltet war. Und sie war von beiden Seiten gleichermaßen überzeugt, bald von der einen, bald von der anderen.
Manchmal war sie unglücklich. Obwohl sie Miles seelisch und körperlich leidenschaftlich und ausschließlich liebte, war sie sich doch der schwerwiegenden Unterschiede zwischen ihnen bewusst. Böse Ahnungen stiegen in ihr auf, die sie zwar versuchte zum Schweigen zu bringen, aber sie waren da wie eine schwarze Wolke, die sie nur nicht sehen wollte.
Miles selbst war so jugendlich unbekümmert, so überschwänglich verliebt, dass er seine Begeisterung voll auslebte. Er hatte Evelyn gefunden, er hatte sie für sich gewonnen, das war das reinste Wunder! Sein Überschwang ließ ihn von früh bis spät fröhlich lachen. Es machte ihm Freude, von ihr wegzugehen und seine Aufmerksamkeit anderen Dingen zuzuwenden, nur um erfrischter und mit doppeltem Verlangen zu ihr zurückzukehren. Es kam ihm überhaupt nicht in den Sinn, dass ihr diese Art zutiefst zuwider war. Er wurde von dem unbestimmten Gefühl geleitet, dass die Liebe einen übersättigen konnte, wenn man sich nicht gezielte Pausenzeiten auferlegte. Stundenlang täuschte er mit Vergnügen vor, dass noch andere Dinge im Leben eine wichtige, wenn nicht sogar wichtigere, Rolle spielten.
Tatsächlich handelte es sich nicht einmal um eine richtige Täuschung. Er war viel zu energiegeladen, als dass er sich von der süßen Selbstvergessenheit der Liebe ganz und gar absorbieren lassen wollte. Außerdem schrieb er an einem Buch über wirtschaftliche Grundfragen und er wollte Evelyn auf keinen Fall gestatten ihn davon abzuhalten. Sehr bald war ihm klar geworden, dass sie seine Arbeit als ihren persönlichen Feind betrachten würde und dass sie seine Aufmerksamkeit skrupellos für sich beanspruchen würde, wann immer sie konnte. Zuerst tat sie das sehr vorsichtig, doch mit voranschreitender Zeit wurde sie immer unvorsichtiger und beanspruchte immer mehr. Dieser unausgesprochene Kampf amüsierte ihn – aber er war entschlossen ihn zu gewinnen.
Dennoch, er besaß ein starkes Verantwortungsbewusstsein. Und obwohl er jung war, lag seiner Heiterkeit ein tiefer Ernst zugrunde. Diese Ernsthaftigkeit rührte Evelyn und sie machte, dass sie sich um Jahrzehnte älter vorkam. In mancher Hinsicht war er ihr so völlig überlegen, dass sie sich regelrecht unbedeutend vorkam; in anderer Hinsicht wiederum erschien er ihr wie ein unerfahrener Jugendlicher. Sie wusste nicht, welche Seite sie mehr an ihm liebte.
Miles hatte sehr wohl gemerkt, dass sie sich Sorgen über ihre Beziehung machte. Was die Leute sagten oder dachten, kümmerte ihn für seinen Teil nicht im Geringsten, aber er war klug genug klar zu erkennen, dass Evelyn in einer anderen Tradition verwurzelt war. Er neckte sie ein- oder zweimal damit und sie gab traurig zu, dass er Recht habe.
„Ich kann einfach nicht dagegen an, Miles, verachte mich dafür, von mir aus. Aber“, fügte sie etwas pathetisch hinzu, „du gibst dir die größte Mühe, mich aus meinem altmodischen Schneckenhaus herauszulocken.“
»Es ist schon ein seltsamer Gegensatz, dich aufs Modernste gekleidet zu sehen und dabei die altmodischsten Ansichten aus deinem Mund zu hören. Aber das gibt deiner Persönlichkeit gerade den reizvollen Bruch: Die Viktorianerin und die moderne Frau. Der Widerspruch zwischen deinem Inneren und deinem Äußeren. Du solltest dich altbmodisch kleiden – Gott sei Dank tust du’s nicht!“
Dann machte er keine Witzchen mehr, er wurde ganz ernst und bat sie wieder seine Frau zu werden.
„Du würdest viel glücklicher sein! Du brauchtest dir wegen der Jarrolds keine Gedanken mehr zu machen und auch nicht wegen Dan. Du weißt genau, wie sehr du ständig in der Angst lebst, Dan könnte etwas merken.«
»Dan ist ein Kind, Miles; er kann bei diesen Dingen Recht und Unrecht nicht beurteilen. Das ist unsere Sache, nicht seine.«
»Ich glaube wirklich nicht, dass Dan uns hart beurteilen würde. Dan ist ein vernünftiger Junge – aber bei den ganz Jungen weiß man’s nie. Es könnte irgendein sonderbares, archaisches Gefühl für seine Mutter hochkommen. Das Schlimmste an Konventionen ist doch, dass sie gewöhnlich ihre Wurzeln in irgendeinem nützlichen, schützenden Geschlechtstabu haben.«
»Ich werde dich nicht heiraten, Miles.«
»Aber warum nicht?«
»Miles, ich hab es dir schon zweimal gesagt – zwing mich nicht, es dir noch einmal zu sagen!
Es macht mir wirklich keine Freude.«
»Dass ich jünger bin als du?«
»Fünfzehn Jahre.«
So endeten sie immer, ihre Gespräche. Er protestierte heftig und sie blieb unerbittlich. Seine Proteste waren aufrichtig, denn er war so jung, dass der Gedanke an das Alter ihn überhaupt nicht stören konnte. Außerdem erschien ihm Evelyn nie als jemand viel älteres als er selbst.
Keinerlei Anzeichen verrieten ihr Alter: ihr Haar war glänzend, ihre Haut glatt und ihr Körper fest und weiß. Es stimmte schon, »vierzig« hatte einen ominösen Klang, und ihr nächster Geburtstag war wirklich ihr vierzigster; sie hatte es ihm nicht nur einmal, sie hatte es ihm zwanzigmal gesagt. Er schob es beiseite, unbesonnen und ungestüm wie er war und so gar nicht an Widerstand gewöhnt. Es ärgerte ihn, dass sie sein Werben so ruhig und beharrlich ablehnte. Freilich konnte er nicht ahnen, was diese Festigkeit sie kostete.

 
Teil III
Der Sommermorgen draußen vor dem Fenster war so herrlich, die Erinnerung an die Nacht so frisch und die Vorfreude auf die folgenden Tagen so lebendig, dass sie die Hände von den Augen nahm und sich aufraffte, um ein Sommerkleid anzuziehen und hinunterzugehen zu Miles, der trotz allem immerhin ihr Geliebter war.
Er war vor dem Frühstück im See schwimmen gewesen und kam mit nass zurückgestrichenem Haar herein. Mrs. Munday war im Zimmer und setzte mit ihrem üblichen Ausdruck verständnisvoller, heiterer Freundlichkeit eine große Schüssel mit Speck und Eiern auf den Tisch. Die Tür zum Garten mit den leuchtenden Blumen stand offen; das Licht der Sonne ergoss sich ins Zimmer.

 

»Ich hoffe, Sie haben gut geschlafen?«
Sie antwortete ihm mit einem raschen und bedeutungsvollen Lächeln.
»Ausgezeichnet, danke. Wie spät ich dran bin! Ich habe herumgetrödelt, weil ich einem Schwalbenpärchen zugesehen habe, das in meinem Kamin auf und ab geflogen ist.«
»Ich hätte Sie warnen sollen – Sie hätten ja auch gestern Abend das Feuer anzünden können!
Mrs. Munday mag die Vögel nicht; aber ich habe Fürsprache für sie eingelegt und so hat sie sie am Leben gelassen.«
»Sie würden sie auch nicht mögen, Sir, wenn Sie nach ihnen sauberzumachen hätten.«
»Das mag sein, aber Sie würden ihnen auch nichts tun können, selbst wenn ich es zuließe. In Griechenland hält man es übrigens für ein Zeichen des größten Glücks, Mrs. Munday, wenn Schwalben im Haus nisten.«
»Wirklich, Sir? – Ich lerne eine Menge von Mr. Vane-Merrick«, sagte sie, vergnügt zu Evelyn gewandt. »Hoffentlich ist der Kaffee so, wie Sie ihn mögen! Kann ich Ihnen sonst noch etwas bringen?«
»Wir haben alles, was wir uns auf der Welt nur wünschen können, Mrs. Munday.«
Als Mrs. Munday gegangen war, streckte Evelyn die Hand nach ihm aus. »Meinst du das wirklich so? Dass wir alles haben, was wir uns auf der Welt nur wünschen können, fühlst du dich auch so, Miles? Als ich heute Morgen aufwachte, dachte ich, ich würde sterben vor Glück. Komm einen Augenblick vor die Tür, ehe wir anfangen zu frühstücken! Oh Miles, wie warm die Sonne ist! Leg mal deine Hand auf die Ziegel – sie sind richtig heiß. Ich habe die Blumen noch nie so leuchten sehen; es ist, als wären sie über Nacht ganz aufgeblüht, jedes einzelne Blütenblatt glänzt. Ist es möglich, dass wir beide zusammen hier sind? Du und ich ganz allein? Und dass wir uns so lieben?«
Sie lehnte in ihrem Sommerkleid am Türrahmen im Sonnenschein, erregt, strahlend und voller Staunen; bald blickte sie auf Miles mit seinem seidig glänzenden Haar, bald in den Garten hinaus, dessen Blumen in der Sonne strahlten. Sie faltete ihre Finger in seine, dass die Knöchel knacksten. Die Erinnerung an die Nacht war lebendig in ihr: eine vollkommene Nacht, der ein vollkommener Tag folgte.
»Lass uns jetzt frühstücken«, sagte sie, ließ seine Hand frei, ging zum Tisch, goss ihm Kaffee ein und legte ihm Speck und Eier auf den Teller. Das vertraute Miteinander beglückte sie.
Nach solch einer Nacht bediente sie ihn gern beim Frühstück.
»Worüber lächelst du, Miles?«
»Ich lächle über deine Häuslichkeit.«
Ihr Frühstück war die vollkommene Zweisamkeit. Ich habe nie gewusst, dachte sie bei sich, dass Frühstück eine so romantische Mahlzeit sein kann. Sie war derart gehobener Stimmung, dass sie ihn nach dem Frühstück fragte, was er nun zu tun habe, anstatt vorauszusetzen, dass er den Tag müßig mit ihr verbringen werde.

»Du musst dich gewiss mit Munday treffen, Miles. Vielleicht hat in der Nacht eine Kuh gekalbt. So etwas scheint auf dem Lande dauernd zu geschehen. Oder wenn keine Kuh gekalbt hat, solltest du dir die Korrekturen für dein Buch vornehmen. Ich werde einen Spaziergang durch die Felder machen und du kannst dann nachkommen. Lass dir Zeit!« Im Stillen dachte sie, die Lust des Augenblickes ihrer Wiedervereinigung würde durch die kurze Trennung noch gesteigert sein. Außerdem kam sie sich ausgesprochen heldenhaft vor, weil sie selbst ihm die Korrektur vorschlug.
Er ließ sie gehen und beobachtete, wie ihre Gestalt in dem Musselinkleid hinter einem Sonnenschirm zwischen den Haselnussbüschen verschwand. Die dänische Dogge stand neben ihm und wartete geduldig. Er sah, wie Evelyn wieder aus dem Schatten der Sträucher hervorkam, das kleine Tor aufklinkte und in den Sonnenschein auf die Felder hinaustrat. Sie wandte sich um und winkte ihm zu. Er winkte zurück. Sie leuchtete hell wie die Blumen im Garten. Seine liebenden Augen stellten sich tatsächlich vor, sie sei eine Blume, ein Blütenblatt, das aus seinem Garten hinausgeweht wurde, den Schatten passierte und seine
Farbe zurückerhielt, als es wieder ins Sonnenlicht hinauskam. Der Schatten konnte sie verdunkeln, die Sonne sie erhellen. Er hatte sie lieber, wenn sie in der Sonne strahlte. Schatten machte ihn ungeduldig und reizbar. Sein Leben war zu erfüllt und zu männlich, um sich mit ihren rein weiblichen Problemen auseinanderzusetzen.

Er liebte sie, aber sie war eine schöne Nebenbeschäftigung für ihn, nicht sein ganzes Leben.
Er liebte sie, das stimmte. Doch er liebte sie besonders, wenn sie heiter und glücklich war, so einfach und unbeschwert und so malerisch wie die Blumen vor der offenen Gartentür an diesem Morgen. Er konnte es nur nicht vertragen, wenn sie schwierig, anstrengend und eifersüchtig wurde. Dann stieg der Wunsch in ihm auf, mit ihr zu brechen und mit der ganzen Liebe samt all ihren belastenden, weiblichen Komplikationen. Doch wenn sie froh und unbeschwert war und so hübsch aussah wie am Morgen, als sie in ihrem Musselinkleid am Türrahmen in der Sonne lehnte, hatte er das Gefühl, dass er für immer bei ihr bleiben wolle.

Er war ihr besonders dankbar dafür, dass sie ihn an sein Buch geschickt hatte. Die Zeit und sein Verleger drängten und in den letzten Monaten hatte er manchen Tag an Evelyns Vereinnahmung verloren. Weshalb konnte sie nicht immer so vernünftig sein wie an diesem Morgen? Dann hätte es niemals diese Streitereien zwischen ihnen gegeben.
Er ging ins Haus zurück und wandte sich den Papieren auf seinem Schreibtisch zu. Im Hinterkopf behielt er das Bild, wie sie das Tor aufklinkte, die Haselallee hinunter und in das sonnendurchflutete Feld hinausging; in ein, zwei Stunden würde er sie suchen und ihr Zusammensein würde an der erlebten Idylle anknüpfen. Doch in der Zwischenzeit war er weit genug von ihr entfernt, um ihr dankbar zu sein für die Stunde, die sie seinem tägliches Leben eingeräumt hatte.
Er hatte sich eine gründliche, nochmalige Durchsicht seines Buches vorgenommen und Evelyns unerwartete Ankunft hatte ihn befürchten lassen, dass er sie verschieben müsste, aber nun vertiefte er sich dankbar ins Schreiben und vergaß vollständig die Zeit dabei. Es ging ihm besser von der Hand als sonst und sein Verstand arbeitete schärfer, weil er wusste, sie wartete da draußen auf den Feldern auf ihn.

Evelyn ging querfeldein, bis zu dem See in der Senke, wo sie sich auf einen Baumstumpf setzte und über das glitzernde Wasser schaute. Sie dachte nicht bewusst an etwas Bestimmtes; ihre gesamten Sinne waren in eine Wärme gehüllt, die sich aus der Liebe und dem Sommertag ergab. Gleich würde Miles zu ihr zurückkommen. Alles andere war unwichtig. Sie wusste, dass er an seinem Buch zu arbeiten hatte; sollte er daran schreiben! Sein Buch war wichtig und doch unwichtig. Von ihr aus könnte er sogar Bretton in Maidstone anrufen und sich so lange mit ihm unterhalten, dass die Stimme des Operators dazwischen ansagte »Sechs
Minuten − neun Minuten – zwölf Minuten«, denn all diese Minuten waren gar nichts, verglichen mit der einen Minute, in der sie ihn zum See hinunter auf sich zukommen sehen würde. Es ist entsetzlich, dachte sie und presste die Finger wieder in die Augen wie zuvor, als sie die Schwalben beobachtet hatte, und es ist göttlich eine Frau zu sein und so sehr zu lieben.
Diese Intensität musste man sogar vor dem Geliebten verbergen; das macht die Liebe für eine Frau einsam. Wie sehr wir uns auch lieben mögen, er und ich, immer ist da der Unterschied:
Ihm bleibt die Welt, mir entschwindet sie. Die männliche Welt bleibt unabhängig von der Welt der Liebe bestehen. Und deshalb – ihr Verstand zog diese logische Folgerung – darf ich ihm auf keinen Fall lästig werden. Ich muss mich der vorherrschenden Stimmung anpassen und dankbar sein für das, was ich bekommen kann. Er ist ein Mann und ich bin eine Frau. Sein
Leben ist erfüllt und meines ist leer, wenn er es nicht erfüllt.
Doch es war schwer für sie, solch eine Disziplin auch zu befolgen, als sie am See saß und darauf wartete, dass Miles endlich zu ihr kommen würde. Die zwanzig Stunden zusammen mit ihm brachten ihre vernunftgelenkten Gedanken ins Wanken. Sie war die Seine und deshalb musste er auch ihr gehören. Sein Buch und irgendwelche Telefonate mit Bretton waren unbedeutend.
»Ich, dein Gott, bin ein eifersüchtiger Gott«, wenn es sich um den Gott der Liebe handelte.
Das Warten zog sich so lange hin, dass ihre Vernunft in dem Maße abnahm, in dem ihre Wut anstieg. Wirklich, sie musste ihm schon sehr wenig bedeuten, wenn er so viele Stunden verschwenden konnte, in denen sie zusammen sein könnten! Sie riss ein Büschel Gras aus und kaute verärgert auf den Halmen herum, wobei sie sich tapfer zu beherrschen versuchte. Sie war fest entschlossen, ihn nicht mit einem scharfen Ton zu empfangen, wenn er schließlich geruhen würde zu kommen. Es war ihre eigene Schuld; sie hatte ihm gesagt, er solle an seinem Buch arbeiten und er brauche sich nicht zu beeilen. Man konnte ihm nicht vorwerfen, sie beim Wort zu nehmen. So ermahnte sie sich selber. Und doch stieg ihr Zorn darüber an, dass er offenbar glaubte, sie könnte für eine endlose Zeit glücklich und geduldig die wilden Enten am See beobachten.
Dann sah sie ihn über die Felder auf sich zukommen. Ihr Ärger war wie weggeblasen. Die Felder und der Sommer und die Liebe und Miles formten wieder eine harmonische Einheit.
Sie vergaß, dass er sie hatte warten lassen.
Sie wollte nicht aufstehen, um ihm entgegenzugehen. Sie wollte den Augenblick hinauszögern, in dem er ihre Hand ergreifen und sagen würde, dass er mit seiner Schreiberei ganz und gar zu Ende und nun frei sei, um den ganzen Tag mit ihr zu verbringen. Ein Schauer überlief sie, als er ihr nahe kam. »Sieben Monate!« dachte sie. »Und noch so unsinnig verliebt!«
Er kam herunter zu ihr und warf sich neben ihr ins Gras.
»Fertig mit Schreiben, Miles? Was wollen wir tun? Sollen wir in den Wald gehen oder willst du mit mir Boot fahren? Was immer du willst, ich bin vollkommen glücklich, solange wir beiden allein sind.«
»Wir werden leider nicht allein bleiben.«
»Nicht allein? Was willst du damit sagen?« Sie setzte sich kerzengerade auf, dann entspannte sie sich. »Du musst noch mit Bretton oder sonst jemandem sprechen?« fragte sie beherrscht, ganz entschlossen, vernünftig zu sein.
»Die Anquetils haben angerufen«, sagte er langsam, »sie wollen für den Tag herausgefahren kommen.“
»Miles, du hast doch nicht gesagt, dass sie kommen können?«
»Natürlich habe ich das gesagt – sie sind das ganze Jahr noch nicht hier gewesen. Du hast doch nichts dagegen?«
»Nichts dagegen! Ach, Miles, du wusstest, dass ich etwas dagegen haben würde. Wie konntest du etwas so Gedankenloses und Grausames tun! Ich glaube, du hast es absichtlich getan, um mich zu kränken, um einen Streit zu provozieren. Oder hast du wirklich gedacht, ich hätte nichts dagegen? Bist du nur unbedacht oder absichtlich grausam? Wie dem auch sei, ich verstehe dich nicht, ich verstehe das alles nicht.«

All ihre Heiterkeit, all ihr Glück waren erbarmungslos zerstört; sie war verletzt, verärgert und verständnislos. Sie sah ihn an, als wolle sie versuchen seine Motive zu ergründen. Er erwiderte ihren Blick mit den harten Augen, die sie zu fürchten gelernt hatte. In Wirklichkeit fühlte er sich tatsächlich schuldig und das Schuldgefühl rief seine Abwehr hervor. Es war nicht wahr, dass er die Absicht gehabt hatte, sie zu kränken und zu provozieren; aber es stimmte, dass er angehen wollte gegen das, was er ihre Unvernunft nannte. Schon als er den Hörer auflegte, hatte er bei dem Gedanken an ihren Unwillen etwas boshaft gelächelt. Nun tat es ihm leid, als er ihre Enttäuschung und ihren Kummer sah; und doch, er wollte nicht nachgeben.
»Wie du übertreibst! Sie können ja heute Abend zurückfahren nach London und uns allein lassen – wenn es das ist, was du wirklich willst.«
»Du bist rücksichtslos, Miles – kalt und rücksichtslos. Also gut: Wenn die Anquetils kommen, gehe ich.«
»Verlierst du nicht jeden Maßstab?«
»Das glaube ich nicht. Wenn du fähig bist etwas zu tun, von dem du weißt, dass es mich verletzt, dann ist die Sache doch ganz eindeutig, nicht wahr? Dann heißt das, dass du dir nicht so viel aus mir machst, wie ich mir einzureden versucht habe. Du hast mich sowieso den ganzen Morgen lang allein gelassen. Entweder bist du gleichgültig oder ein rücksichtsloser Rohling. Was du auch bist, es macht kaum einen Unterschied. Unter solchen Bedingungen kann ich dich nicht akzeptieren. Da werde ich dich lieber gleich verlassen, jetzt sofort und für immer. Du kannst in Ruhe an deinem Buch weiterarbeiten und du kannst deine Freunde behalten.«
Sie stand auf.
»Du brauchst mich nicht so spöttisch von unten anzulächeln, Miles, ich meine es ernst. Du weißt sehr genau, dass jeder von uns immer die Oberhand haben will. Oh ja, zugegeben, wir haben beide keinen einwandfreien Charakter, wir sind beide eitel und herrschsüchtig. Aber glaube nicht, dass du gesiegt hast. Ja, doch, du hast in einer bestimmten Weise gesiegt, und zwar weil ich dich viel mehr geliebt habe als du mich; das kannst du als Triumph verbuchen.
Aber nun ist das Spiel zu Ende und ich nehme an, du bist sehr froh mich endlich loszuwerden.«
»Evelyn, du plapperst all die Sätze nach, die man im Allgemeinen bei solchen Gelegenheiten sagt. Einer wie der andere ist doch unsäglich abgedroschen.«
»Mein lieber Miles, du kannst deine Überheblichkeit ruhig bei mir ausspielen, aber vielleicht sparst du sie dir lieber für die Anquetils auf – vielleicht schindest du bei ihnen Eindruck damit. Bei mir nicht mehr. Ich bin nur ein Durchschnittsmensch, eine ganz normale Frau, weder klug noch intellektuell – das hab ich dir immer gesagt. Ich habe nie versucht dir etwas vorzumachen. Aber wenigstens eines will ich dir noch sagen, nämlich dass ich Dinge für dich aufgegeben habe, von denen ich nicht geglaubt hätte, dass ich sie jemals aufgeben könnte …«
»Ich nehme an, du meinst deine Ehrbarkeit?«
»Ja, ganz genau die meine ich. Du magst darüber spotten. Mir hat sie etwas bedeutet. – Und genau das ist es «, fügte sie hinzu »du hast keinen einzigen Gedanken an mein Problem verschwendet, als du die Anquetils hierher eingeladen hast. Was sollen sie denken, wenn sie mich hier allein mit dir vorfinden ! Du weißt doch, wie viel ich riskiere, wenn ich überhaupt hierher komme, auch ohne es in alle Welt hinauszuposaunen.“
»Die Anquetils sind nicht alle Welt; außerdem wissen sie längst über uns Bescheid.«
»Ja – weil du es ihnen erzählt hast. Ohne mich um Erlaubnis zu fragen.« Sie vergaß in diesem Moment, welche Freude es ihr bereitet hatte, als sie hörte, er sei unfähig gewesen, sein neues Glück seinen besten Freunden vorzuenthalten. »Auch nicht einen einzigen Augenblick lang hast du dir den leisesten Gedanken darüber gemacht, wie sehr du mich vielleicht kompromittieren könntest. Dan, meine Dienstboten, meine Verwandten – hast du an die nur einen einzigen Gedanken verschwendet?«
»Du lieber Gott, dass du mir solche Albernheiten vorrechnest!«
»Für dich mögen das Albernheiten sein, für mich sind sie’s nicht. Und trotzdem habe ich sie dir geopfert, Miles. Bildest du dir ein, dass mir dieses Opfer gar nichts bedeutet hat? Nein, ich will dir keine Vorwürfe machen. Ich habe deinetwegen viel gelitten – mehr als du weißt –, aber es gab auch viele Glücksmomente – nein, ich mache dir keine Vorwürfe. Ich gehe jetzt, Miles. Und sag den Anquetils bitte nicht, dass ich hier war.«
Beunruhigt und gereizt streckte er die Hand aus nach ihr, als sie sich umdrehte, und erwischte ihren Rock.
»Evelyn, sei nicht lächerlich. Es gibt wichtigere Dinge im Leben als das Gezänk von Liebenden. Streit und Versöhnung – das klingt ja wie ein Handlungsmuster für schlechte Literatur, eine reine Fiktion.«
»Miles, bitte, lass meinen Rock los! Du bist es, der lächerlich aussieht, wie du da im Gras liegst und dich an mich klammerst. Und was meinst du damit, dass Streit und Versöhnung eine bloße Fiktion sind? Schlag dir die Fiktion aus dem Kopf und du bist ein klügerer Mann.«
»Und du lass die Vernunft ein in deinen«, brummte er und ließ sie los, »dann bist du eine klügere Frau!«
»Wir haben beide recht«, sie schaute ihn sehr traurig an; in diesem Augenblick hätte er sie leicht zurückgewinnen können, denn sie war zutiefst unglücklich und schon etwas besänftigt, aber er verpasste die Gelegenheit. Sie ging weg von ihm, quer über das Feld, in dem Kleid, das er vor dem Frühstück so sehr an ihr geliebt hatte.
Böse sah er ihr nach; dann sprang er auf und ging ihr nach.
»Evelyn!«
Sie blieb stehen und wandte sich um, aber sie sagte nur kalt:
»Ich glaube nicht, dass es noch etwas zu sagen gibt, oder …?«
»Diese Streitereien sind so dumm. Wir waren doch so glücklich. «
»Ja, das waren wir, aber du hast alles verdorben.«
»Können wir’s nicht wieder in Ordnung bringen?«
»Wenn du es in Ordnung bringen willst, Miles, dann ruf die Anquetils an und sage ihnen ab.«
Nach einer kleinen Pause sagte er: »Nein«
»Das willst du nicht?«
»Nein, das werde ich nicht tun. Die ganze Angelegenheit ist absurd. Und außerdem ist’s zu spät.«
»Ich verstehe: Du ziehst deine Freunde mir vor. Wir wollen es dabei bewenden lassen.«
Sie ging weiter.
»Ich ziehe meine Freunde mitnichten vor«, hielt er dagegen während er ihr folgte, »aber ich ziehe ein friedliches Leben einem Leben voller vergeblicher und unnützer Aufregungen vor.«
Seine Gewissensbisse waren verflogen, er war nur noch böse und wütend.
Sie blieb stehen und gab zurück:
»Ist das etwa unnütze Aufregung, wenn ich stundenlang dasitze, auf dich warte und an nichts anderes denke, als dass ich dich endlich, endlich den ganzen Tag für mich haben werde. Ja, Miles, ganz recht, und auch die Nacht! Und da kommst du und sagst mir ruhig, dass andere Leute kommen werden, um uns die Zweisamkeit zu verderben, und es kümmert dich nicht im geringsten, dass diese anderen Leute uns genau das rauben, was – wenn vielleicht auch nicht dir – mir so kostbar ist? Du lädst sie absichtlich ein, obgleich du sehr wohl weißt, dass du mir die ganze Freude verdirbst. Du tust es absichtlich, du verdirbst mir die Freude, weil du glaubst, ich sei unvernünftig. Hast du gar keine Phantasie, du, der du so stolz auf deine Intelligenz bist? – Oh doch, Miles, du hast Phantasie; du hast genug Vorstellungskraft, um ganz genau zu wissen, was du getan hast, und das kann ich dir nicht verzeihen. Ich könnte dir Unbedachtheit verzeihen – du bist schließlich auch nur ein Mann –, aber deine böse Absicht, die kann ich nicht verzeihen. Du hattest die Absicht, mich zu verletzen; nun, das ist dir gelungen, aber du hast mich damit verloren.«

 

Exklusiver Vorabdruck mit freundlicher Genehmigung der Editon Ebersbach Berlin.

 

 

Vita Sackville-West
Eine Frau von vierzig Jahren

Edition Ebersbach Berlin 2012
432 Seiten,
Format: 12×19 cm
Erscheinungsdatum: 28.02.2012
EUR 24,80 (D)
ISBN 978-3-86915-047-5

 

Victoria Mary Sackville-West, The Hon Lady Nicolson, genannt Vita, 9. März 1892 auf Knole House, Sevenoaks, Kent bis 2. Juni 1962, Sissinghurst Castle, war eine englische Schriftstellerin und Gartengestalterin. Sie ist auch durch ihre Beziehung mit der Schriftstellerin Virginia Woolf bekannt geworden, der sie als Vorbild für deren Roman Orlando diente.
Sackville-West schrieb über 50 Bücher, am bekanntesten sind ihre Novellen The Edwardians, ein einfühlsames Porträt einer Gesellschaft, und All Passion Spent, eine Beschreibung einer normalen Ehe und des Älterwerdens.
Sissinghurst Castle befindet sich heute im Besitz des National Trust. Der Garten ist mit jährlich etwa 160.000 Besuchern einer der am häufigsten besichtigten Gärten Englands.

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