FRONTPAGE

«Fegefeuer der Ideale»

Von Daniele Muscionico

Sie ist das Kind von Tessiner Auswanderern und wird in Argentinien zur Legende: Die Schriftstellerin Alfonsina Storni (1892–1938) erregt mit ihren Texten öffentlichen Anstoss und brüskiert mit ihrem Lebenswandel. Statt Abhängigkeit wählt sie den Tod.

 

Sie lächelt auf dem Foto. Die Perlenkette ein modischer Kompromiss, Wasserwellen im aschblonden Haar, unelegant kragt die Nase, viel zu breit für ihr Geschlecht. Ihr Geschlecht? Alfonsina Storni wird daran gemessen, auch wenn sie es ablehnt, weil sie unabhängig von ihrem Frausein gesehen werden will. Als Künstlerin will sie Gehör finden und als Intel-lektuelle! Als Wegbereiterin der modernen lateinamerikanischen Lyrik!

Doch Storni ist ungraziös, schnell ist ihr Gang und schnell ihre Neigung, sich zu verlieben. Hindernisse für eine Frau, zumal in der patriarchalen Gesellschaft von Argentinien. «Ich bin eine ausländische Jüdin und trage fünftausend Jahre Traurigkeit auf meinen Schultern», sagt sie ihrer Freundin. Was meint sie damit? Hat sich die Tochter verarmter Tessiner Einwanderer in den Zwanzigerjahren nicht einen Platz erobert in den Intellektuellenkreisen von Buenos Aires? Und als Frau gelingt ihr das, als erster! Mit ihrem Talent und Temperament hat sie sich vorgewagt wie keine vor ihr: Als Journalistin fordert sie die rechtliche Parität für Frauen, bezichtigt aber gleichzeitig ihr Geschlecht der Unterwürfigkeit; als Lyrikerin schreibt sie mit Ironie geätzte Gedichte an die ferne, eitle Landschaft Mann.

 

Lächelnd tut sie das, wie sie zeitlebens lächelt. Alfonsina, die Lehrerin, Schauspielerin, Sozialistin, und – fatal – Alfonsina, die Geliebte eines verheirateten Mannes! Eines bekannten Politikers dazu! Sie ist neunzehn Jahre alt und Landschullehrerin in Rosario, als sie von ihm schwanger wird. Doch sie sucht keinen Ernährer, vielmehr einen Mann, dem sie auf Augenhöhe begegnen kann. Ihr Sohn soll ihren Namen tragen, «ein Kind der Liebe, ein Kind ohne Gesetz». Um der Schande zu entfliehen, zieht sie in die Anonymität von Buenos Aires und nimmt Gelegenheitsarbeiten an. Sie ist arm, und arm wird sie bleiben. Mehr als ein flüchtiges Zimmer in einer Pension wird sie ihrem Sohn nie bieten können. Und hätte sie nicht Freunde, die ihr immer wieder aus misslichen finanziellen Lagen helfen, und dozierte Alfonsina nicht oft an zwei oder drei Schulen, Konservatorien gleichzeitig, wer weiss …?

 

Doch wichtiger als dies alles ist: Nach vier Jahren in Buenos Aires ist sie so weit – sie kann endlich ihren ersten Lyrikband veröffentlichen. Die Rückzahlung der dafür notwendigen fünfhundert Pesos wird sie ein Leben lang belasten, doch Storni hat ihre Stimme erhoben als Dichterin! Denn sie schreibt seit ihrer Kindheit, dichtet, wie sie atmet, unterwegs, in der Strassenbahn, auf halbgeöffneten Koffern. Und fehlt das teure Papier, eilt sie zum nächsten Postamt, um sich mit Telegrammblöcken zu behelfen. Alfonsina ist zur Poesie «gebrandmarkt» (so schreibt sie in einem ihrer letzten Gedichte).
Der erste Literaturpreis lässt nicht lange auf sich warten, dann folgt der nächste, und 1922 wird sie mit der höchsten Ehrung ausgezeichnet, dem argentinischen Staatspreis für Literatur. Sie ist eine genuine Poetin, die Leidenschaft für das geschriebene Wort ist das Blut, das in ihr glüht, der Nerv, der vibriert: Dichtung als hochempfängliche Antenne für die Verwerfungen der Zeit. Die Existenz ihres illegitimen Sohnes ist lediglich ein ähnlicher Skandal, wie ihre Poeme es sind: kühn in ihrer Metaphorik, unverblümt in ihrer Thematik, neu für die Zeit, scharf, satirisch, sarkastisch, sozialkritisch … Alfonsina scheint ausersehen, schreibend das Laufgitter ihrer Geschlechtsgenossinnen durchbrechen zu müssen als ihren persönlichen Käfig.

 

Doch anklagend ist ihr Ton in keinem Moment. Sie lächelt, als Kritiker sie missverstehen wollen und ihre neunbändige Lyrik schmalreden; sie ignoriert, dass Journalisten mit ihr lieber über die neuste Mode plaudern, als sich mit ihrem Werk auseinanderzusetzen oder mit ihren spitzen Bemerkungen zu Geschlechterfragen. Sie akzeptiert, dass ihre erste Komödie 1927 zwar im Beisein des Staatspräsidenten aufgeführt wird, doch die Kritik auf ihre nachdrückliche frauenrechtliche Parteinahme so feindlich ist, dass sie das Stück umgehend vom Spielplan nimmt. Und sie sieht sich machtlos, als auf dem Höhepunkt der angeblichen Wertschätzung ein Starkult sich Bahn bricht, eine doppelmoralische Legendenbildung, die Mercedes Sosa krönen wird mit dem Lied «Alfonsina y el Mar».

 

Insgeheim hat sich die Poetin Storni längst ins innere Exil begeben. Sie wird zwar verehrt für ihren militanten Idealismus – doch mindestens so sehr auch verurteilt für ihre intellektuelle und erotische Unabhängigkeit und für ihre Forderung, mit demselben Mass gemessen zu werden wie ein Mann. Sie muss erkennen, dass ihre Ansprüche an die Wirklichkeit diese übersteigen. Zu alledem hat sie gelächelt, Storni, die viel zu Frühe, Storni, die zerrissene Europäerin. Sie lächelt bis zu jenem Moment, als sie sich von allen irdischen Abhängigkeiten losreisst – und freien Willens und freien Schrittes ins Meer geht. Zum Schluss.

 

Der Anfang? Ein Mädchen, das im Tessin aufwächst, vier Jahre lang lebt Alfonsina als drittes Kind der Familie in Sala Capriasca im Bezirk Lugano. Sie soll wie ihr Vater heissen, Alfonso, Alfonsina: «Bereit sein für alles» hat sie den Namen übersetzt. Ihre Eltern verlassen 1896 das Tessin, das Armenhaus der Schweiz, gründen eine neue Existenz am Fuss der Anden. Doch nichts glückt, und was missglückt, ist später schwer auszumachen, die Mythenbildung hat eine fette Schicht Sentiment über Alfonsinas frühe Jahre gelegt. Ist es eine Alkoholkrankheit des Vaters, sind es seine Gemütsverstimmungen, die auch über der Tochter schweben werden?
Gesichert ist, dass Storni ihre erste Heimat noch einmal sieht. Auf einer kurzen, schnellen Europareise, wo sie in Madrid wie ein Star gefeiert wird, flattert sie 1930 auch durch ihr Geburtshaus, erklimmt den Estrich, erinnert sich an die Spatzen dort … und flügelt bereits wieder weiter und davon. Ihre argentinische Kindheit dauerte kurz. Sie ist zwölf Jahre, als ihr Vater stirbt, und muss von nun an ihre Familie miternähren.
Und dann, Legenden, wie gesagt. Ein Leben als Mythos, schon vor ihrem Tod, der so unabänderlich Gestalt annimmt, wie ihr Leben ihr immer mehr aus den Händen entgleitet seit 1935. Da ist die Militärdiktatur im eigenen Land, der Faschismus in Europa, dem ein Freund wie Federico García Lorca zum Opfer fällt. Und dann: Brustkrebs! Die Diagnose auf einen Schmerz, der ihr eine Welle, die beim Baden an den Oberkörper prallt, meldet. Sie wird operiert, erfolglos. Das Urteil ist gesprochen: Wenn ihr Leben ein Ringen um Selbstbestimmung war, so muss es auch ihr Tod sein.

 

Januar 1938 – sie wird mit Gabriela Mistral und Juana de Ibarbourou als «weibliches Dreigestirn» der lateinamerikanischen Poesie nach Montevideo eingeladen. Die Ehrung klingt nur noch schal. Ende Oktober reist sie ans Meer, sucht erfolglos einen Revolver, schreibt ihr letztes Gedicht, schickt es mit der Abendpost kommentarlos der Zeitung «La Nación» – und geht ins nachtdunkle Wasser. Das Poem wird sogleich gedruckt. Und am Bahnhof von Buenos Aires warten zweitausend Menschen auf die sterblichen Überreste einer grossen Poetin. Ein Zeichen von Liebe. Oder von Schuld?

Courtesy Limmat Verlag Zürich

 

 

Alfonsina Storni (geb. 29. 5. 1892 in Sala Capriasca TI, gest. 25. 10. 1938 in Mar del Plata, Argentinien) war eine Tessiner Poetin, Argentiniens grösste Avantgarde-Lyrikerin und feministische Journalistin. Als mittellose Immigrantin und Mutter behauptete sie sich in Buenos Aires als Dichterin, veröffentlichte neun Gedichtbände, schrieb Theaterstücke und wurde mit den bedeutendsten argentinischen Literaturpreisen geehrt. Ihr Freitod 1938 machte sie zu einem nationalen Heiligtum, woran auf Briefmarken, einem Denkmal und mit Strassennamen erinnert wird. Im Limmat Verlag Zürich ist 2013 eine Publikation mit Gedichten von Alfonsina Storni  geplant.

 

Daniele Muscionico

Starke Schweizer Frauen

24 Porträts

Vorwort von Margrit Sprecher
170 Seiten, 24 Fotografien, Pappband

Limmat Verlag Zürich 2011

CHF 34., € 30.

ISBN 978-3-85791-637-3

 

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