FRONTPAGE

«Feminismus für Fortgeschrittene»

Von Sacha Verna

In ihrem aktuellen dritten Roman «Die Frauen» entwirft die US-Autorin Kate Walbert anhand von fünf Frauenleben das Bild eines Jahrhunderts und lässt dabei die Emanzipationsgeschichte weit hinter sich.

Dover, Delaware 2003: «Ich versuche nur zu handeln», sagt Dorothy. Aber Caroline sieht in ihrer Mutter bloss eine 78-jährige Verrückte, die auf einem Armeestützpunkt gegen den Krieg in Irak protestiert und einen Soldaten in die Hand gebissen hat und nun wegen gesetzeswidrigen Verhaltens, Hausfriedensbruch und schwerer Körperverletzung im Gefängnis sitzt. Wie peinlich. Schnitt.
Wardsbury, England, 1914: Eine andere Dorothy, die Grossmutter der Demonstrantin, hungert sich in einem Krankenhausbett für das Frauenwahlrecht zu Tode. «Könnte sie ihnen erklären, dass sie keine andere Wahl hatte? Dass sie nichts anderes zu opfern hatte als ihr eigenes Leben?», fragt sich diese Dorothy. «Ihnen» sind ihre Kinder, die als Waisen aufwachsen werden, hin- und hergerissen zwischen Wut und Verzweiflung darüber, dass ihre Mutter ihnen einer Sache wegen die Kindheit gestohlen hat.
Wut spielt eine zentrale Rolle in Kate Walberts neuem Roman. Wut und der Wunsch, «real zu sein», wie es eine der Figuren einmal nennt. «Die Frauen» erstreckt sich über fünf Generationen, von der Sufragette bis zu ihrer Ur-Urenkelin. Das Thema geht über die üblichen Emanzipationshistörchen freilich weit hinaus. Wann hört eine Tat auf, lediglich eine symbolische Geste zu sein? Wie bewirkt man wirklich etwas, und wie viele sind dazu nötig?

 

 

Man braucht nicht gleich den mittlerweile ziemlich herbstlichen «arabischen Frühling» zu beschwören, um zu verstehen, wie aktuell diese Fragen zurzeit sind. Bananenschalen reichen. Macht es einen Unterschied, ob ich die meinen kompostiere? Mache ich einen Unterschied? Dieser Roman handelt von der Verantwortung, von der Macht und der Ohnmacht des Einzelnen.

 

Die Frühfeministin Dorothy kommt immerhin auf eine Briefmarke. Die Spätzünderin Dorothy kommt wie erwähnt kurz ins Gefängnis, aber doch auch auf ihre Kosten. Sie lässt sich nach fünfzig Ehejahren scheiden und fängt an zu bloggen. Über die Hochfrisuren und Hängekleidchen, in denen sie einst die obligaten Cocktailpartys schmiss. Über ihre Ernüchterung im Alter und ihre Entdeckung von Florence Nightingale: «Warum Florence Nightingale? Weil sie, und das zuvorderst, TAPFER war. Sie schuf sich ein anderes Leben. Sie machte sich die Hände schmutzig. Sie akzeptierte nicht, was sie nicht ertragen konnte.»

 

 

Kate Walbert erzählt die Geschichten ihrer Protagonistinnen in Form innerer Monologe. Virginia Woolfs «Mrs. Dalloway» winkt von ferne. Da ist Evelyn, die Tochter der Hungerartistin, die nach Amerika auswandert und als Professorin für Chemie zu relativem Ruhm und Ehren gelangt. Allerdings nicht zu innerem Frieden. Da ist Liz, die Tochter der Bloggerin, in der während eines perfekt geplanten Spieletreffens ihres Sprösslings die Ahnung aufsteigt, dass ihr Dasein als gestresste Mama in Manhattans Upper Class vielleicht doch nicht das Wahre ist. Und die sich nach dieser Erkenntnis hemmungslos betrinkt.

 

 

Nicht alle Stimmen sind gleich eindringlich. Nicht alle Biografien gleich packend. Doch gelingt es Kate Walbert hervorragend, die Atmosphäre einzelnder Epochen einzufangen: Die der Jahre des Ersten Weltkriegs in England, die Evelyn in einer Mädchenanstalt verbringt, eisige Füsse und eisige Herzen inklusive. Die diffusen Ängste in den USA nach dem 11. September, die mehr als das persönliche Glück oder Unglück betreffen. So entsteht das Bild eines Jahrhunderts – in kleinen Ausschnitten zwar und aus der Perspektive von unten. Aber gerade deshalb anschaulich und fassbar.

 

 

Männer haben in «Die Frauen» durchaus auch eine Rolle. Besonders Charles, der Mann und dann unfreiwillige Ex-Mann von Dorothy II ist mehr als ein Statist. Er versucht zu begreifen, wohin die Frau verschwunden ist, die er geheiratet hat und liebt sie darüber nur noch mehr. Er bleibt auf der Strecke, wie auch die Kinder von Dorothy I Wunden davongetragen haben. Denn, so zeigt Kate Walbert: Selbstaufopferung ist stets mit einer zünftigen Portion Egoismus verbunden. Eine Menge von dem, was man meint, für andere oder im Namen einer Sache zu tun, tut man für sich selber. Um sich besser zu fühlen. Um sich einzubilden, mehr zu sein als ein Glühwürmchen im Universum. Das galt für Jeanne d’Arc ebenso, wie für die Bananenschalen-Kompostierer und die Besetzer der Wall Street von heute gilt.

 

 

Kate Walbert hat bisher zwei Romane, einen Band mit Kurzgeschichten und eine Anzahl von Theaterstücken verfasst. «Die Frauen» ist ihr dritter Roman und wurde von der New York Times zu einem der zehn besten Bücher des Jahres gewählt. Es ist an der Zeit, dass man diese Autorin auch hierzulande zu lesen beginnt. Walbert schreibt nicht als Frau über Frauen für Frauen. Sie schreibt als Mensch über Menschen für alle.

 

 

Kate Walbert
Die Frauen.
Aus dem Amerikanischen von
Brigitte Heinrich. Roman.
BTB-Verlag, München 2011.
320 Seiten. 19.99 Euro/30.90 Franken.

Kate Walbert studierte Kommunikationswissenschaften in New York. Sie veröffentlichte zahlreiche Kurzgeschichten und wurde mit mehreren literarischen Preisen ausgezeichnet. Ihre erste Storysammlung „Where she Went“ stand auf der Liste der „New York Times Notable Books of 1998“. Die Autorin unterrichtet an der Yale University und lebt in New York und Connecticut. Als Kind verbrachte sie ein Jahr mit ihrer Familie in Kyoto, und ihre Erlebnisse in Japan haben sie nachhaltig beeinflusst: „Die Gärten von Kyoto“ (2001) wurde mit dem Pushcart Prize und O. Henry Award ausgezeichnet.

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