FRONTPAGE

«Funkelnde Tage: Florian Illies erklärt uns das erstaunliche Jahr 1913»

Von Hans von Trotha

 

 

Das Jahr 2014, und mit ihm die Erinnerung an den ersten grossen Kriegsausbruch des 20. Jahrhunderts, wirft seine Schatten voraus. Da wirkt es wie der Coup eines ausgebufften Medienprofis, mit dem Titel 1913 vorzupreschen. Florian Illies ruft in seinem neuen Buch gleich den Sommer des Jahrhunderts aus.

Und er überrascht, ja überrumpelt mit einer intelligent arrangierten Materialwucht, die der vollmundigen Ankündigung nicht nur standhält, sondern die in ihrer Fülle, Vielfalt, Originalität und tieferen Bedeutung überzeugt.

Prousts Recherche, Musils Mann ohne Eigenschaften, Joyce’ Ulysses, Thomas Manns Zauberberg, Kafkas Briefe an Felice Bauer haben Wurzeln im Jahr 1913. Die Künstlergruppe Brücke löst sich auf. Gertrude Stein schreibt: »Eine Rose ist eine Rose ist eine Rose«. Die Mona Lisa wird gestohlen. Max Weber diagnostiziert die Entzauberung der Welt, Oswald Spengler den Untergang des Abendlandes, und Adolf Loos erklärt das Ornament zum Verbrechen. In Paris kracht das althergebrachte Kulturgefüge in der legendären Uraufführung von Strawinskys Le Sacre du Printemps spektakulär zusammen. Kokoschka malt Alma Mahler-Werfel, Kirchner die erste Berliner Straßenszene, Malewitsch das Schwarze Quadrat. Büchners Woyzeck wird uraufgeführt, die Firma Prada gegründet, die Droge Ecstasy erfunden, der erste Aldi-Markt eröffnet: Es funkelt nur so vor Entdeckungen. Es ist nicht zuletzt die schiere Masse gleichzeitig sich abspielender Ereignisse, die Illies’ 1913 und sein Jahr 1913 ausmacht.
»Tempel der irritierenden Gleichzeitigkeit« – mit dieser Formulierung charakterisiert Florian Illies die Sammlung des Kunsthistorikers Julius Meier-Graefe. Illies hat, voller Begeisterung, sein Jahr 1913 als einen solchen Tempel inszeniert. Er lässt uns an seinem Staunen teilhaben. In kurzen Abschnitten reiht er Momentaufnahmen aneinander, dem Jahresverlauf folgend. Nur wenigen Geschichten gönnt er zwei, drei Seiten. Es herrscht eine Dichte von enormer Sprengkraft.
Illies arrangiert, inszeniert, pointiert. Mit welchem Ziel? Die Frage ist nicht leicht zu beantworten. Historische Analyse ist es nicht. Er will nicht verstehen, nicht erklären, keine Zusammenhänge herstellen, die sich nicht von selbst (oder wie von selbst) einstellen. Er will funkeln. Er will die Gleichzeitigkeit nicht auf ihre Bedeutung hin befragen, sondern zum Glänzen bringen. Das gelingt ihm. Aber es hat seinen Preis. So objektiv die Materialsammlung sich gibt, so subjektiv ist sie am Ende doch. Sie folgt der Vision eines Kunsthistorikers und, mehr noch, Kunstliebhabers. Es ist das Geschichtsbild eines Feuilletonisten. Im Gegensatz zum Historiker kann der heranziehen, was ihn interessiert, anregt, amüsiert. Er unterliegt keiner Verpflichtung zur Vollständigkeit, keinem Gebot der Ausgewogenheit. Die Sammlung des Feuilletonisten ist eine pointillistische Impression, die das Missverständnis in Kauf nimmt, für eine historische Bestandsaufnahme gehalten zu werden.
Es ist gewagt, das Jahr vor der Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts mit einem feuilletonistischen Feuerwerk auszuleuchten. Aber es funktioniert. Der Kitt, der die Splitter zusammenhält, ist die Brillanz des Arrangements. Die zeigt sich gerade da, wo der Autor sich zurücknimmt. Macht er dagegen mit launigen Zwischenbemerkungen wie »Soso« oder »Nun aber schalten wir zu Arnold Schönberg« auf sich aufmerksam, verliert sie an Überzeugungskraft.
So ganz traut Illies seinem Prinzip, die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen für sich sprechen zu lassen, nicht. Er sucht nach Formulierungen, Begriffen, Gedanken, mit denen er einen Absatz mit dem nächsten – meist distanzierend ironisch – verbinden kann. Damit unterminiert er sein Projekt im Interesse kurzfristiger Gefälligkeit. Die Pointendichte macht es einem manchmal schwer, die Sache selbst noch zu begreifen. Dabei sind Pointen hier wichtig, nicht nur der Unterhaltung wegen. Die Wucht, die Komplexität und auch die Schwere, die einem da vor Augen stehen, wollen auch wieder aufgefangen werden.
Es stellt sich die Frage: Wie ernst nimmt Illies die Kunst, die Menschen, die Leben, die er für uns zitiert? Sind ihm die Künstler aller Sparten am Ende nicht vor allem Lieferanten – ihrer Werke und seiner Pointen? Im Umgang mit den Werken ist das völlig legitim. Aber Illies zitiert eben nicht nur die, sondern auch die nicht selten prekären, mitunter erbärmlichen, oft tieftragischen Umstände, unter denen sie entstanden sind. Das Tragische wird in der Abbreviatur zur Anekdote. Das kann schmunzelndes Einverständnis hervorrufen (»Rilke hat immer noch Schnupfen«). Es kann aber, bei Kafka etwa oder bei Kokoschka, bei Trakl oder Else Lasker-Schüler, auch etwas Frivoles haben.
Als Erzähler bleibt Illies Spieler. Er spielt mit dem Jahr 1913, mit dem 20. Jahrhundert, mit Zitaten, Leben, Werken und mit dem Vorwissen seiner Leser. 1913 ist eine ins Leichte gespielte, sich weitergehender Verantwortung entledigende Variante der sogenannten synoptischen Geschichtsschreibung. Deren bekanntestes Dokument ist der Kulturfahrplan. Sein Autor Werner Stein wurde 1913 geboren. Illies verzeichnet es und setzt davor: »Natürlich«.
»Wir spielen alle. Wer es weiß, ist klug«, schreibt Kurt Tucholsky 1913, Arthur Schnitzler zitierend. Illies kommentiert: »Das ist so etwas wie der geheime Code des Jahres 1913.« Es ist auch der geheime Code von 1913.
(Courtesy DIE ZEIT, 29.11.2012 Nr. 49)

 

 

Florian Illies
1913
Der Sommer des Jahrhunderts
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2012; 320 S.,
19,99 € , ISBN 078-3-10-036801-0
als E-Book 17,99.

 

Buchtipp:

Hans von Trotha
Der englische Garten
Eine Reise durch seine Geschichte
Wagenbach SALTO. 3. Auflage 2006
144 Seiten. Rotes Leinen. Fadengeheftet
Mit vielen Abbildungen und einer Karte.
15,90 €.
ISBN 978-3-8031-1180-7

 

Hans von Trothas Reise in die Geschichte des Englischen Gartens führt in zwölf der bedeutendsten, originellsten und schönsten Parks Grossbritanniens, die man alle heute noch besuchen kann.
Im 18. Jahrhundert wurde die Gartenkunst in England neu erfunden. Anstelle der streng symmetrischen Anlagen des französischen Barock traten künstliche Landschaften, die von der Natur bald kaum noch zu unterschieden waren. Gärten, die so taten als seien sie nicht Kunst, sondern selbst Natur. Gärten sind immer mehr gewesen als nur schöne Orte zum Verweilen und Spazierengehen.

Sie sind komplexe Schöpfungen, Gesamtkunstwerke, die allen Sinnen schmeicheln, um ihre Botschaft zu verkünden. Nirgends wird das Verhältnis des Menschen zur Natur, zur eigenen Sinnlichkeit, zu seiner Umgebung und zu sich selbst so deutlich. Ein handliches, schön gestaltetes Buch für Gartenliebhaber und solche, die es werden wollen.

 

Hans von Trotha
Gartenkunst
Quadriga Verlag, Berlin 2012,
Gebunden, 192 Seiten, 19,99 EUR.
ISBN 3869950455

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