FRONTPAGE

«Gedichte aus Syrien: Deine Angst – Dein Paradies »

Von Ingrid Isermann

 

Die Dichter waren die ersten Demokraten. Eine auf den ersten Blick steile These – für den arabischen Raum trifft sie zu, ob in der fernen Geschichte des Goldenen Zeitalters der Lyrik des Hohen Mittelalters oder in der Neusten Geschichte, etwa der Revolution in Syrien im Arabischen Frühling, die zum Vernichtungskrieg ausartete.

In Syrien waren die Dichterinnen und Dichter ganz vorn bei denen, die sich für eine Demokratisierung der Gesellschaft einsetzten. Sie haben es gebüsst durch Verfolgung und Exil, jetzt leben einige von ihnen in Deutschland und sind somit die nächsten Nachbarn, die das Projekt »Poesie der Nachbarn. Dichter übersetzen Dichter« je als Gäste hatte.

 

 

 

Rasha Omran

 

Wanduhr

 

Mit dünnem schwarzem Stift

male ich eine Uhr aufs Weiss der Wand

und stelle sie auf zwölf.

Warte Tag für Tag, dass die Zeit vergeht,

umsonst.

Nach und nach verblassen die Linien,

das Rund,

die Zeiger,

die Ziffern.

Nur die Zahl zwölf bleibt übrig,

hängt blass und schwarz

im leeren Weiss der Wand.

 

(übersetzt von Jan Wagner)

 

 

Lina Tibi

 

angst

 

deine angst dein paradies

die vielen spiegel die du umkreist

die wand die dein gesicht abhält, auf passanten zu knallen

deine angst  deine gebärmutter

es dient dir ihr wasser zur rituellen waschung

um der angst willen lenkst du dich ab von ihr

um der angst willen auch

empfängst du gäste an deinen rändern

winkst dem tag zu mit deinem lächeln

heisst den morgen willkommen

schliesst die nacht mi einem neuen morgen ab

deine angst  dein stern

wenn du dich umdrehst leuchtet er

und schrumpft bei grellem licht

deine angst  dein ebenbild

die röte deiner wangen

das ausgewogene zittern deiner hände

das hängen der guillotine bei deiner tür

die verkrochenheit von deinem aussenwesen

deine angst  dein lobpreis  deine haartracht

und der regen der in dir bebt,

deine angst  deine nacht

wie sie vorantappt im licht ihres dunkels

und dich dann hochhebt

dein baum bei deinem fenster

dein berühren   dein knie

deine angst  dein taschentuch

du trocknest mit ihm den tag

und stehst auf

deine angst die dich zeichnet

dich packt ab heute

deine spiegel zum schwitzen bringt

dan fliehst du vor katzen hunden und freuden

deine angst  dein paradies

dein herz wenn es zuckt

deine angst  dein schlüssel

er ist stets in deiner hand

deine angst klopft an die tür

mach ihr auf

 

(übersetzt von Dorothee Grünzweig)

 

 

Raed Wahesh

 

den messias persönlich

sah ich am heiligen abend

 

er war es. ich schwöre, ich sah ihn ein wildes taxi fahren, im seitenfenster erkannte ich

sein kantiges gesicht mit den feurigen augen

nicht so sanft und ergeben, wie er auf dem leidensweg für uns das kreuz schleppte

 

ein verkehrspolizist stoppte ihn, er spuckte aus dem seitenfenster,

fuhr unbekümmert weiter

und an der ecke, wo der weihnachtsbaum stand, hielt er an, um

maria magdalena abzuholen

er umarmte sie gierig, raste dann los, so schnell die karre konnte

 

am heiligen abend

sah ich ihn

er schmiss die evangelien aus dem fenster

flüchtete alleine mit maria magdalena

vielleicht vor seinem geburtstag

vielleicht vor der ahnung, dass ihm gefahr drohte

 

der messias

ja, das war er

isa ben mariam

er wollte uns sagen

„mein reich ist nicht von dieser welt“

 

(übersetzt von Brigitte Oleschinski) 

 

 

 

 

Hg Hans Thill, Mohmmad Al-Matroud,
Lina Atfah, Aref Hamza, Lina Tibi, Raed Wahesh
Übersetzung: Dorothea Grünzweig, Brigitte Oleschinski, Christoph Peters, Joachim Sartorius, Julia Trompeter
Deine Angst – Dein Paradies
Gedichte aus Syrien

Wunderhorn, 2018
190 Seiten, gebunden, zweisprachig,

24,80 €
ISBN: 978-3-88423-582-9

 

Herausgeber
Hans Thill, geboren 1954 in Baden-Baden, lebt seit 1974 in Heidelberg als Lyriker und Übersetzer. Peter-Huchel-Preis 2004. Mitbegründer des Verlags Das Wunderhorn. Leiter der jährlichen Übersetzer-Werkstatt »Poesie der Nachbarn. Dichter übersetzen Dichter« und Herausgeber der gleichnamigen Reihe. Mitherausgeber der »Reihe P«. Im September 2010 wird Hans Thill künstlerischer Leiter des Künstlerhaus Edenkoben.

 

Brigitte Oleschinski, *1955 in Köln, lebt heute als Autorin in Berlin. Sie studierte Politische Wissenschaften an der Freien Universität Berlin und arbeitete als Zeithistorikerin zu Fragen der politischen Repression in totalitären Systemen. Zahlreiche Auszeichnungen, u.a. Erich-Fried-Preis (2004), Ernst-Meister-Preis (2001), Peter-Huchel-Preis (1998).  «Geisterströmung». Gedichte, mit CD «Wie Gedichte singen», Köln (DuMont Literatur und Kunst Verlag) 2004.

 

 

Jan Wagner, *1971 in Hamburg, lebt in Berlin. Lyriker, Essayist, Übersetzer englischsprachiger Lyrik, freier Literaturkritiker. Zahlreiche Auszeichnungen, u.a. Preis der Leipziger Buchmesse (2015), Georg-Büchner-Preis (2017).

 

 

Dorothea Grünzweig, *1952 in Korntal (Württemberg). Lyrikerin und Übersetzerin. Tätigkeiten an der schottischen Universität Dundee und als Lehrerin in Süddeutschland und Helsinki. Seit 1998 lebt sie als freie Schriftstellerin und Lyrik-Übersetzerin in Südfinnland. Zahlreiche Auszeichnungen, u.a. Preis der Schillerstiftung für Lyrikerinnen (2010), Kurt Sigel-Lyrikpreis (2018).

 

 

Rasha Omran, *1964 in Tartus. Gründete und leitete das Literatur- und Kulturfestival Al-Sindiyan in ihrer Heimatstadt. Zahlreiche Gedichtbände. 2012 wurde sie aufgrund ihres Engagements für die Revolution des Landes verwiesen. Nach einem kurzen Aufenthalt in Paris lebt sie inzwischen in Kairo.

 

 

Lina Tibi, *1963 in Damaskus. Sie ist Mitbegründerin des Literaturmagazins Al-Katiba (dt. Die Schriftstellerin) mit Sitz in London. Ihre Gedichte wurden ins Spanische, Englische, Französische, Italienische, Deutsche und Russische übersetzt. Derzeit lebt sie in Berlin.

 

 

Raed Wahesh, *1981 in Damaskus. Palästinensisch-syrischer Lyriker. 2013 war Wahesh Gast im Heinrich-Böll-Haus. Inzwischen lebt er in Hamburg. Teilnahme an zahlreichen Poesiefestivals. Diverse Gedichtbände. 

 

 

 

 

«Ilma Rakusa – Impressum: Langsames Licht»

 

15 Jahre nach ihrem letzten Gedichtband, «Love after love», bringt sich Ilma Rakusa wieder als Lyrikerin in Erinnerung. «Impressum: Langsames Licht» ist ein in mehrere Abschnitte gegliederter Band mit rund 90 kürzeren und längeren, auch mehrteiligen Gedichten, die die Themen und poetischen Verfahren ihres gesamten Werks exemplarisch vorführen.

 

Sie ist eine Kosmopolitin, die Lyrikerin und Übersetzerin Ilma Rakusa, u.a. der russischen Schriftsteller. Ihr Ort ist die ganze Welt, bevorzugt aber wird der Osten Europas. Ilma Rakusa ist eine Schauende, die mit Achtsamkeit und Behutsamkeit das Eigene im Fremden entdeckt, mit einer geschmeidigen, hochmusikalischen und zu poetischer Dichte komprimierten Sprache.

 

Die subtilen Bewegungen der Erinnerung, das sensible Registrieren vergehender Zeit, der genaue Blick: daraus entsteht in diesen Gedichten eine ungewohnte Schönheit, die die klassischen Topoi (Natur, Vergänglichkeit, Sehnsucht) auf selbstverständliche Weise mit aktuellen gesellschaftlichen Fragen verbindet.

 

 

Warten auf Schwalben
Der Flieder verblüht, doch die braunen Blüten

erinnern. Im Grün. So schnell der Wechsel,

eben noch Duft, dann keiner. Jetzt blüht es

nebenan, schaumweiß, ein kleiner Strauch

und will es beweisen. Die Vögel sporadisch,

im Dickicht versteckt. Schwalben? Albern

keine herum. Und warum? Im galizischen

Lemberg schrien sie schon, über spitzen

Giebeln. Hier nicht. Sind wo hängen

geblieben. Ich möchte wissen, an welchen

Drähten. Späher, weißt du’s?

 

 

 

Gedicht gegen die Angst
Streichle das Blatt

 

küsse den Hund

 

tröste das Holz
hüte den Mund

 

zähme den Kamm

 

reime die Lust

 

schmücke den Schlaf

 

plätte den Frust

 

neige das Glas
wiege das Buch

 

liebe die Luft

 

rette das Tuch

 

schaue das Meer

 

rieche das Gras

 

kränke kein Kind

 

iss keinen Fraß

 

lerne im Traum

 

schreibe was ist

 

nähre den Tag

 

forme die Frist

 

lenke die Hand

 

eile und steh

 

zögere nicht

 

weile wie Schnee

 

öffne die Tür

 

lade wen ein

 

schenke dich hin

 

mache dich fein

 

 

 

Praha, Bücherkauf

Im Antiquariat eine Kiste mit

hebräischen Gebetsbüchern

und Kafkas Briefe an die Eltern

ich lese von Alkoholinjektionen

Pyramiden und einem nicht

lobenswerten Gewicht von 50 kg

kein Zufall dass ein Band über

jüdische Friedhöfe gleich daneben

liegt

säuerlicher Kellergeruch in den

Seiten soll ich kaufen soll ich nicht?

«Schwellung hinten» «Infiltration»

Lazarethgasse undsoweiter werde

gemustert mein Zögern steht mir

im Gesicht

dann wandert alles in die Tasche

die ganze Sanatoriumszeit mit

Dora mittendrin und mährischen

Grabsteinen und zuoberst die

Gebete zu Rosch Ha-Schana

woher das Krümelchen in meiner

Hand?

draussen Grau bei zerschrammtem

Himmel ich werde keine Vögel

meiden keine

 

 

 

Kyoto

Ist es der Garten

ist es der Stein?

Keine Animationen

keine Animositäten

morphologisch richtig

steh ich an der Stelle

wo alles einerlei wird

Ein Vogel hustet

der Atem färbt sich

rot die Füsse fühlen

schuhlos das kühle

Tempelholz und

leer reimt sich der

Himmel auf nichts

oder sich selbst

 
Ilma Rakusa
Impressum: Langsames Licht
Droschl-Verlag, 2016
184 S., gebunden , 13 x 21 cm
€ 20
ISBN: 9783854209492

 

 

Ilma Rakusa, geboren 1946 als Tochter einer Ungarin und eines Slowenen, studierte Slawistik und Romanistik in Zürich, Paris und St. Petersburg. Sie lebt als Schriftstellerin, Übersetzerin, Publizistin (NZZ, Die Zeit) und Universitätslehrbeauftragte in Zürich. Nicht zuletzt mit ihren zahlreichen Übersetzungen aus dem Russischen (Zwetajewa, Remisow), Französischen (Duras), Serbokroatischen (Kiš) und Ungarischen (Kertész, Nádas) trägt sie zur Vermittlung osteuropäischer Literaturen bei. Von ihrem umfassenden Werk erschienen bei Droschl ihre Poetikvorlesungen «Farbband und Randfigur» (1994), der Essayband «Langsamer!» (2005), die Erinnerungspassagen «Mehr Meer» (2009), das Berlin-Tagebuch «Aufgerissene Blicke» (2013) und der Erzählband «Einsamkeit mit rollendem r»(2014).
Rakusa wurde mit dem Petrarca-Übersetzerpreis (1991), dem Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung (1998), dem Adelbert-von-Chamisso-Preis (2003), dem Vilenica-Preis für europäische Literatur (2005), dem Schweizer Buchpreis (2009), dem Manès-Sperber-Preis (2015) und dem Berliner Literaturpreis (2017) ausgezeichnet. Berufung der Freien Universität Berlin auf die Gastprofessur für deutschsprachige Poetik der Stiftung Preussische Seehandlung.

 

 

 

«Pietro DeMarchi: Das Orangenpapier»

 

Im Zentrum des dritten Gedichtbandes von Pietro DeMarchi stehen Menschen, deren Stimmen, Aussagen und Geschichten der Autor liebevoll nachzeichnet, mit Grandezza, souveräner Leichtigkeit und seinem Blick in tiefgründige Zusammenhänge und uns so veranlasst, die Worte zu hinterfragen, ihnen jenen Sinn zu geben, der ihnen zukommt und der sich hinter ihren schlichten, exakt gefügten Rhythmen verbirgt.

 

SPRACHEN IM TRANSIT

 

Mit den Menschen

schreiten sie über Grenzen,

sind leicht wie die Luft,

wie der Atem des Sprechers.

Sie zahlen keine Maut,

keinen Zoll,

und keiner kann sie einsperren

oder Sand

oder Kalk auf sie werfen.

 

 

 

MAIHIMMEL IN DER LOMBARDEI

 

Wenn die Vorhut der sommerlichen Sterne

gegen Osten aufleuchtend hervortaicht,

eitf Merkur am wstlichen Himmel

wie vorgesehen erschimmern und Mars

 

ist in blendemdem Glänzen eine Nacht lang

unser Begleiter. Und wer immer es will,

wird Sternschnuppen sehen, Schwärme

von Meteoriten, Kometen,

 

zerstäubend, zerstiebend…

Doch nicht der astronomische

Himmel ist dein Himmel im Mai, der im Heute

aufleuchtet, sich weitet, so wie damals

 

der Himmel, der liebe, all unserer Gestern,

im Schwarm deiner Gedanken bleibt er – unvergessen.

 

 

 

L’ÉTRANGER

 

Ein Wort ohne Etymon sein,

eine Wirkung ohne ersichtliche Ursache,

ein Regen ohne Wolken am Himmel.

 

 

Fast die Hälfte deines Lebens hast du gebraucht,

um verstehen zu lernen, was für dich

Auswärtiger, Ausländer sein, bedeutet,

 

und wenn du nun irgendeinem Farinata

wer waren deine Ahnen

zu erzählen versuchst

 

sei gewiss: er verseht dich nicht.

 

 

Pietro DeMarchi, *1958 in Seregno (Mailand), lebt seit 1984 in Zürich und lehrt italienische Literatur an der Universität. Er schreibt Gedichte und Kurzprosa. 1999 erschien der Gedichtband «Parabole smorzate e altri versi» mit einem Vorwort von Giorgio Orelli, 2007 der Bad «Replica», ausgezeichnet mit dem Schillerpreis, 2013 der Erzählband «Ritratti levati dall’ombra», «Das Orangenpapier»/La carta delle arance» wurde mit dem Gottfried Keller-Preis 2016 ausgezeichnet. 

 

 

Pietro DMarchi

Das Orangenpapier/

La carta delle arance

Limmat Verlag, Zürich 2018

2-sprachig italienisch und deutsch

Aus dem Italienischen von Christoph Ferber

160 S, geb. mit Schutzumschlag

CHF 38. € 38.

ISBN 978-3-85791-798-1

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