FRONTPAGE

«Gedichte von Tracy K. Smith und Igor Bulatovsky»

Von Ingrid Isermann

Literatur & Kunst stellt Ihnen zwei neue Gedichtbände aus der «Reihe P» des Wunderhorn Verlages vor, einer Bibliothek der Modernen Poesie, in der die weltweit wichtigsten Stimmen der zeitgenössischen Lyrik in beispielhaften Nachdichtungen präsentiert werden. Herausgeber sind Joachim Sartorius, Hans Thill und Ernest Wichner.
Tracy K. Smith (*1972) erhielt für ihre Gedichte «Leben auf dem Mars» den Pulitzer-Preis 2012. Igor Bulatovsky (*1971) gilt als einer der bedeutendsten jungen Lyriker Russlands.

Ihren Gedichtband hat die afroamerikanische Autorin Tracy K. Smith, die trotz ihrer jungen Jahre schon als eine der grossen Dichterinnen der USA gilt, ihrem Vater gewidmet. Bulatovsky, ein Dichter der neuen St. Petersburger Generation, ist ein sensibler Beobachter der Verhältnisse im heutigen Russland. Seine Gedichte zeigen einen «unbeirrt verwirrten» Zustand eines Intellektuellen in der Übergangszeit.

 

Tracy K. Smith

LEBEN AUF DEM MARS

1.
Was wäre, sagt Tina, wenn dunkle Materie wie der Abstand zwischen zwei Menschen
Und, was sie aneinander bindet, nicht gleichbedeutend mit Liebe ist, und ich glaube,
Das klingt vernünftig – kann der Sog doch so stark sein, ganz so, als gäbe es etwas,
Das besser Bescheid weiss und dich nicht einfach so davon driften lässt. Wie klein und
Schwer du dich fühlst, dazu verdammt, immer auf derselben Stelle zu kreisen.

 

 

Immer noch fühlt sich Anita wie vom Telefon angezogen, auch wenn sie weiss,
Dass am anderen Ende niemand mehr ist, der ihr zuhört. Sie wird den Kopf
Gegen die Vertäfelung ihres Zimmers schlagen bis er splittert, und die entweichende
Statische Ladung wird sie in den Schlaf lullen, damit sie träumen kann von ihm, ganz dicht
Vor ihr, an der Seite einer Frau, deren Mund in operettenhaftem Gelächter erstarrt ist.

 

 

Aber Tina spricht nicht über Mann und Frau, über das, was in den Körpern
Beginnt, und dann, wenn der Spass vergeht, zu allen Seiten entweicht.
Sie meint so etwas wie Familien. Wie sich zwei Schwestern entfremden, aufhören
Können dieselbe Sprache zu sprechen und sich aneinander oder an irgendetwas
Verbrennen, sobald sie sich danach sehnen. Was, ausser Luft, umgibt uns?

(Auszug)

 

 

DAS WETTER IM ALL

Ist Gott ein Wesen oder reine Kraft? Der Wind

 

Oder was ihn erschaftt? Wenn unsere Leben gemächlich

 

Verlaufen und wir alles, was uns lieb ist, an uns halten, räkelt

 

Es sich in unseren Schössen wie ein schlaffes Stoffpüppchen. Wenn Sturm

 

Aufkommt und nichts uns mehr sicher ist, jagen wir all den befürchteten

 

Verlusten hinterher, plötzlich so voller Leben –

 

Mit vor Panik glühenden Gesichtern.

 

 

WIR & CO

Wir sind hier für eine Spanne, die sich auf ein paar Stunden beläuft,

höchstens einen Tag.

Wir versuchen diesem Land einen Sinn zu entlocken.

den, unsere eigenen neuen Gliedmassen,

Rempeln wahllos gegen Massen von Leibern,

bis einer schliesslich Heimat wird.

Vorüberziehende Augenblicke. Das Gras wird geknickt

und richtet sich wieder auf.

 

 

 

DAS MUSEUM DER NUTZLOSIGKEIT

So vieles begehrten wir einst. So vieles
Hätte uns bewahrt. Stattdessen lebte es

 

Selbst auf grossem Fuss bis es mit der stumpfen
Ergebenheit von abgeschuppter Haut zurückkehrte

 

In die Vergeblichkeit. Wir beobachten und werden beobachtet;
Unsere falschen Blicke, unsere verräterische Erhitzung, Herzen,

 

Die durch unsere T-Shirts ticken. Wir sind hier,
um über den Plunder, die einfältige Staffage zu lachen,

 

Die Repliken auf Repliken aufgeschichtet wie Backsteine.
Grünes Geld haben wir zu bieten, genauso wie Tonnen von Öl.

 

Aus Gräbern stibitzte Honigtiegel. Bücher voller
ausgewerteten Kriege, Karten erloschener Sterne.

 

Im Südflügel befindet sich ein kleiner Raum,
In dem ein lebendiger Mann ausgestellt wird. Frag nach,

 

Und er wird dir die alten Glaubensvorstellungen deuten. Solltest du
Lachen, wird er sein Gesicht in die Hände stützen

 

Und seufzen. Stirbt er, werden sie ihn durch ein Video
Ersetzen, in einem loop ad infinitum abgespielt.

 

Sonderausstellungen kommen und gehen. «Liebe»
Gab’s für eine Saison, abgelöst von «Krankheit»,

 

Ein schwer ersichtliches Konzept. Das letzte, was du siehst,
(Das vorletzte ein Spiegel – soll das ein Witz sein?)

 

Ist ein Bild des alten Planeten, aufgenommen aus dem All.
Draussen preisen die Händler T-Shirts an, im Dreierpack.

 

 

CATHEDRAL KITSCH

Does God love gold?
Does He shine back
At Himself from walls
Like these, leafed
In the earth’s softest wealth?

 

Women light candles,
Pray intotheir fistful of beads.
Cameras spit human light
Into the vast holy dark.

 

And what glistens back
Is high up and cold. I feel
Man here. The same wish
That named the planets.

 

Man with his shoes und tools,
His insistence to prove we exist
Just like God, in the large
And the small, the great

 

And the frayed. In the chords
That rise from the tall brass pipes,
And the chorus of crushed cans
Someone drags over cobbles
In the secular street.

 

 

KATHEDRALENKITSCH

Liebt Gott das Gold?
Scheint er auf sich selbst zurück
Von diesen Wänden, aus denen
Der geschmeidigste Reichtum
Der Welt Blätter treibt?

 

Frauen zünden Kerzen an,
Beten in eine Handvoll Kügelchen.
In das riesenhaft heilige Dunkel
Speien Kameras hiesiges Licht.

 

Als Antwort von weit, weit oben
Kommt ein kaltes Glitzern zurück. Es ist
Etwas Menschliches hier. Dasselbe Drängen,
Aus dem heraus die Planeten benannt wurden.

 

Der Mensch mit seinem Schuhwerk und Werkzeug,
Seiner Besessenheit, genau wie Gott, so auch
Unsere Existenz zu beweisen, wie im Grossen,
So auch im Kleinen, im Erhabenen wie im

 

Ertragen. In den Akkorden,
Die aus den langen Orgelpfeifen herauftönen
Wie im scheppernden Chor zerbeulter Büchsen,
Die jemand draussen, auf den säkularen
Strassen, übers Pflaster schleift.

 

 

Tracy K. Smith
Leben auf dem Mars
Verlag Das Wunderhorn, Heidelberg 2012
Reihe P – die Bibliothek der Modernen Poesie
Gedichte deutsch /englisch
Übersetzt von Astrid Kaminski
EUR 17.90
ISBN 978-3-88423-410-5

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Tracy K. Smith, geboren 1972 in Falmouth, Massachussets, lebt in New York City. Sie hat bisher drei Gedichtbände veröffentlicht und unterrichtet als Professorin für Creative Writing an der Princeton University. 2011 wurde sie als Rolex.Foundation-Stipendiatin von Hans Magnus Enzensberger mentoriert. Für den Gedichtband Life on Mars erhielt sie 2012 den Pulitzer-Preis.

 

 

 

IGOR BULATOVSKY

ZUKUNFT

Die ganze Zukunft ist hier, im schludrigen Schnee,
im lotterigen Wasser, vom Feuer in Lachen
geteilt, vom Feuer, das im Laufen trocknet,
das innen weiss ist und aussen blau.
Soll dieses Blau alles verbrennen,
und brennen. Brennen bis zur Weissglut,
bis aus diesen Lachen Blasen wachsen
aus der letzten, der siebenten Generation,
in einer deutlichen Sprache aufschreien
(ganz zu schweigen, dass der der Menschen Sprache sein soll),
und eine glitschige Insel im erdigen Fluss
zum Zweistromland wird.

 

Übersetzt von Olga Martynova

 

 

 

Umgebung

Die Bäume in gerader Haltung
auf dem dunkeldichten Gras
wissen nicht, wo links, wo rechts,
haben nicht den ganzen Plan im Kopf.
In den Holzbeinen ist nur eine
Wahrheit – das heranwachsende Geräusch.
Sie erwarten keine ausgedehnten Briefe
und kennen nur eins – die Umgebung.

 

Übersetzt von Daniel Jurjew

 

***

 

Wie erkennst du diesen Baum
unter anderen ihm gleichen Wörtern,
und nicht gerade das Wort „Baum“, sondern das Zittern
der zitternden Stämme, der Wurzeln,
und nicht „dem Baum Gleiches“ in der Dunkelheit,
sondern die Dunkelheit, wo es bienenstockdunkel ist,
nicht „Wort-Baum“ im Sinn,
sondern die Baumgesichtszüge der Wörter?
Kein Wort Baum…

 

Übersetzt von Olga Martynova

 

 

Klein Frost

Sprich, Klein Frost, deine Sprache,
gib den Namen, den Namen, den Namen
dieser Dohle aufm Dach, diesem Küken in der Hand,
diesem Luftfleckchen auf der Zunge,
diesem Schwarzerde-Laib!
Wühle doch im Gehirn, lieber Klein Frost,
führe dieses Grauding, zeige es, als wäre es
das neue Beweisstück, kralle dich in dieses Kräuseln ein,
mit verlangsamtem Vorgang
entfache den Sauerstoffherd!
Soll die Flamme lodern, soll sie trompeten,
soll sie durch die Schornstein-Trompete fortfliegen und oben
dieses verfluchte Wort ins Trommelfell trommeln,
das gefiederte flüchtige Wort,
dessen Pech auf der Lippe verkrustet!

 

Übersetzt von Olga Martynova

 

***

Wo hörst du hin? Heut
Gibt’s doch keinen Ton auf dieser Welle,
Kein Stich ins Herz, kein Stossen.
Gut, gut, so ists wohl einfacher!

Lass doch, wird dir gesagt.
Die Tönemacher flogen alle heim
Und flochten Fetzen ihres Singsangs
In die Wörternester ein.

 

 

Übersetzt von Gregor Laschen und Olga Martynova

 

 

 

Igor Bulatovsky
Längs und Quer
Verlag Das Wunderhorn, Heidelberg 2012
Reihe P – die Bibliothek der Modernen Poesie
Gedichte russisch-deutsch
Übersetzt von Daniel Jurjew, Olga Martynova,
Gregor Laschen und Elke Erb.
Mit einem Nachwort von Oleg Jurjew
EUR 17.90
ISBN 978-3-88423-409-9

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Igor Bulatovsky, geboren 1971 in Leningrad, ist einer der bedeutendsten russischen Lyriker seiner Generation. Lyrikbücher: »Das weiße Licht« (1995), »Liebe fürs Alter« (1996), »Halbinsel« (2003), »Quarantäne« (2006), »Gedichte auf Zeit« (2009), »Dunkelheit lesend« (2012). Ein Buch von Literaturkritiken und Essays (zusammen mit B. Roginsky). Zahlreiche von ihm (auch in Zusammenarbeit mit V. Dymschitz) übersetzte Prosa- und Lyrikbücher. Er lebt in Sankt Petersburg, arbeitet als Verlagslektor, publiziert Gedichte und Essays in Literaturzeitschriften, ist auch als Herausgeber und Übersetzer (aus dem Französischen, Deutschen, Polnischen und vor allem Jiddischen) tätig. Seine Gedichte wurden ins Deutsche und Finnische übersetzt. 2005 erhielt Igor Bulatovsky den Hubert-Burda-Preis für die ost- und südeuropäische Lyrik.

 

 

Igor Bulatovsky wurde 1971 geboren. Seine Jugend fiel auf die russischen 90er Jahre, die Jahre des Durcheinanders, der Zerstörung jeglicher Lebensgrundsätze, einer noch grösseren Verwilderung und Barbarisierung der Menschen als in sich selbst auffressenden 80er Jahren. In den 90er Jahren fand sich die gesamte Bevölkerung Russlands im Exil, und diejenigen, die da geblieben sind, wo sie immer waren, nicht im geringeren, wenn nicht im grösseren Masse, als diejenigen, die weg fuhren. Das Land war bereits ein anderes geworden, die Menschen waren noch die alten geblieben. Petersburg war immer „anders“, auch es noch Leningrad war, doch jetzt wurde es doppelt, dreifach anders, die Distanz zwischen ihm, Petersburg, und uns, seinen zufälligen Bewohnern, wurde noch grösser und überschritt die Leidensgrenze.

Bulatovskys Stadt, als der unmittelbare Lebensraum für die Gedichte, ist selbstverständlich die Stadt, wohin man mit einem Bus oder einer Strassenbahn fährt, das ist das Leningrad der sowjetischen Neubau-Erweiterung, und wenn das klassische St. Petersburg sich selbst durchblicken lässt, ist es offensichtlich unter einer kulturellen Lupe fokussiert.
Gedichte sind nur dann als Gedichte zu bezeichnen, wenn sie die Fähigkeit zum Atmen haben. Sonst haben sie keinen Sinn und Zweck. Warum? Weil auch wir am Atem des Dichters teilnehmen, weil auch uns diese Luft zuteil wird, die der Dichter dem Laute-Chaos entnimmt. Das poetische Atmen ist selbstverständlich etwas kaum Definierbares, doch es existiert ganz real, physisch, und entsteht nicht im Lautgeben selbst, sondern zwischen den Atemzügen, und nicht in den Konsonanten, sondern in den Vokalen.
Seit Jahren übersetzt Bulatovsky jiddische, polnische, französische und deutsche Gedichte
(u.a. Izik Manger, Paul Verlaine, Johannes Bobroswki) und hat auch eine besondere Beziehung zur deutschen Lyrik. Schon vor sieben Jahren wurde ihm der Hubert-Burda-Preis für junge Lyriker aus Ost- und Südeuropa verliehen.

(Auszug aus dem Nachwort von Oleg Jurjew).

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