FRONTPAGE

«Gerrit Rietveld – Die Revolution des Raums»

Von Fabrizio Brentini

Retrospektive im Vitra Design Museum in Weil am Rhein: Es gibt keinen besseren Ort, um das Schaffen des holländischen Möbelgestalters und Architekten Gerrit Rietveld (1888–1964) auszustellen. Auf dem inzwischen weltberühmten Areal nördlich von Basel schufen Stararchitekten aus aller Welt ein Ambiente, das zum Anziehungspunkt für viele geworden ist, die nicht nur Interesse an den Möbelklassikern insbesondere von Charles und Ray Eames bekunden.

Im Rahmen des diesjährigen Museumsprogramms, das ein Augenmerk auf das niederländische Design richtet, läuft bis 16. September im nach wie vor spektakulären Gebäude von Frank O. Gehry eine beachtliche Retrospektive über einen Hauptvertreter der frühen Moderne in Europa.
Rietveld übernahm die väterliche Tischlerwerkstatt und machte noch vor 1920 mit eigenwilligen Stuhlkreationen auf sich aufmerksam. Schon 1918 konstruiert wurde der Rot-Blaue Stuhl 1923 durch die an De Stijl gemahnende Bemalung zu einem Vorzeigeobjekt nicht nur der niederländischen Avantgardegruppe, sondern auch der europäischen Bewegung des Neuen Bauens.
1924 gelang Rietveld in Zusammenarbeit mit Truus Schröder sein zweiter revolutionärer Wurf. Das in Utrecht erbaute Rietveld-Schröder-Haus, das zu einer der bekanntesten Ikonen der Vorkriegsmoderne wurde, beherbergte auch das Atelier von Rietveld, der sich von nun an fast ausschliesslich der Architektur zuwandte. Beide Werke wurden für Rietveld aber auch zur Hypothek; er wurde mit ihnen derart identifiziert, dass sein übriges Schaffen kaum mehr wahrgenommen wurde.
Rietveld darf nicht auf diese genannten Juwelen reduziert werden. Der 1992 von Marike Küper und Ida van Zijl herausgegebene Katalog führt insgesamt 681 Projekte, Entwürfe und Realisationen auf. Viele seiner nach dem Zweiten Weltkrieg errichteten Bauten, wie etwa der niederländische Pavillon an der Biennale Venedig (1953/54), der Sonsbeek Pavillon von 1955, der im Park des Kröller-Müller-Museums in Otterlo als Rekonstruktion einen definitiven Standort erhielt, die Rietveld-Akademie in Amsterdam (1956/67), die Friedhofshalle in Haarlemmermeer (1958/67) und die Kunstakademie in Arnhem (1958/63), brauchen den Vergleich mit den Entwürfen von Mies van der Rohe, dessen Beeinflussung auf die Sprache des Spätwerkes von Rietveld unverkennbar ist, nicht zu scheuen.

 

Das Rot-Blaue Stuhl-Objekt

Die Ausstellung in Weil am Rhein versucht den Blick auf das späte Schaffen von Rietveld zu öffnen, aber empfangen wird der Besucher mit dem Rot-Blauen Stuhl, der wie eine wertvolle antike Statue auf einem Podest zur Schau gestellt wird. Und in seiner unmittelbaren Nachbarschaft wird das Rietveld-Schröder-Haus zelebriert, mit Skizzen, Farbaufnahmen, Modellen und einem Video.
Die Halle des Erdgeschosses wurde in Anlehnung an die Innenarchitektur des besagten Hauses mit Raumteilern und mit grossen monochromen Quadraten umgewandelt. So schreitet man durch ein Raumkontinuum und gewahrt die auf unterschiedlich hohen Podesten verteilten Möbelstücke, wie etwa die zahlreichen Varianten des Zickzackstuhles von 1932, sowie die an den Wänden aufgehängten Pläne und Zeichnungen, worunter die Axonometrien besonders faszinieren. Originalzeichnungen von anderen Protagonisten des neuen Bauens wie Le Corbusier, Johannes Jacobus Pieter Oud oder Mies van der Rohe sollen darauf verweisen, dass Rietveld ein anerkanntes Mitglied der damaligen Avantgarde war. Schliesslich war er, auch wenn lediglich zufällig, 1928 an der Gründungsversammlung des CIAM im Schloss Sarraz dabei und er wurde 1932 für die anlässlich einer weiteren internationalen Ausstellung errichteten Werkbundsiedlung in Wien mit dem Bau von vier Reihenhäusern berücksichtigt.

 

Modelle, Pläne und Fotos

Mit diesen Eindrücken vollgesogen wagt man sich im Obergeschoss an die Modelle, Pläne und Fotos des Schaffens der 1950er- und 1960er Jahre heran, und es zeigt sich bald, wie schwierig es ist, sich von der bildlichen Übermacht des Frühwerkes zu befreien. Rietveld selber mag das Seine zur verfälschenden Rezeption seines Schaffens beigetragen haben.
An den Vorbereitungen für die Wanderausstellung über De Stijl von 1951/52 war Rietveld massgeblich beteiligt, wobei er, der sich nie vorbehaltlos zur Gruppe zugehörig fühlte, etliche seiner Arbeiten in die Sammlung integrierte und somit sein Image als Hauptvertreter von De Stijl zementierte.

 

Die Retrospektive in Weil am Rhein mit rund 320 Artikeln wurde durch die Institution vorbereitet, die den Nachlass von Rietveld beherbergt und verwaltet. Es ist das Centraal Museum in Utrecht, das auch für die Besichtigung des Rietveld-Schröder-Hauses verantwortlich ist. Dieses ist nach dem Tode der Inhaberin sorgfältig restauriert und dem Publikum zugänglich gemacht worden.
Damit reiht es sich in die Sammlung anderer frühmoderner Häuser ein, die besichtigt werden können, etwas die Villa Savoye in Paris von Le Corbusier, die Villa Tugendhat in Brünn von Mies van der Rohe, die Villa Müller in Prag von Adolf Loos oder das Haus Michaelsen in Hamburg-Blankensee von Karl Schneider, um nur die wichtigsten zu nennen. Im Gegensatz zu Le Corbusier schützte Rietveld seine Möbel nicht mit einem Copyright, im Gegenteil, schon früh veröffentlichte er die Konstruktionspläne, die kürzlich in einem Buch neu aufbereitet wurden.
So ist es möglich – geübte Handwerkerhände vorausgesetzt –, dass man für wenig Geld einen originalen Rietveld in die eigene Wohnung einfügen kann. Ob die Stühle ergonomisch sind oder nicht, diesen Disput überlasse ich gerne medizinischen Fachleuten. Und ich lasse mich auch nicht vom Urteil des deutschen Designer-Papstes Otl Aicher verunsichern, der in seiner Lobrede auf die Möbel von Charles und Ray Eames sich trotzig weigerte, «einen solchen Unfug» – damit meinte er die die Art und Weise, wie Rietveld seine Möbel schreinerte – mitzumachen. Zugegeben, der rot-blaue Stuhl ist nicht nur zum Sitzen da, er ist eine Raumplastik, die das Umfeld entscheidend mitprägt und definiert. Warum auch nicht?

 

Dass es Rietveld immer um die Gestaltung von Räumen ging, um Räume «in», «um» und «dazwischen», wird in der Begleitpublikation von Ida van Zijl zur Hauptaussage entwickelt. Die Monographie erschien zunächst im Phaidon-Verlag auf Englisch und wurde auf diesen Anlass hin ins Deutsche übersetzt. Es ist ein makelloses Buch, sowohl formal wie inhaltlich. Der informative Text bietet eine Beschreibung der Hauptwerke an und zeichnet die wichtigsten Stationen des Lebensweges nach. Angereichert wird er mit herausragenden Aufnahmen, und dies alles auf ein festes, leicht eierschalenfarbiges Papier gedruckt. Neu bewertet wird nicht nur das Spätschaffen von Rietveld, sondern auch der Anteil von Truus Schröder an den Entwürfen der 1930er und 1940er Jahre. Es ist angebracht, künftig von einer Teamleistung zu sprechen, und zwar nicht nur beim Haus in Utrecht, das inzwischen in der offiziellen Bezeichnung diese Teamarbeit berücksichtigt.
Ausstellung geöffnet bis 16. September 2012 (www.design-museum.de)

 

 

Begleitpublikationen:

Ida van Zijl
Gerrit Rietveld
Die Revolution des Raums.
Vitra Design Museum Weil am Rhein 2012,
€ 75.

Marijke Küper/Ida van Zijl
Gerrit Th. Rietveld 1888-1964
The complete works
Centraal Museum Utrecht 1992.

Peter Drijver/Johannes Niemeijer
How to construct Rietveld furniture
Uitgeverij Thoth Bussum 2011.

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