FRONTPAGE

«Günter Kunert: Poetisches Denken als Inspiration»

Von Ingrid Isermann

 

Günter Kunert wartet zu seinem 85. Geburtstag mit einem neuen Lyrikbuch auf: «Fortgesetztes Vermächtnis». Seine Diagnosen, Prognosen und Bilanzen setzen sich kritisch mit der Historie auseinander und berühren Themenkreise wie Natur, Eros, Mythologie und nicht zuletzt die Erinnerung an zwei deutsche Staaten.

Günter Kunert, geboren am 6. März 1929 in Berlin, war es wegen der nationalsozialistischen Rassengesetze mit einer jüdischen Mutter nicht erlaubt, eine höhere Schule zu besuchen. Nach Ende des Zweiten Weltkrieges studierte er in Ost-Berlin fünf Semester Grafik, brach sein Studium jedoch ab. 1948 trat er der SED bei. Bertolt Brecht und Johannes R. Becher waren seine Weggefährten. 1972/73 wurde er Gastdozent an der University of Texas in Austin sowie 1975 an der University of Warwick in England.

1976 gehörte Kunert zu den Erstunterzeichnern der Petition gegen die Ausbürgerung von Wolf Biermann, worauf ihm 1977 die SED-Mitgliedschaft entzogen wurde. 1979 ermöglichte ihm ein mehrjähriges Visum das Verlassen der DDR. Er liess sich mit seiner Frau Marianne in Kaisborstel bei Itzehoe nieder, wo als freier Schriftsteller lebt.

 

Dialektisches und dialogisches Denken in der Poesie
Poetisches Denken bedeutet meist ein dialektisches und dialogisches Denken. «Kontroverses Schreiben. Das Bewusstsein des Gedichts. Vor der Sintflut. Das Gedicht als Arche Noah. Die letzten Indianer Europas», so lauten programmatische Äusserungen des Dichters über seine Poetik. Günter Kunert erklärt in einem Interview: «Das Gedicht stellt ja in sich schon als Produkt etwas ganz Widersprüchliches dar, denn die Intention des Dichters und des Gedichts ist eigentlich: in einer winzigen Form etwas Maximales ausdrücken zu wollen. Darin liegt der Widerspruch der Gattung selber; man könnte es auch die dialektische Existenzweise des Gedichts nennen. Und diese Widersprüchlichkeit, dieser Widerspruch geht als ein Antriebsmittel bis in die Sprache des Gedichts hinein…».
In seiner Rede «Probleme der Lyrik» hatte Gottfried Benn über unpoetische Denker, speziell über Philosophen, 1951 gemeint: «Sie fühlen, dass es mit dem diskursiven systematischen Denken im Augenblick zu Ende ist, das Bewusstsein erträgt im Augenblick nur etwas, das in Bruchstücken denkt, die Betrachtungen von fünfhundert Seiten über die Wahrheit, so treffend einige Sätze sein mögen, werden aufgewogen von einem dreistrophigen Gedicht…».

 

Günter Kunert gilt als einer der bedeutendsten zeitgenössischen Autoren. Neben Lyrik sind es Parabeln, Erzählungen, Essays, autobiographische Aufzeichnungen, Aphorismen, Glossen und Satiren, Märchen und Sciencefiction, Hörspiele, Reden, Reiseskizzen, Drehbücher, Libretti, Kinderbücher, ein Roman, ein Drama und anderes mehr, die Kunerts vielseitiges Werk ausmachen. Seine kritische Haltung zu politischen und ökonomischen Themenbereichen äusserte sich vornehmlich als Sorge um die Zukunft des Biotops Erde und um das Überleben der Menschheit, was ihm seit den DDR-Zeiten in besonderem Masse beschäftigte. Günter Kunert ist seit 1988 Mitglied der Freien Akademie der Künste Hamburg, seit 2005 Vorstandspräsident des P.E.N.-Zentrum deutschsprachiger Autoren im Ausland.

 

 

Das Gedicht
wartet lange
auf seine Stunde, eine glückliche
oder unglückliche. Wartet
einen Tag, ein Jahr,
ein Leben lang, ehe
es selber zu leben beginnt.
Wiedererstandener Phönix
aus der abgründigen Schwärze
fliegt oder flüchtet
durch Mauern und Wände, vorbei
an Bajonetten und grellen Fassaden.
Immer aufs Neue verjagt und
vermisst, verachtet und aufs Neue
willkommen geheissen:
das Gedicht.

27.6.2010

 

 

Diskurs

Jede Stimme sagt etwas
anderes, obwohl dennoch
das Gleiche betreffend.
Doch was ist eigentlich
das Gleiche?
Was jede Stimme anders sagt
Und das hast du nicht gewusst?
Du hast eben nicht recht
zugehört, bis deine Zeit
abgelaufen war
wie verbrauchtes Waschwasser
in irgendeine Tiefe ins
hinterhältig Unergründliche,
aus dem stetig dieselben
Quellen entspringen.
15.4.2013

 

 

Astronomische Meditation

Was ist die Welt?
Ehe man sie begreift, ist sie
schon dem Zugriff entglitten.
Sie ist ja das Unbegreifliche,
nur dem Glauben glaubhaft.
Ansonsten ein Konglomerat
von Bruchstücken, zusammensetzbar
zu einem Ganzen der Irrtum
von Philosophen und sonstigen
Narren. Siehe das verwehte Blatt
will einstehen für den Wald.
Was aber ist der Wald?
Was ist die Welt?
Das, wovon bloss Spiegelungen
dich treffen. Dir wird zum Trost
das Höhlengleichnis zuteil.
Liebe die vorüberziehenden
Schatten.

1.4.2013

 

 

Aufruf

Zurück zur Natur,
zu Vulkanausbrüchen, Erdbeben,
zu Taifun und Tornado,
zum Massaker an Schmetterlingen
und Walen und anderen
planetarischen Erscheinungen.
Zu Hunger und Not,
zu Wüste und Menschenleere,
zu Kellerasseln und Killerviren.
Zurück, zurück, wir müssen
zurück, um nicht zu leben
wie wir durch unsere Allgemeinheit
sondergleichen
verstorben sein würden
allgemach.

27.6.2010

 

 

Schlecht geschlafen

Nie kommt einem der Tod so nahe

wie morgens vorm Spiegel.

Kurzfristig kaschierte Identität.

Unübersehbare Verwandtschaft.

Einer, der nichts weiter weiss

von dir und mir und jedem

als das, was im Spiegel

sichtbar zu werden droht.

20.9.2012

 

 

Eine Wirklichkeit

Ein Blick durch das Fernrohr

und du weisst genug. Da draussen

bist auch du draussen

für keinen wie dich. Dunkle Materie,

bedenkenlose Substanz, in Fleisch

verborgen. Manchmal Ausbrüche, tödlich

für den oder jenen oder so viele.

Als wir noch Romantiker waren

lebten wir im Innern eines

beschlagenen Spiegels. Jetzt,

da wir uns sehen, draussen und

drinnen, finden wir auf den Planeten

jene Wüste, die wir

nur zu gut kennen.

 

 

 

Günter Kunert
Fortgesetztes Vermächtnis
Mit einem Nachwort von Hubert Witt
Hanser Verlag München, 2014
Fester Einband, 176 Seiten
CHF 21,90 sFR. 14,90 € (D). € 15,40 € (A)
ISBN 978-3-446-24530-3

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