FRONTPAGE

«Ich bin wie du, du bist wie ich»

Von Sacha Verna

Der US-Bestsellerautor Richard Ford über seinen neuen Roman «Kanada», die US-Wahlen, Politiker in Luftballons und Eichhörnchenbraten. Über Richard Fords tiefblaue Augen ist zu Recht schon manches geschrieben worden. Zwei Flecken karibisches Meerwasser mitten in einem lächelnden Gesicht.

 

In New York empfängt der 68-Jährige Pulitzerpreisträger Besuch in der Wohnung in Harlem, die er und seine Frau Kristina sich vor kurzem gekauft haben. Während des Gesprächs ist Ford die Herzlichkeit selbst: Entspannt und gut gelaunt, als wäre er endlich an einem Punkt angekommen, an dem er sich selber nicht mehr allzu ernst nimmt.

 

Richard Ford, wann waren Sie zuletzt versucht, eine Bank zu überfallen?

 

(lacht) Es erscheint Ihnen also auch plausibel, dass ein unbescholtener Bürger auf diese Idee kommen könnte?

 

So plausibel, wie es dem kreuznormalen Ehepaar in Ihrem neuen Roman erscheint, das dann allerdings im Gefängnis landet.

 

Mich interessiert seit meiner Kindheit, wie nahe das normale Leben und das nicht normale beieinander liegen. Als ich jung war, haben ich und meine Freunde immer mal wieder Einbrüche begangen und Autos gestohlen. Ich sah, wie fliessend die Grenze zwischen solchen Bagatelldelikten und seriösen Verbrechen ist. Nicht, dass ich es je wirklich in Betracht zog, eine Bank zu überfallen. Aber ich wusste instinktiv, dass Bankräuber Menschen waren wie ich. Ich konnte mir vorstellen, was sie dachten und wie sie handelten, weil ich genau so denken und handeln würde.

 

Können Sie sich auch in jemanden hineinversetzten, der plötzlich um sich schiesst?

 

Mord ist etwas ganz anderes.

 

Aber auch bei Massenmördern fällt den meisten Leuten immer erst im Nachhinein das vermeintlich verdächtige Benehmen ihres netten Nachbarn auf.

 

Damit schützen wir uns selber. Wir wollen uns nicht eingestehen, dass sich selbst Massenmörder nicht allzu sehr von uns unterscheiden. Ich glaube nicht, dass Menschen grundsätzlich gut oder grundsätzlich böse sind. Menschen tun Gutes und Böses. Meine Aufgabe besteht darin zu zeigen, wie es dazu kommt und mich in die handelnden Figuren hineinzudenken. Schriftsteller zu sein, heisst zu sagen: Ich bin wie du, du bist wie ich.

 

Ist das nicht anmassend?

 

Nur insofern, als ich mir damit gewisse menschliche Eigenschaften anmasse. Aber das tue ich, um die Welt zu verbessern.

 

Wie bitte?

 

Ich glaube, dass das Lesen von Büchern täglich einige Menschen zu besseren macht. Literatur kann ein Mittel dazu sein, sein eigenes Verhalten zu korrigieren – soweit man das eigene Verhalten unter Kontrolle hat. Literatur hilft einem, die Welt zu verstehen. Denn nicht nur Autoren müssen über Einfühlungsvermögen verfügen, sondern auch die Leser.

 

In „Kanada“ versetzen Sie sich in Dell, den 16-jährigen Sohn der erfolglosen Bankräuber, der sich sehnlich wünscht, so zu sein wie alle anderen.

 

Neulich besuchte mit ein Freund, ein Dichter. Er erzählte mir, dass er als Junge ein Einzelgänger war und nur Dinge las, die verboten waren. Er war unbeliebt. Das sagte er, als wäre er stolz darauf. Ich habe immer alles getan, um nicht dieser Junge zu sein.

 

Sie wollten also auch so sein wie alle anderen?

 

Oh ja. Obwohl ich die Gesellschaft, in der ich aufwuchs eigentlich nicht mochte.

 

In Jackson, Mississippi?

 

Ich fand den Rassismus abstossend. Mir missfiel, dass alle reicher zu sein schienen als wir. Und doch ergab ich mich dem unerbittlichen Zwang, mich anzupassen. Dieses Anpassungsbedürfnis bin ich absurderweise bis heute nicht losgeworden.

 

Sie leben seit Jahren abgelegen an der Küste von Maine und schreiben Bücher. So gewöhnlich ist diese Existenz nicht.

 

(lacht) Wenn ich einkaufen gehe, schauen mich die Leute nicht an wie jemanden, der Bücher schreibt. Ich sehe genau so aus wie die Hummerfischer oder der Kurzwarenhändler. Ich mag das Gefühl, ein Durchschnittsleben zu führen, das mich tun lässt, was ich will.

 

Vielleicht ist das ja der amerikanische Traum: So zu sein wie alle anderen, nur mit einem grösseren Auto.

 

(lacht) Ja, das grössere Auto ist wichtig. Im Ernst: Ausser euch Europäern und unseren Politikern in Wahlkämpfen höre ich nie jemanden vom amerikanischen Traum reden. Die Amerikaner sind viel zu sehr mit ihrer Arbeit, ihrem Urlaub und der Zukunft ihrer Kinder beschäftigt, um sich zu fragen, wie weit sie mit der Erfüllung des amerikanischen Traums sind.

 

Und die Politiker?

 

Die versuchen uns an den Mythos zu erinnern und ihn für ihre Zwecke zu nutzen. Lauter Lügen. In Amerika gibt es keinen differenzierten politischen Dialog. Republikaner wie Demokraten betrachten die Lebenswirklichkeit in diesem Land von einem Luftballon aus, aus sicherer Distanz. Wie Präsident Bush, der über das überflutete New Orleans flog. Deshalb sind Romane so wichtig: Sie zeigen uns das Leben aus der Nähe.

 

Zum Beispiel einen Roman über Amerika mit dem Titel „Kanada“.

 

(lacht) Genau. Die Leute fragten mich: Warum um Himmels Willen Kanada? Nun, mir gefiel das Wort, mir gefiel die Vorstellung von Kanada. Ich wollte herausfinden, was für Geschichten mich dieses Wort und dieser Ort erzählen liessen.

 

Kanada dient auch als Metapher: Da ist die Grenze, die nicht nur Dells Eltern, sondern auch er selber nach deren Verhaftung überschreitet – buchstäblich, indem er nach Kanada gebracht…

 

…gekidnappt…

 

…wird, wo er im übertragenen Sinn die Grenze zwischen Unschuld und Schuld passiert. Dann die Zwillingsidee…

 

…dass die USA und Kanada so ähnlich und doch so verschieden sind wie Dell und seine Zwillingsschwester Berner. Ich verrate Ihnen etwas: Vieles davon ging rein zufällig so schön auf.

 

Das sollten Sie nicht sagen!

 

(Lacht) Ich glaube an lauteren Wettbewerb. Ich will mich nicht als Genie verkaufen, wenn ich keines bin. Manchmal muss man als Schriftsteller einfach Glück haben.

 

Könnten Sie als Schriftsteller in Kanada glücklich werden?

 

Falls Mitt Romney die Präsidentschaftswahlen gewinnt, meinen Sie?

 

Sie sagten kürzlich, dann würden Sie auswandern.

 

Im Augenblick versuchen wir diese Möglichkeit noch zu ignorieren. Aber warum nicht? Montréal ist eine wunderschöne Stadt. Meine Frau Kristina und ich sprechen beide französisch. Kanada würde mir vielleicht sogar gut tun. Ich habe lange geglaubt, es sei für meine Arbeit ungeheuer wichtig, wo ich lebe. Das lag hauptsächlich daran, dass ich mich nirgendwo richtig wohl fühlte. Inzwischen weiss ich aber, wie ich am besten funktioniere. Ich lasse mich nicht mehr von der Aussicht durch mein Fenster verunsichern. Heute kann ich überall schreiben.

 

Und das Amerika, das im Kern Ihres Werkes steckt, würden Sie überall hin mitnehmen?

 

Ich wüsste nicht, was ich sonst in meinen Rucksack packen sollte.

 

Sind Sie stolz darauf, Amerikaner zu sein?

 

Ich schäme mich nicht dafür. Unsere Regierungen kommen und gehen. Ein Land, das einen Mitt Romney zum Präsidenten wählt, ist sicher kein sehr angenehmes. Aber die Ideale, für die Amerika steht, haben immer noch Gültigkeit: Freiheit, Gleichheit – um letztere wurde noch im vergangenen Jahrhundert hart gekämpft.

 

Ein anderes amerikanisches Versprechen ist das der Selbsterfindung. Dell hat nach dem Zerfall seiner Familie die Chance, sich selber neu zu erfinden.

 

Das zeigt, dass der Zerfall der Familie, der heute vielfach beklagt wird, auch befreiend wirken kann.

 

Die Institution der Familie ist nicht die einzige Stütze der Gesellschaft, die in Ihren Werken häufig in die Brüche geht.

 

Ich schreibe über Ehen, die auseinandergehen, über Geschwister, die sich verkrachen. Aber ich traure diesen Institutionen nicht nach. Neulich notierte ich mir eine Zeile für Frank Bascombe…

 

…den Protagonisten Ihrer „Sportreporter“-Trilogie…

 

…ich notiere mir ständig Sätze für Frank, obwohl ich sie ich vermutlich nie verwenden werde. Dieser lautete: Das Tröstlichste am Leben ist, das alles ein Ende nimmt.

 

Ausser man schafft einen Neuanfang wie Dell, der später Lehrer wird und sagt: „Hochstapelei und Täuschung sind zwei grosse Themen der amerikanischen Literatur“.

 

Denken Sie an F. Scott Fitzgeralds „The Great Gatsby“. Da versucht ein Mann sich neu zu erfinden und scheitert daran. Hochstapelei und Täuschung sind letztlich nur Selbsterfindungen, die schief gelaufen sind. Funktioniert die Täuschung, spricht man von Selbstverwirklichung und alle finden einen toll. Das gilt nicht nur in der Literatur, sondern auch im wirklichen Leben.

 

Ihnen steht selber etwas Neues bevor, wenn Sie im Herbst an der Columbia University Literatur zu unterrichten beginnen.

 

Ich bin mit meinen 68 Jahren zum Schluss gekommen, dass die Lehrtätigkeit meinen Geist vielleicht doch nicht so abstumpft, wie ich immer annahm. Aber natürlich werde ich so wenig wie möglich tun. Vorerst ist es nur ein Kurs und keiner in Creative Writing.

 

Bedauern Sie nicht, dass Sie als leidenschaftlicher Jäger hier in New York mit den Eichhörnchen im Central Park Vorlieb nehmen müssen?

 

Haben Sie schon einmal Eichhörnchen-Braten gegessen?

 

Äähm…nein.

 

Ich könnte welchen für Sie zubereiten. Damit würde ich möglicherweise die Grenzen Ihres Geschmacks etwas strapazieren…

 

…über das Überschreiten von Grenzen haben wir uns jetzt ja ausführlich unterhalten

 

…Sie sind eingeladen!

 

 

 

Richard Ford

Kanada
Roman
Übersetzt aus dem Amerikanischen von Frank Heibert.
Hanser Berlin Verlag, Berlin 2012.
464 Seiten. CHF 34.90.24.90 Euro. 25.60 (A)
ISBN 978-3-446-24026-1

 

 

Richard Ford, geboren 1944 in Jackson, Mississippi wurde mit der preisgekrönten Trilogie über den Sportreporter Frank Bascombe weltberühmt. In seinem siebten Roman schildert Ford, wie das erste behütete Leben des 16-jährigen Dell Parsons zu Ende geht und sein zweites beginnt, als Dells Eltern eine Bank überfallen, während er und seine Zwillingsschwester Berner nichtsahnend zuhause sitzen. Unaufgeregt und doch packend führt Ford mit seiner bildhaften Prosa zum Moment, nach dem nichts mehr so ist wie vorher. Das Danach, das Dell bei dubiosen Gestalten in Kanada verbringt, ist nicht weniger spannend. Ein Roman über Ordnung und Chaos und darüber, dass es trotzdem weitergeht.

 

(Erstveröffentlichung SonntagsZeitung 19.8.2012)

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