FRONTPAGE

Schauspielhaus Zürich: Imaginationen der «Früchte des Zorns»

Von Ingrid Isermann

 

Neben «Jenseits von Eden», dem mit James Dean verfilmten Kult-Klassiker, zählt «Früchte des Zorns» zu den grossen Romanen des Nobelpreisträgers John Steinbeck (1902 in Salinas/Kalifornien-1968 in New York City), der das harte Leben der Farmer und Saisonarbeiter schildert, die in der amerikanischen Wirtschaftskrise 1939 auf Suche nach Arbeit gen Kalifornien ziehen. Das Schauspielhaus präsentiert das Drama in der Inszenierung von Christopher Rüping.

Wegen der Dürre ist die Ernte wieder zum Teufel gegangen, kein Regen, das Land ächzt unter der sengenden Sonne. Der Grossgrundbesitzer kündigt den Farmern des verdorrten Landes in Oklahoma ihren Pachtvertrag. Gewinn ist da nicht mehr zu machen, das Land soll von Maschinen bestellt werden. Die Farmerfamilie Joad, die Mutter und ihre erwachsenen Kinder, Sohn Tom und die schwangere 17-jährige Rose, müssen ihre Heimat Oklahoma verlassen. «Geht nach Kalifornien», sagt der Grossgrundbesitzer, «dort gibt es Arbeit, dort ist es nie kalt, man muss nur die Hand ausstrecken und kann überall Orangen pflücken».  «Go West, go West / Where there’s fruit in every place / A smile on every face».

 

Die gleissenden Scheinwerfer brennen sich durch den Nebel, der Song «California Dreamin» ertönt; die Familie macht sich auf den Treck nach dem goldenen Westen, wie so viele, auf der Route 66, der mythischen Strasse der Flucht von Osten nach Westen. Steinbeck fängt das Leben und die Sprache armer Farmarbeiter realistisch und sozialkritisch ein. Das Gelobte Land heisst Kalifornien, doch es kann heute auch Europa heissen, Kanada oder die Zürcher Goldküste. Die Farmerfamilie steht für viele Migranten. Jede Figur steht für mehr als sie selbst. Die Menschen hoffen, neu anfangen zu können, wo es Arbeit für alle gibt. Hoffnung und Trost legen sich wie Puderzucker auf den Schmerz.

 

Ma Joad (Maja Beckmann) sagt: «Wir müssen zusammenhalten, als Familie, sonst haben wir gar nichts». Der Grossvater murrt: «Ich bleibe hier, das ist mein Land, hier bringt mich niemand weg!». «Gleich fahren wir nach Kalifornien», sagt Ma, «der Grossvater hat gelebt und jetzt ist er tot». Conny (Benjamin Lillie) und Rose (Nadège Kanku) wollen nicht aufs Land, sondern in die Stadt, wo es Kino und Unterhaltung gibt. Der smarte Conny will dort eine Radioshow aufbauen, «mit Euch komme ich nicht weiter«. Er verlässt die schwangere Rose. Die Mutter will die Familie zusammenhalten. Tom (Nils Kahnwald), nach vier Jahren Haft aus dem Gefängnis auf Bewährung entlassen, steht ihr zur Seite. Auf dem Weg nach Kalifornien stirbt auch die Grossmutter. Und bei der Ankunft heisst es: «Haut ab!».Ein Wanderprediger fordert Tom auf, sich zu wehren: «Wenn einer schreit, passiert nichts. Wenn alle schreien, passiert etwas». Die Früchte des Zorns.

 

Christopher Rüping verhandelt als erste Inszenierung seiner Hausregie am Schauspielhaus Zürich die Frage, wie Reiche mit Armut umgehen, sie eben umgehen, und wie pure Armut auf die Existenz von Menschen wirkt, was sie mit ihnen macht, auf eindrückliche Weise. Bedrückende Szenerien, das Bühnenbild mit glitzerndem Schein, Sonne, Orangenhainen, die das gefährdete Da-Sein übertünchen. Die Luxusklamotten der Gucci-Gang stehen für die Differenz zwischen Arroganz und Armut. Die New Economy greift, doch die Okies sind nicht willkommen. Der amerikanische Traum, «alle können es schaffen, sich nur anstrengen, arbeiten, fleissig sein und sich nicht schonen», bleibt unerfüllt. Erfolg ist eine trügerische Sehnsucht. Das Publikum zeigt sich beeindruckt und spendet reichlich Applaus.

 

Mit Maja Beckmann, Gottfried Breitfuss, Nils Kahnwald, Nadège Kanku, Kotoe Karasawa, Benjamin Lillie, Wiebke Mollenhauer, Steven Sowah. Bühne Jonathan Mertz. Kostüme Lene Schwind. Musik Jonas Holle, Kotoe Karasawa. Dramaturgie Katinka Deecke.

Premiere: 25. Oktober 2019. Infos und weitere Veranstaltungen: www.schauspielhaus.ch

 

 

 

«NZZ-Podium über Freundschaft im Schauspielhaus Zürich: Von Drachentötern, Dissidenten und Dogmen»

 

Von Ingrid Isermann

 

Die letzte vollbesetzte NZZ-Podiums-Veranstaltung des Jahres im vorweihnachtlichen Zürich am 26. November 2019 im Schauspielhaus galt dem Thema «Freundschaft – Glück und Wahl» mit dem Liedermacher und Lyriker Wolf Biermann, dem Schriftsteller Alex Capus, der ehemaligen Tennisspielerin Martina Hingis und Alice Schwarzer, Aktiv-Feministin und Herausgeberin der Zeitschrift «EMMA».

 

Die launige Gesprächsrunde, befragt von Martin Meyer – «Freundschaft ist ein fragiles Geschöpf» -, erzählte von persönlichen Freundschaften, die auseinandergehen und mitunter wieder zusammenfinden. Wolf Biermann berichtete nach seinem Liederauftakt von seinem Freund und Regimekritiker Robert Havemann, ohne den er das zwölfjährige Arbeitsverbot in der DDR nicht überstanden hätte. Und von seinem langjährigen Freund und Maler Jürgen Böttcher, der ihn nach seiner Ausbürgerung 1976 in Paris besuchte, wir sind «zwei Freunde, die nicht mehr zusammengehören, wir sind auf demselben Boot zusammen und fahren längst auf verschiedenen Flüssen, wir quasseln das lange Schweigen tot, kennen uns noch und erkennen uns nicht». Richtige Freunde und falsche Freunde seien eine variable Grösse, so habe er damals einem Freund seine Tagebücher anvertraut, um sie vor der Stasi zu verstecken. Als die Mauer 1989 fiel, meldete sich der Freund bei ihm und sagte, du kannst deine Tagebücher wiederhaben, er hatte sie für ihn bewahrt. Später las Biermann in seinen Stasi-Akten, dass dieser Freund ein Spitzel war. Biermann dazu lakonisch: «Nicht alle Stasi-Mitarbeiter waren Schweine, und nicht alle Schweine waren in der Stasi». Zudem ein Vermerk in den Akten lautete, dieser IM sei unzuverlässig, man könne ihn nicht mehr gebrauchen. Zu den Freunden gehören auch die richtigen Feinde, so Biermann, in der DDR war er ein Drachentöter, aber «ein Drachentöter ohne Drachen ist eine lächerliche Figur». Nun beschränke er sich eben auf Ersatzdrachen, was Erheiterung beim Publikum auslöste.

 

 

Alice Schwarzer erzählte von der Freundschaft zu ihrer besten Jugendfreundin, die sie 40 Jahre lang nicht gesehen hatte, ihre letzte Begegnung war am Zug nach Paris, ein Abschied von Jugend und Gemeinsamkeiten. Nachdem sie sich bei ihr gemeldet hatte, frischten sie ihre Freundschaft wieder auf. Frauenfreundschaften sind eine schwierige Sache, meinte Schwarzer, sie pflege heute eher fragmentarische Freundschaften, bedingt durch die verschiedenen Wohnsitze, zur Freundschaft gehöre auch ein nachbarlicher Kontakt um die Ecke. Und Freundschaften mit Männern seien nach einer Weile sehr ambivalent, wenn sich keine grössere Nähe einstelle. Männerfreundschaften hielten mehr Differenzen aus und seien robuster, während Frauen leichter zu verunsichern und schneller gekränkt oder verletzt sind. Bei Frauenfreundschaften hätten nach wie vor die Liebesbeziehungen Priorität.

 

 

Alex Capus konstatierte, vielleicht seien wir auf facebook befreundet, ohne es zu wissen, um einige Ecken von Freunden herum. Er bevorzuge einen physischen Ort, in einer Bar, in einer Kneipe, um die Freundschaft zu pflegen. Aber die digital natives wüssten schon damit umzugehen, für was sie facebook nutzen und ihre Freunde in Echtzeit. Die Kneipe sei aber das «Herz der res publica». Dass sich gleich und gleich gern gesellt, ist eine Binsenwahrheit. Das Wir-Gefühl, das andere ausschliesst, hätte speziell die SVP im Programm, mit denen es beim Zusammensitzen oftmals aber gemütlicher sei als mit den Linken. Der Fremde ist ein Trugbild, um die eigene Identität zu bewahren.

 

 

Martina Hingis begann ihre internationale Tenniskarriere mit 15 Jahren, war ständig auf Tour, was Freundschaften erschwerte. Mit der russischen Tennisspielerin Anna Kurnikova spielte sie im Doppel «zwei coole Jahre» lang zusammen. «Tennis ist eine einsame Sache», meinte Hingis, «Freundschaften im Sport, im Tennis sind schwierig». Auch mit Steffi Graf spielte Hingis, die ein Jahr lang Nr. 1 im Tennis-Doppel war. Heute würden sich viele junge Leute digital auf Tinder umsehen, wo man ein Profil posten und schnell jemanden kennenlernen kann.

 

 

Martin Meyer beschwörte das Schauspielhaus als «dialektische Kneipe» und brachte Max Frisch und seine Fragebogen zur Freundschaft ins Spiel: «Halten Sie sich einen Hund als Freund?» und «Gibt es Freundschaft ohne Affinität zu Humor?». «Humor ist kein Dogma», meinte Alex Capus, man könne deshalb nicht generell das Anrecht auf Freundschaft verwehren. Aber sicher passten zwei Humorlose besser zusammen. Alice Schwarzer fand Freundschaften unerträglich, wenn Menschen keinen Humor haben. Für sie ist eine Voraussetzung, dass Menschen auch intelligent sind. «Keiner hält sich aber für dumm», warf Capus ein. Und Biermann ergänzte: «Auch Feinde sind nicht dümmer als ich, so dumm wie sie sind, bin ich noch allemal».

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