FRONTPAGE

«Junichiro Tanizaki: Der Schlüssel»

Von Ingrid Isermann

 

Ein raffinierter Tagebuchroman über die dunkle Seite der Sexualität, die Leser auch heute noch in Bann zieht. Junichiro Tanizaki ist einer der bedeutendsten Autoren Japans, und sein raffinierter Skandalroman gilt als Meilenstein in seinem literarischen Werk.

Darin schildert er die Geschichte einer langjährigen Ehe, die von Frust und mangelnder Leidenschaft geprägt ist. Erst als ein Schlüssel zu einem geheimen Tagebuch auftaucht, kommen die unterdrückten Obsessionen und Sehnsüchte zutage mit fatalen Folgen. Unfähig, über ihre geheimsten Sehnsüchte und Fantasien zu sprechen, beginnen ein Professor und seine Frau jeweils ein Tagebuch zu führen – ahnend, dass der andere das Geschriebene lesen wird. Auf diese Weise können sie ihr Inneres ungehemmt offenbaren: Sie legen Geständnisse ab, provozieren, täuschen bewusst. Und tatsächlich kommen sich die beiden dadurch körperlich wieder näher, nur ganz anders, als sie es sich vorgestellt haben.

 

Über Lüge und Wahrheit zu sprechen, ist eine der Unwägbarkeiten des Lebens, die in diesem Buch so existentiell und substanziell zur Sprache kommen, und es ist diese zärtliche, elegante und doch glasklare Sprache, die anrührt und ergreift. Tanizaki, hierzulande nahezu unbekannt, ist eine Entdeckung der modernen japanischen Literatur.

 

«Japans bedeutendster Schriftsteller hat eine Geschichte über Sex und Ehe geschrieben, die an rückhaltloser Offenheit keinem der seit «Lady Chatterley» über dieses Thema verfassten Romane nachsteht. Des Autors Schärfe in der Beobachtung einer menschlichen Krise, sein tiefernster, fast feierlicher Erzählton und seine einfache, sorgfältige Sprache verleihen dem Buch eine überragende Qualität». Time

 

Junichiro Tanizaki wurde 1886 in Tokio geboren. Er war der Autor zahlreicher Romane, Dramen und Essays, u. a. von »Lob des Schattens«, »Liebe und Sinnlichkeit« und »Tagebuch eines alten Narren«. 1964 wurde er als erster Japaner zum Ehrenmitglied der American Academy of Arts and Letters ernannt. In den Jahren kurz vor seinem Tod (1965) galt er als ein Anwärter für den Literaturnobelpreis, bekam ihn aber nicht mehr zugesprochen.

 

 

LESEPROBE

Am Neujahrstag

Ich habe mich entschlossen, von nun an alle Dinge, auch solche, die ich noch nie meinen Tagebüchern anvertraut habe, aufzuzeichnen. Bisher habe ich nie etwas Genaueres über mein intimes Leben, über das Verhältnis zwischen meiner Frau und mir, in meinem Tagebuch berichtet. Ich fürchtete nämlich, dass meine Frau dieses Tagebuch lesen und ungehalten darüber werden könnte, aber von diesem neuen Jahr an habe ich mir vorgenommen, mich nicht mehr vor ihrem Zorn zu fürchten. Ich bin sicher, dass meine Frau weiß, wo und in welchem Fach meines Arbeitszimmers dieses Tagebuch liegt.
In eine der ältesten Familien Kyotos hineingeboren und in einer feudalen Atmosphäre erzogen, legt sie noch heute in vielem Wert auf überkommene Moral und neigt sogar dazu, stolz darauf zu sein. Ich glaube zwar kaum, dass sie heimlich in den Tagebüchern ihres Mannes schnüffelt, aber ganz sicher bin ich nicht; es gibt genug Gründe, darüber im Zweifel zu sein. Könnte sie wohl der Versuchung widerstehen, die Geheimnisse ihres Mannes zu erfahren, nachdem ich meinen bisherigen Gewohnheiten untreu geworden bin und vieles über unser Eheleben aufschreibe? Sie ist verschlossen und liebt das Geheime. Oft gibt sie sich den Anschein, nicht zu wissen, obwohl sie weiß, und sie verrät nicht leicht, was in ihrem Herzen vorgeht. Obendrein glaubte sie, dies gehöre zur Tugend einer ehrsamen Frau; das aber ist das Schlimmste.
Den Schlüssel zu dem Fach, in dem ich mein Tagebuch aufbewahre, habe ich an einem bestimmten Ort versteckt, und von Zeit zu Zeit ändere ich das Versteck; aber bei ihrer Neugier und Findigkeit könnte es wohl sein, dass sie alle meine bisherigen Schlüsselgeheimnisse kennt. Natürlich könnte sie es sich leichter machen, wenn sie sich einfach einen Dietrich beschaffte.
Ich habe zwar oben geschrieben, »von diesem neuen Jahr an habe ich mir vorgenommen, mich nicht mehr davor zu fürchten, dass sie alles liest«, aber wenn ich es recht bedenke, habe ich mich eigentlich nie sehr davor gefürchtet. Ich war sogar immer darauf gefasst, dass sie es läse, und im Stillen habe ich es beinahe gewünscht. Dann ist aber zu fragen, warum ich das Fach abschließe und den Schlüssel verstecke.
Vielleicht liegt der Grund darin, dass es mir Freude macht, ihre Neugier zu reizen. Oh, wie sie es liebt, den Dingen heimlich nachzugehen! Ließe ich nun mein Tagebuch da liegen, wo sie es leicht lesen könnte, würde sie denken, »dieses Tagebuch hat er geschrieben, damit ich es lesen soll«, und würde ihm keinen Glauben schenken. Nicht nur dies würde sie denken, sondern obendrein »das wirkliche Tagebuch muss irgendwo anders versteckt sein«.
Meine Ikuko, mein geliebtes Weib, du siehst, ich weiß nicht, ob du dieses Tagebuch wirklich liest. Es hat keinen Zweck, dich zu fragen, denn du würdest nur antworten, »ich lese doch nicht heimlich das Tagebuch eines anderen Menschen«. Aber wenn du es doch liest, glaube mir, was ich hier niederschreibe, ist kein fingiertes Tagebuch und enthält nichts Unwahres.
Nichts mehr davon, denn einem misstrauischen Menschen zureden, heißt sein Misstrauen vertiefen. Würdest du dir aber die Mühe machen, diese Seiten zu lesen, ginge dir von selbst auf, dass ihr Inhalt die lautere Wahrheit ist.
Selbstverständlich bin ich nicht gesonnen, nur bei den Dingen zu verweilen, die ihr gefallen werden. Es gibt auch Tatsachen, die ihr unangenehm sind, die ihren Ohren wehtun werden. Ihre Geheimnistuerei hat den Wunsch in mir wach werden lassen, dergleichen aufzuschreiben. Ob sie wohl glaubt, das sei sie ihrer Vornehmheit schuldig? Jedenfalls findet sie es sogar zwischen Eheleuten unanständig, sich über Schlafzimmerprobleme zu unterhalten, und wenn es mich einmal reizt, heikle Geschichten zu erzählen, hält sie sich die Ohren zu.
Diese vorgebliche »Sittsamkeit«, diese scheinheilige »Fraulichkeit«, diese gekünstelte »Vornehmheit« – sie sind an allem schuld. Zwanzig Jahre ist sie mit mir verheiratet und besitzt sogar eine heiratsfähige Tochter, und doch haben wir noch nie ein vertrautes Liebesgespräch geführt. Wir gehen zusammen zu Bett und verrichten schweigend unsere ehelichen Pflichten – aber kann man uns ernstlich ein Ehepaar nennen?
Ich schreibe dies nieder, weil ich es nicht mehr ertrage, nicht direkt mit ihr über die Intimitäten unseres Schlafzimmers sprechen zu können. Von nun an werde ich ohne Rücksicht darauf, ob sie es heimlich lesen wird, so schreiben, als spräche ich zu ihr.
Zunächst möchte ich nicht unterlassen zu sagen, dass ich sie von Herzen liebe. Ich habe das schon öfter geschrieben, es ist aber keine Phrase, mit der ich ihr schmeicheln will, und ich glaube, sie weiß das auch. Doch mein physisches Verlangen ist nun einmal nicht so stark wie das ihre, in diesem Punkt kann ich mich nicht mit ihr messen. Ich werde in diesem Jahr sechsundfünfzig (sie muss jetzt fünfundvierzig Jahre alt sein), und das ist noch kein Alter, um schwach zu werden; aber, ich weiß nicht, warum, in letzter Zeit strengt es mich sehr an. Ehrlich gesagt, wäre es für mich besser, wenn wir einmal in der Woche, sagen wir, einmal in zehn Tagen miteinander schliefen. Dagegen ist sie, obwohl skrofulös und herzschwach, in dieser Sache fast krankhaft stark. (Über dergleichen offen zu schreiben oder zu reden, verabscheut sie besonders.) Gerade dies aber verwirrt mich augenblicklich am meisten. Es bedrückt und bekümmert mich, dass ich die Pflichten eines guten Ehegatten nicht besser erfüllen kann; doch angenommen – ich sage nur »angenommen« – sie wird sicher sehr böse sein und sagen, »hältst du mich für ein so liederliches Frauenzimmer?« –, angenommen also, sie hielte Ausschau nach einem anderen Mann, um dem Mangel abzuhelfen, ich könnte es nie und nimmer ertragen. Allein die Vorstellung macht mich eifersüchtig. Außerdem scheint es mir auch aus Rücksicht auf ihre Gesundheit angebracht, dass sie ihre krankhaft starke Begierde zähmt … Was mir Sorgen macht, ist die Kraft … dass die Kraft meines Körpers von Jahr zu Jahr mehr dahinschwindet. In letzter Zeit bin ich jedes Mal sehr erschöpft, und an den folgenden Tagen fühle ich mich so matt und müde, dass ich außerstande bin, über wichtige Sachen nachzudenken.
… Würde man mich aber fragen, »bist du denn der Liebe mit ihr abgeneigt?«, so müsste ich es verneinen und das Gegenteil behaupten. Auf keinen Fall ist es so, dass nur der Begriff der ehelichen Pflicht mich treibt und meine Sinne schürt und dass ich ungern ihrem Begehren antworte. Ich weiß nicht, ob es ein großes Glück oder ein großes Unglück ist, aber ich liebe sie heiß und innig.
Hier muss ich wieder etwas enthüllen, das für sie tabu ist. Sie besitzt eine vorzügliche Eigenschaft, eine Eigenschaft, von der sie selbst keine Ahnung hat. Hätte ich nicht in der Vergangenheit andere Frauen gekannt, würde ich diesen Vorzug kaum bemerkt haben. Aber da ich in meinen jungen Jahren einiges erlebt habe, weiß ich, dass sie einen selten zarten Orgasmus besitzt, der sogar unter Frauen nicht oft zu finden ist. Hätte man sie in alter Zeit in ein Freudenviertel wie Shimabara verkauft, sie wäre sicher eine berühmte Kurtisane geworden, von den Männern umworben, von den Frauen beneidet. Sie hätte mit ihren Reizen jeden Kenner bezaubert, und die erfahrensten hätten nur nach ihr verlangt. (Vielleicht ist es besser, wenn sie dies nicht erfährt. Es könnte nur negative Folgen für mich haben … Würde sie sich denn darüber freuen, oder würde sie sich schämen? Oder würde es gar eine Beleidigung für sie sein? Wahrscheinlich wird sie so tun, als wäre sie sehr entrüstet, aber in ihrem Herzen wird sie einen gewissen Stolz kaum unterdrücken können.) Der bloße Gedanke an ihre Vorzüge macht mich eifersüchtig. Genösse nun ein anderer Mann als ich ihre Vorzüge, und meine Frau erführe dabei, dass ich dem vom Himmel geschenkten Glück nicht voll habe entsprechen können, was geschähe dann?

 

 

Junichiro Tanizaki
Der Schlüssel
Original: Kagi
Aus dem Japanischen von Sachiko Yatsushiro,

Gerhard Knauss
Hardcover

Format: 12,1 x 19,2 cm , 192 Seiten

ISBN: 978-3-0369-5748-7
CHF 26

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