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«Kate Tempest: Brandneue Klassiker»

Von Ingrid Isermann

 

Klassiker? Und Götter? Kate Tempest will es wissen: Die antiken Götter von heute leben im Südosten Londons. Sie heissen Kevin und June, Mary und Brian, Thomas und Clive. Ihre Hoffnungen und Enttäuschungen bringt die Lyrikerin mit ihrem preisgekrönten Prosagedicht «Brandneue Klassiker» auf den Punkt. In den lebensnahen Zeilen findet sie die Kraft alter Mythen mit der Wucht einer existenziellen Sprache und einem Bekenntnis zur Humanität.

Egal, wo man anfängt, es hört nicht auf und zieht sich durch, durchs Leben der Protagonisten, man hält atemlos inne, blättert ein paar Seiten vor oder zurück, es ist aus einem Guss, das Prosagedicht, das das ganze Buch füllt. Und man liest es am besten gleich durch und fängt dann nochmal von vorne an, so also geht das Leben, man lernt den Zynismus und die Gleichgültigkeit der kapitalistischen Gesellschaft kennen, die man schon kennt und die sich hier in aktuellen, schnellen, sprunghaften Voten entfaltet. Chapeau! Wer wenig mit Lyrik anfangen kann, zu kompliziert oder vermeintlich zu schwierig, kann hier einen guten Einstieg finden, sogar mehrere. Hier einige Kostproben:

 

Brandneue Klassiker

 

Früher machten wir uns mit Mythen verständlich.
Heute fehlen uns die Worte für den unendlichen Hass
auf uns selbst, auf das was wir selbst aus uns machten,
für die krasse Selbstverachtung.
Wir fallen uns selbst zur Last und verstricken
uns in uns selbst du ersticken daran fast.

 

Und doch: Wir sind immer noch mythisch.
Wir schwanken immer noch pausenlos zwischen Heldentum
und Elend.
Wir sind immer noch göttlich;
das macht uns so schrecklich.
Nur haben wir scheinbar vergessen, wir sind viel mehr als die
Summe all dessen,
was uns gehört.

(…)

Wir sind vollkommen dank unseren Schwächen.
Wir müssen die Hoffnung bewahren;
Wir müssen die Ruhe bewahren –
denn wenn sie die Moderne ausgraben,
entdecken sie uns: die Brandneuen Klassiker.

 

Schau – alles, was wir heute haben, ist alles, was wir immer
hatten.

 

Wir haben Neid
und Talente und Flüche und Zärtlichkeit.
Aber die Not eines Volkes, das seine Mythen nicht kennt
und meint, es gäbe nur Jetzt und nichts sonst,
ist entsetzlich,
einsam und beklommen –
aber das Leben in deinen Adern,
das ist göttlich, heldenhaft.
Du bist für Grosses gemacht;
kannst du glauben. Kannst du wissen.
Lies es in den Tränen der Dichter.

(…)

Die Geschichten sind hier,
die Geschichten bist du,
und deine Angst
und deine Zuversicht
sind so alt
wie Rauchzeichen,
wie Blutrache,
wie die Sprache
weichender Liebe.

 

Die Götter sind alle hier.
Denn die Götter sind in uns.

 

Die Götter sind in Spielotheken
die Götter sind im Imbiss
die Götter rauchen an der Hintertür
die Götter sind in Bürokomplexen
die Götter sitzen am Schreibtisch
die Götter sind auf Raves –
zwei Pillen tief im Tanzen –
die Götter stehen lachend in den Gassen
die Göter gehen zum Arzt
sie brauchen was gegen den Stress
(…)

Verloren in den Menschenmassen, sie faulen innerlich.
Sie hoffen, es gibt mehr im Leben, doch was, wissen sie
nicht.

 

Diese Götter haben kein Orakel, das ihre Wünsche verkündet,
diese Götter haben Kopfschmerzen, Kredite und Streit,
darüber, wann sie ihre Kinder das nächste Mal sehen,
sie zanken sich nicht über Favoriten –
sie machen einfach nur weiter.
Wir sind die Brandneuen Klassiker.

Also los, such dir einen aus.
Einen dieser einsamen Götter vor der Glotze,
die wunschlos gelangweilt durch die Kanäle schalten.
Such dir irgendeinen aus. Schau noch einmal hin,
und dann siehst du die Götter walten
in diesen Augen, die so menschlich und bescheiden sind.

 

 

 

(…)
Hier sind sie nun also, Kevin und Jane,
Jane ist gelangweilt und denkt schon ans Gehen,
Kevin bemerkt’s nicht, er ist treu und brav,
der Einfach-so-weiter-Typ, verdräng, was dich plagt.
Und da sind die Nachbarn, Mary und Brian,
sie hasst seine Lügen, und er hasst ihr Weinen,
sie haben sich satt, kein Ausweg in Sicht,
ihre glückliche Zeit liegt schon Jahre zurück.

(…)

Armer Kevin – seht ihn an, so würdevoll, standfest, ergeben,
Inbegriff der Treue, niemals bleibt die Hilfe aus,
wenn ein Freund im Regen steht. Die Augen überanstrengt
vom Stieren auf den leeren Stuhl, während sie sich verschenkt,
und er weiss es, leider masslos, bleibt sprachlos,
seht ihn an, so demütig, still, bescheiden – majestätisch,
ein Fels, der vergeht nicht, er zerbröselt innerlich und steht
doch fest,
eine Stütze. Kevin, dein Altar ist mossbedeckt,
die Inschrift, vor langer Zeit gemeisselt, kaum lesbar, einst
stand da –
bleib redlich, selbst wenn die anderen es nicht sind.
Er durchbricht den Stein seiner Selbstverachtung,
steigt in seine Sachen
und geht zur Arbeit. Keiner hat ihm bestimmt,
so zu leben, aber es ist seine Bestimmung,
ohne Chaos, Aufregung, Romantik, nicht packend
oder rasend, nicht Hals über Kopf
stürzend, sondern klammernd,
eine Hand nach der andern, hoch aus dem Abgrund,
keuchend,
Kevin, ein Gott, der besser als die meisten weiss, was
Genügsamkeit bedeutet.

 

Playlist der Brand New Ancients-Tournee von Kate Tempest

 

Kate Tempest, *1985 in Süd-London, ist Rapperin, Lyrikerin, Theater- und Romanautorin. Für ihren ersten Gedichtband «Brand New Ancients –Brandneue Klassiker» wurde sie 2013 mit dem Ted Hughes Award for New Work in Poetry ausgezeichnet, einem der wichtigsten Lyrikpreise Grossbritanniens. Ihr zweiter Gedichtband «Hold Your Own» (edition suhrkamp 2706), zählte in der Übersetzung von Johanna Wange zu den Lyrik-Empfehlungen 2016.

 

 

Kate Tempest
Brand New Ancients
Brandneue Klassiker
Lyrik
Englisch und deutsch
Übersetzt von Johanna Wange
Edition Suhrkamp Berlin, 2017
103 S., TB, CHF 21.90
ISBN 978-3-518-12733-9

 

 

 

«Georges Haldas – Der Raum zwischen zwei Wörtern»

 

Georges Haldas, der Genfer Schriftsteller mit griechischen Wurzeln, ist in der Deutschschweiz vor allem als Chronist der Rhonestadt bekannt. Sein lyrisches Gesamtwerk, das mehr als tausend Gedichte umfasst, jedes ein «Bruchstück des Unaussprechlichen», ist jedoch bisher kaum beachtet worden.

 

Erstmals liegt nun eine von Christoph Ferber ins Deutsche übertragene repräsentative Auswahl aus der Fülle von Gedichten vor, die Haldas, der das Poetische überall und in allem fand, publizierte. Mit Sensibilität und Intensität spricht er in meist knappen, unvermittelt aneinandergereihten Sätzen und Bildern von den kleinen Dingen des Lebens, von Schmerz und Trauer, vom Glück, von Sonnenaufgängen, vom Rückzug in die Stille, von Kaffeehäusern und vom Geruch des Brotes, der Erinnerungen an die Kindheit weckt.

 

 

Tauben

 

Tauben – in der Stille
durchdringt ihr mein Leben
durchdringt ihr mein Leiden
Bei diesem friedlichen Wasser
sind die Toten mit uns
Tauben – im Gras
wo ein Alter
auf der Bank sitzt, euch hört
euer Trippeln verfolgt
Tauben – in uns
habt ihr alle
die gleiche Stimme

 

 

Genf

 

Womit nur vergleichen
dich weisse, still schauende
Stadt? – Mit Öden, mit Palmen,
mit zu spärlichen Sonnen.

Ein verborgenes Feuer
will funkeln, will sterben,
Es bleibt aber dunkel
wie verschwommene Wünsche.

Und kommt dann der Abend,
vereinen sich Seelen,
es scheint so, als wären
es Rudel von Wölfen.

 

 

Georges Haldas (1917-2010), Sohn eines Griechen und einer Schweizerin, lebte in den ersten Jahren seiner Kindheit in Griechenland und kam mit neun Jahren in die Schweiz. Er studierte Literatur in Genf, arbeitete als Hauslehrer, Journalist und Buchhändler. Er übersetzte Anakreon, Catull und Umberto Saba ins Französische und publizierte zahlreiche eigene Werke – Gedichtbände, Essays, Notizbücher, Chroniken, Romane -, für die er vielfach ausgezeichnet wurde.

 

 

 

Georges Haldas

Der Raum zwischen
zwei Wörtern
L’espace entre deux mots
Gedichte französisch und deutsch
Ausgewählt und übersetzt von
Christoph Ferber
Nachwort von Barbara Traber
Limmat Verlag Zürich, 2017
186 S., geb. CHF/€ 38.
ISBN 978-3-85791-799-8

 

 

«Anna Maria Bacher: Augenblicke»

 

Die unverwechselbare Stimme der aus dem piemontischen Val Formazza (Pomatt) stammenden Lyrikerin erregte bereits 2011 an den Solothurner Literaturtagen Aufsehen mit ihrem Gedichtband «Farbige Spuren».

 

Nun erscheint mit «Augenblicke» eine neue dreisprachige Sammlung von 67 Gedichten, die von der Verbundenheit der Dichterin mit der Sprache und Kultur ihrer walserischen Bergheimat zeugt. Sie weiss um deren Gefährdung, der sie nicht lautstark, aber umso eindrunglicher mit den «rumori del silenzio, den Geräuschen der Stille begegnet.

 

 

Ich habe Angst,
in mich hinein zu schauen.
Tief in der Dunkelheit
Regen sich
Furcht und Erinnerung,
die an fragenden Haken
baumeln.
Ich allein,
ich gar nichts
in einer solchen Wirrnis.

 

 

Der Kuh

Sie haben auch dich geknechtet,
arme Kuh.
Verboten der tägliche Ausgang
auf die Allmende,
zu schwer
für dein riesiges Euter.
Du musst drinnen bleiben
und die Erinnerungen an die Blumen
und die wohlriechenden Kräuter
wiederkäuen,
während die Augen
sich füllen
vor lauter Sehnsucht.
Sogar die Hörner
haben sie dir genommen,
damit du dich nicht mehr wehren kannst.
Wenn die kalte Maschine
ohne Milroben
dich melkt,
träumt dein Herz
von warmen Bauernhänden,
die deine Striche streicheln.
Trotzdem haben sie dich roboterisiert
in dieser Welt,
die uns alle gleichmachen will –
und zudem hochgradig produktiv.

 

 

Anna Maria Bacher, geboren 1947 in Gurfulu/Grovella im piemontischen Pomanttertal/ Val Formazza. Ausbildung am Collggio Rosmini in Domodossola. Lehrerin in Zumstägg/Ponte. Dort lebt sie it ihrer Familie und widmet sich neben der Haus- und Gartenarbeit vor allem der Erhaltung und Förderung ihrer heimatlichen Walserkultur. Sie wurde für ihre literarische Arbeit mehrfach ausgezeichnet.

 

 

Anna Maria Bacher
Augenblicke
Gedichte Walserdeutsch, Deutsch und Italienisch
Herausgegeben und ins Deutsche übersetzt von Kurt Wanner
Vorwort von Annibale Salsa
Limmat Verlag Zürich, 2017
CHF/€ 38.
ISBN 978-3-85791-828-5

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