FRONTPAGE

«Vielleicht Esther»: Eine exemplarische europäische Geschichte

Von Ingrid Isermann

 

Für einmal hat die Literatur die Politik überholt. «Vielleicht Esther» hat eine unerwartete Aktualität erfahren. Kiew, der Geburtsort der Autorin Katja Petrowskaja, ist zum Brennpunkt der Krise der Ukraine mit Russland geworden. In Kiew und Warschau, Mauthausen und Auschwitz untersucht Katja Petrowskaja die Fragmente eines vielfältigen Familienmosaiks. In einer wunderbar poetischen Sprache erweckt sie die Vergangenheit und die unbekannten Verwandten zum Leben.

 

 

«Vielleicht Esther» ist ein Buch, das mit Bedacht gelesen sein will, über eine weitverzweigte Familiengeschichte, die wie von ferne kommend an die Türe klopft, entfernte Verwandte, entfernte Europäer, die ihre Nationalität wechselten wie andere Leute die Schuhe, nach der Prämisse von Brecht, als Polen unter russischer Herrschaft stand, und es in Warschau das Ghetto gab, auf dessen Spuren sich die Nachfahrin Katja Petrowskaja befindet. Die Autorin wurde 1970 in Kiew geboren, der Hauptstadt der Ukraine, die 45 Millionen Einwohner zählt und 1991 von Russland unabhängig wurde.

 

 

Die Geschichte der Genealogie

Vor einem dunkelblau verspiegelten Wolkenkratzer in Warschau stehend, sucht die Autorin das Jewish Genealogy & Family Heritage Center, bis sie plötzlich eine Plexiglas-Tafel entdeckt, dass hier an diesem Ort die grösste Synagoge Warschaus stand, gebaut und gesprengt dann und dann und ein Foto dazu. Im Erdgeschoss des Wolkenkratzers neben Supermarkt und Auto-Ausstellung findet sie die Family Heritage. Sie ist auf Spurensache nach dem Haus, in dem ihre Grosseltern 1939 gelebt haben, als 39 Prozent Juden in Warschau lebten. 1939 und 39 Prozent, eine seltsame Koinzidenz der Zahlen!

 

Die Suche im Computer der Institution geht schneller als gedacht, in wenigen Sekunden spuckt er alle Tabellen aus: Ihr Urgrossvater Ozjel Krzewin heiratete 1895 Estera Patt und 1898 bekamen sie einen Sohn namens Szymon, ‚euren Zygmunt‘. «Ich war erst zehn Minuten im Institut, und schon hatte ich neue Daten und einen neuen Namen, Estera Patt, die erste Frau von Osjel». Sie hätte Glück, meinte die Frau, dass ihre Familie nicht direkt aus Warschau stammte, denn von Warschauer Familien sei kaum etwas erhalten, alle Archive wurden zerstört. Die Daten der Polen wurden teilweise rekonstruiert, für die Juden war der Verlust ‚natürlich fatal’.

Die Familie Krzewin, Dutzende von Hawas und Ozjels, Rivkas und Bajlas, Rajzla, und ein Tobiasz, stammte aus der Region Kalisz, und sie erfuhr die Tabellen mit Namenlisten der mutmasslichen Verwandten aus dem Shtetl Kolo, nicht weit von Kalisz. Tobias Krzewin war einer der ersten, der in den Familienalben erwähnt wurde, sein erstes Kind wurde in dem Jahr geboren, in dem Joseph Haydn ‚Il ritorno di Tobia’ schrieb, die Rückkehr des Tobias. Katja Petrowskajas deutscher Mann trägt ebenfalls den Namen Tobias, den sie nur im deutschen Kontext kannte und dabei nie an Tewje, der Milchmann, Tewje, Tobias, gedacht hatte, den Roman von Scholem Alejchem und das weltbekannte Musical «Fiddler On The Roof, Anatevka».

 

 

Ebay now
Und wo stand das Haus? «Anna zeigte mir eine Website, das Warschau der Vorkriegszeit, ein Foto der gesuchten Strasse Ulica Ciepla, allerdings nicht von dem Abschnitt, den Sie brauchen. Gehen Sie rüber zu Janek, er hat alles». Jan Jagielski, gut siebzig Jahre alt, begrüsst die Autorin mit erlesener Höflichkeit und führt sie in das Büro des Zydowski Instytut Historyczny. «Ich suche die Ulica Ciepla 14», sagt die Autorin und erzählt die Familiengeschichte und die Suche nach dem Haus der Grosseltern. Die Ciepla, sagt Janek, ist eine Arme-Leute-Gegend gewesen, ich wohne grad um die Ecke und zeigt Fotos aus der Gegend, bis er plötzlich sagt: «Hier ist es, das Foto». Viele Menschen auf der Strasse, sie schauen mit angstvollem Blick auf den Fotografen. Petrowskajas polnische Verwandte sind alle umgekommen, die Geschwister von Ozjek, seine Mutter; Zygmunt, Hela, ihre Familie, «aber ich hatte nie an sie gedacht». Sie haben Glück, sagte Janek, das ist das einzige Foto. Was für ein Glück? «Ich habe dieses Foto gerade auf Ebay gekauft», sagte er, «in letzter Zeit ist das eine gute Quelle, alte Leute verkaufen ihre Fotos, bevor sie abtreten, oder ihre Kinder, dieses Foto habe ich von einem Angehörigen der Wehrmacht gekauft, für siebzig Euro, ein guter Preis».

 

 

Der Ariadnefaden

Aus der Geschichte erfährt man, dass es im Personal der Familie einen Anarchisten und Attentäter gab, Judas Stern, der im März 1932 auf einen deutschen Botschafter in Moskau schoss und hingerichtet wurde, einen Revolutionär, der zu den Bolschewiken ging und seinen Namen änderte, den die Familie Petrowskij schon hundert Jahre trägt, einen Physiker, der ein experimentelles Turbinenwerk in Charkow leitete und während der Säuberungen verschwand, einen Kriegshelden, der Ehemann ihrer Tante Lida, der Schwester ihrer Grossmutter Rosa, dann Lehrer, die in ganz Europa, in Österreich-Ungarn, in Frankreich und Polen, Waisenhäuser gründeten und taubstumme Kinder unterrichteten. «Sieben Generationen», sagte meine Mutter, «zweihundert Jahre lang haben wir taubstummen Kindern das Sprechen beigebracht», obwohl meine Mutter nie taubstumme Kinder unterrichtet hat, sie unterrichtete Geschichte. «Diese sieben Generationen klangen wie im Märchen, als reichten sieben Generationen aus, um in die Ewigkeit zu gelangen, zum Wort».

Ihre Schwester Lida, ihre Mutter Rosa und alle Geschwister des Grossvaters, sein Vater und auch dessen Vater unterrichteten taubstumme Kinder, sie gründeten Schulen und Waisenhäuser und lebten mit diesen Kindern unter einem Dach, sie teilten alles mit ihnen, sie kannten keinen Spalt zwischen Beruf und Leben, diese Altruisten, meine Mutter liebte dieses Wort. «Sie waren alle Altruisten», sagte sie, und sie war sich sicher, dass auch sie das altruistische Erbe in sich trug, aber ich wusste, dass ich es nicht mehr hatte. Rosa, Babuschka genannt, schrieb in ihren letzten Lebensjahren unablässig an ihren Memoiren, mit Bleistift auf weissem Papier. Das Papier vergilbte schnell, als wollte es seiner natürlichen Alterung zuvorkommen, aber Rosas Erblindung war schneller. Oft vergass sie, ein neues Blatt zu nehmen und schrieb mehrere Seiten auf dasselbe Papier. Eine Zeile ragte in die nächste hinein, und eine weitere legte sich darüber, sie überlagerten sich wie Sandwellen am Strand, einer Naturkraft gehorchend, verknäuelten sie sich im Bleistiftgekritzel, gehäkelte und gewebte Spitzen (Petrowskaja). Diese Schrift ‚wie verfilzte Wolle‘, kaum entzifferbar, wie ein dick gedrehter, unzerreissbarer Ariadnefaden, schmückt jetzt das Cover des Buches «Vielleicht Esther».

 

Und Esther, die vielleicht so hiess, von der der Vater sprach, wird in die Erinnerung zurückgeholt, sanft, aus barbarischen Zeiten, als Kiew im August 1941 beim Einmarsch von der deutschen Luftwaffe in Trümmer gelegt wurde, als überall Plakate aufgehängt waren, die alle Juden beorderten, auf einen Platz nahe des Friedhofs zu kommen, mit ihren Wertsachen, Kleidern und Koffern. Wer konnte, war längst geflohen, zurück blieben die Alten und Schwachen, wie Babuschka allein zu Hause in der Engelsstrasse, einer Strasse, die steil auf den Prachtboulevard Krestschatik hinabführte. Das Stadtzentrum brannte seit Tagen. Explosionen von der Roten Armee legten ganze Viertel in Schutt und Asche. Babuschka wurde nicht mitgenommen, sie konnte sich kaum noch bewegen und hatte es während des ganzen Kriegssommers nicht geschafft, die Treppe hinunter und auf die Strasse zu gehen, sie mitzunehmen, war ausgeschlossen, sie hätte den Weg nicht durchgehalten. Wir dachten, so sagte der Vater, wir kämen bald zurück, aber wir sind erst nach sieben Jahren zurückgekommen.

Die Nachbarn versuchten ihr auszureden, sich an dem Platz zu melden. Gehen Sie nicht! Sie können doch gar nicht laufen! Aber Babuschka mühte sich die Treppe hinab und ging langsam auf die Strasse, ein paar Meter die Engelsstrasse hinunter. Vielleicht Esther bewegte sich auf einen deutschen Offizier zu und redete ihn mit ihrem jiddischen Deutsch an: «Cherr Offizier, sagen Sie mir, was zoll ick denn machen? ikh kann nascht loyfn azoy schnell, ich kann nicht so gut laufen». Sie wurde auf der Stelle erschossen, mit nachlässiger Routine, ohne dass das Gespräch unterbrochen wurde, ohne sich umzudrehen, ganz nebenbei. Innert zwei Tagen wurden 33 000 Juden in der Schlucht von Babij Bar nahe Kiew erschossen.

Jemand muss im September 1941 am Fenster gestanden und sie beobachtet haben, sonst hätte man das Geschehnis nicht später erzählen können. 1948 kehrte die Familie des Vaters nach Kiew zurück, nach Aufenthalten in Rostow, Aschchabad und mehreren Jahren in Barnard im Altai-Gebiet. Das Haus in der Engelsstrasse war zerstört wie auch das gesamte Viertel.

 

Man kann oder sollte das Buch mehrmals lesen, der besonderen Authentizität und auch der Schönheit der Sprache wegen, die den Schrecknissen nicht den Schrecken nimmt, aber die Geschichte aus einer übergeordneten Perspektive einordnet, wie die Autorin schreibt: «Ich beobachte die Szene wie Gott aus dem Fenster des gegenüberliegenden Hauses. Vielleicht schreibt man so Romane. Oder auch Märchen. Ich sitze oben, ich sehe alles! Manchmal fasse ich mir ein Herz und komme näher heran und stelle mich hinter den Rücken des Offiziers, um das Gespräch zu belauschen. Warum stehen sie mit dem Rücken zu mir? Ich gehe um sie herum und sehe nur ihre Rücken. Sosehr ich mich bemühe, ihre Gesichter zu sehen, in ihre Gesichter zu blicken, von Babuschka und dem Offizier, sosehr ich mich auch strecke, um sie anzuschauen und alle Muskeln meines Gedächtnisses, meiner Phantasie und meiner Intuition anspanne – es geht nicht. Ich sehe die Gesichter nicht, verstehe nicht, und die Geschichtsbücher schweigen».

 

 

Katja Petrowskaja

Vielleicht Esther

Geschichten

Suhrkamp Berlin, 2014

285 S., geb., CHF 28.50.  € 19.95.

ISBN 978-3-518-42404-9

 

 

Katja Petrowskaja, 1970 in Kiew geboren, studierte Literaturwissenschaft in Tartu (Estland) und promovierte in Moskau. Seit 1999 lebt sie in Berlin und arbeitet als Journalistin für russische und deutsche Print- und Netzmedien. Seit 2011 ist sie Kolumnistin bei der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung (FAS). Für ihre Erzählung «Vielleicht Esther» erhielt sie den Ingeborg-Bachmann-Preis 2013. 

 

Am Montag, 7. April 2014, 19.30 Uhr liest Katja Petrowskaja aus ihrem Buch im Literaturhaus Zürich, Limmatquai 62. Info: Tel. 044 254 50 00.

 

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