FRONTPAGE

«Kreuzwort: Neue Gedichte von Valzhyna Mort»

Von Ingrid Isermann

Mit ihrem Gedichtband Tränenfabrik (2009) wurde sie gefeiert. Nun legt die junge, weissrussische Lyrikerin (*1981 in Minsk) ihre erste auf englisch verfasste Gedichtsammlung vor. Sie schreibt ihre von Hunger und Verlust gezeichnete Familiengeschichte fort. Noch dringlicher und eindrücklicher setzt sie auf die Themen Lust, Gewalt, Fremdheit und Einsamkeit.

Ihre lebendigen Sprachgitter untersuchen eine in ständiger Veränderung befindliche Welt und hinterfragen, wer wie und was spricht. Was Mort mit Sprache macht, beeindruckt durch ihre Authentizität. Nicht von ungefähr erinnert ihr Stil an die grosse polnische Dichterin Wislawa Szymborska.

 

Valzhyna Mort (eigentlich Martynava), 1981 in Minsk geboren, lebt seit vielen Jahren in den USA und lehrt an der Cornell University, Ithaka. 2004 erhielt Valzhyna Mort den Crystal-Preis beim Literaturfestival im slowenischen Vilenica. Sie übersetzt aus dem Englischen (Ted Hughes) und Polnischen: Unter dem Titel «Tote Saison» erschienen 2007 in Minsk ihre Übersetzungen von Gedichten Rafal Wojaczeks. Im Sommersemester 2013 bekleidet sie die Siegfried-Unseld-Gastprofessur für Osteuropäische Literatur an der Humboldt-Universität Berlin.

 

 

Das Hafenlicht – ein Ausschlag auf der Berggegend.

Nacht, sagt er, ist der schwarze Humor des Tages –

Zuerst hast du Angst

aber bei Morgenanbruch

bring ich dich zum Lachen

 

SYLT I

 

Lieg still, sagt er.

 

Wie ein Hund am Strand
beginnt er zu graben,
bis sich das Loch mit Wasser füllt.
Zwei Sandschenkel hat er schon ausgegraben,
als sie endlich fragt: was ist da,
überzeugt, dass da nichts ist.

 

 

Nirgendwo kann er sie küssen, wo die Sonne nicht schon war.

Jeden Abend geht sie mit ihren drei Schwestern und dem alten
Vater ans Meer.

 

Sie ziehen sich in einer Reihe aus,
ihre Körper gleichen einander wie Girlande.

Die Körper erinnern dich an Frauen, die unentwegt Gemüse
schneiden
– als wohnte man direkt an einem Bahnhof,
flucht ihr Vater –

und sich stets das letzte Stück in den Mund schieben.
Für sie ist nicht einmal ein Messer im Haus geblieben.
Ein Kuckucksruf hinkt über die Dünen.
Sie nimmt sich einen Sonnenstrahl, den Steine schleiften,
und beginnt zu schneiden,
und ihr Gemüse erkennt man daran,
wie es brennt.
Lange nach dem Abendessen reden sie im Garten,
Pflaumen reifen in ihrem warmen Atem, landen auf dem Tisch.

Sie nehmen die Pflaumen, eine nach der anderen, wie Dominos
vom Haufen,
süsse Knochen und zerquetschte Junikäfer kleben noch am Tisch.

 

Indessen stehen sie in weisse Handtuchkokons gehüllt.

Ihre Zähne klappern hinter blauen Lippenlinien,
knirschen auf Körnern aus Salz. Ihre zerbissene Zunge
blutet ins Maul einer roten Auster,
die sie ausschlürft, atemlos.

 

Der Vater wendet sich ab, um seinen Schwanz zu trocknen,
die Schwestern aber rubbeln ihre Brüste, ihre Schösse ungeniert.
Ihre Hände sind geschickt im Tischabwischen,
ihre Köpfe gross wie Frühmondschatten,
ihre Nippel gross wie die Schatten ihrer Köpfe
und schwarz, damit die Milch noch weisser leuchtet.

 

Auch sie ist rabiat mit ihren vollen Brüsten,
beiläufig, als wischte sie eine Katze vom Stuhl,
damit sich der alte Vater setzen kann.
Sie trinken Bier im Nordlicht, das nur sich selbst beleuchtet.

 

Segelboote schlüpfen aus ihren weissen Sarafanen,
entblössen ihre dürren Hälse und Schultern
und reihen sich auf, am Pier entlang, wie an einer Ballettstange.

 

Es lässt ihr keine Ruhe: was fand er dort?
Sie fasst sich unterm Handtuch an.
Man findet leicht, wo er gegraben hat –
die Stelle ist noch weich.

 

Das Wasser liegt so flach wie Fell, das eine Katze leckte.
Ein Vogel, der sogar von weitem gross erscheint,
glaubt, das Meer wäre sein Ei.
Er sitzt geduldig auf dem Wasser,
fühlt seine leisen Stösse dann und wann.

 

SYLT II

 

Der Wind lässt dein Haar schneller wachsen
und öffnet einen Kindermund – Erdbeer und Sand.
Langsam und sicher
wiegt auf den Waagen des Meeres
der Kopf des Kindes schwerer als die Sonne.

 

Im Innern des Windes –
eine Kirche wie ein Bläschen,
mit Wänden dicker als der Raum von Wand zu Wand,
wo der Wind Licht und Schatten verschiebt
wie zwei gegnerische Schachfiguren oder
Möbelstücke, die nicht zueinander passen.

 

Im Innern der Kirche – diese Stille;
eine Feder, die in einer Staubfaust fällt
wird Fels, wenn sie auf den Boden schlägt.

 

Orgelpfeifen glänzen wie eine kalte Heizung,
ihr Gehäuse ist als Baum geschnitzt, die Zweige
zusammengehalten von einer Schlange.
Orgelpedale, golden, prall: die einzigen Früchte des Baums.

 

Immer geht es um die Modulation des Gewichts.
Der Organist trittdie Pedale unter seinen Füssen wie Trauben.
Mein Körper addiert dein Gewicht zu seinem wie ein
schlechter Kaufmann.

Dein Name, in den Wind gerufen,
bremst den Wind aus.

***

 

 

Morgens um neun, wenn wir zum Grammatikkurs kommen, sind wir schon erschöpft. Vom Moment des Erwachens an spiegelt diese Stadt unsere Gesichter in den Scheiben ihrer Läden, Türen und Busse; es regnet ohne Ende, denn die Stadt will uns mit ihrer gesamten Fläche spiegeln, komplett zu einem Zerrspiegel werden, am liebsten aber will sie uns in den Gesichtern anderer Menschen spiegeln, um uns erkennen zu lassen, dass uns allen ein gewisser Makel, ein Druckfehler, eine kaum sichtbare Unzulänglichkeit eigen ist. Jeder von uns ist nur das Spiegelbild eines Spiegelbilds eines Spiegelbilds des ersten unzulänglichen Wesens: jenes ersten Wesens, das vor diesem Spiegel steht, unfähig zu verstehen, wohin es genau gestellt worden ist, unfähig zu entscheiden, wohin es sich wenden soll, um von diesem Ort der Verwirrung fortzukommen, zu verwirrt, um zu verstehen, wer sich als erstes bewegen muss – das Spiegelbild oder man selbst.

 
***

 
Was ist Liebe, wenn nicht das Bedürfnis nach jemandem, der einen anblickt, nach einem Zeugen, die Möglichkeit, in der Geschichte eines anderen verewigt zu werden? Das Insekt im Bernstein wusste, was es tat. Weder Gehilfe noch Zuschauer. Dein Blut kreist wie das Tonband eines implantierten Rekorders. Du bist mein Plan für die Unsterblichkeit. Das Publikum meines privaten Lebens. Ich mache dich zum Grabstein für all die Wörter und Selbstbilder, die ich nicht auf ewig werde bewahren können. Du, der du jedes Gedicht, das du gelesen hast, auswendig aufsagst – ich passe zu dir. Den silbernen Schuh dieser Bewegungen und Wörter wirst du jeder Frau anprobieren, die deinen Weg kreuzt, denn so funktioniert die Liebe – ein Mann sucht in vielen Frauen die eine, eine Frau sucht in einem Mann nach vielen.

 

***

What is love if not a need for a beholder, a witness; if not the possibility to be immortalized in the story of another person? The insect caught in a drop of amber knew what it was doing. Neither helper nor bystander. Your blood runs like a tape of an implanted recorder. You are my plan for immortality. The audience for my privacy. I’m molding you into a gravestone of all the words and images of myself I won’t be able to sustain forever. You, who recite from memory every poem you ever read – I’m set with you. You will be trying the crystal shoe of those movements and words on the foot of every woman crossing his path, because this is how love works – a man looks for the same woman in many women, and a woman looks for many men in one.

 

 

 

Valzhyna Mort
Kreuzwort
Deutsche Übersetzung von Katharina Narbutovic
und Uljana Wolf
Suhrkamp Berlin 2013
105 S., Taschenbuch
CHF 17.90. Euro 12.00
ISBN 978-3-518-12663-9

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