FRONTPAGE

«Laure Wyss – Plädoyer für den Widerspruch»

Von Ingrid Isermann

 

Sie gehörte zu den Journalistinnen der ersten Stunde, die resolut und leidenschaftlich in den 50er und 60er Jahren für Selbstbestimmung und Gleichberechtigung der Frauen kämpfte.  Laure Wyss (1913-2002) 100. Geburtstag bietet Anlass, auf eine Pionierin der Schweizer Medienwelt aufmerksam zu machen. Barbara Kopp legt eine eloquent geschriebene Biografie vor, die akribisch den Lebenspfaden und Stationen einer alleinerziehenden, berufstätigen Frau nachgeht, in Zeiten, in denen es nicht selbstverständlich war, dass Frauen Führungspositionen besetzten.

 

Am 20. Juni 1913 – dem Sommer vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges, den Florian Illies in seinem gleichnamigen Bestseller beschreibt, – in Biel als Advokatentochter in gutbürgerliche Verhältnisse hineingeboren, zog es Laure Wyss für ein Sprachstudium nach Paris und Berlin, das sie mit einem Diplom als Sekundarlehrerin für Deutsch und Französisch abschloss, und anschliessend nach Zürich, wo sie ein halbes Jahrhundert bis zum 21. August 2002 lebte.

Mit 24 Jahren heiratete Laure Wyss den Architekten Ernst Zietschmann, den Bruder einer Freundin, dem sie 1937 infolge magerer Berufsaussichten in der Schweiz nach Schweden folgte. Sie lernte Schwedisch und übersetzte für den Schweizerischen Evangelischen Pressedienst und den Evangelischen Verlag Widerstandsschriften. 1942 war das Ehepaar gezwungen, mitten im Krieg in die Schweiz zurückzukehren. Davos wurde die nächste Station, wo Laure Wyss weiter für den Widerstand tätig war. 1945 zerbrach ihre Ehe, mit 32 Jahren war sie geschieden und wiederum ein „Fräulein“.

 

Neue Horizonte

Laure Wyss sah sich nach neuen Horizonten um, war in Davos durch Jules Ferdmann, einem russischen Juden, der die Zeitschrift «Davoser Revue» herausgegeben hatte, per Zufall zum Journalismus gekommen und lernte bei ihm das Handwerk als Redaktorin. 1946, nach Kriegsende, machte sie eine erste Pressereise nach Polen, eine Informationsreise nach Warschau für ausgewählte Pressevertreter, die über den Zustand des zerstörten Landes berichten sollten, in dem der Krieg 1939 begonnen hatte.
Laure Wyss vertrat den Schweizerischen Evangelischen Pressedienst, übersetzte und redigierte als Redaktorin Nachrichten zur Lage der evangelischen Kirchen in Europa und den Reformierten in der Schweiz. Nach der Pressereise blieb sie in Polen im Namen des Hilfswerks HEKS, das im Aufbau begriffen war.
Alles, was ihr Leben in den vergangenen Jahren bestimmt hatte, existierte nicht mehr.
Die Bedrohung des Krieges war vergangen, Verbindungen nach Schweden abgebrochen, Beziehungen in Davos zurückgeblieben, sie war auf sich gestellt, lebte allein in Zürich, ohne eine eigene Familie. Die Reise, die sie anschliessend auf eigene Faust unternahm, war vermutlich auch eine persönliche Suche in einem schwierigen Lebensabschnitt, so die Autorin Barbara Kopp.

 

Wie alle ausländischen Berufsreisenden verkehrte sie in Warschau im Hotel Polonia, wo sich Vertreter der Hilfswerke und die Delegierten des Internationalen Roten Kreuzes mit polnischen Regierungsvertretern trafen. In Warschau begegnete Laure Wyss einem Mann, der neben Französisch und Englisch auch Schweizerdeutsch sprach. Es war eine schicksalhafte Begegnung, für die alleinreisende Journalistin war er ein anregender Gesprächspartner mit vielfältigen Kontakten, der über ein Auto mit Chauffeur als Delegierter des Internationalen Roten Kreuzes verfügte. Laure Wyss berichtete im kirchlichen «Mitarbeiter-Bulletin» über ihre Reise und schrieb über Verfolgung und Unterdrückung der Protestanten im katholischen Polen, ihr erster grosser öffentlicher Auftritt in der Presse.

 

Drei Jahre nach Kriegsende gab der Verlag «lew» polnische Lyrik in deutscher Übersetzung heraus, die Gedichte handelten von Warschau; im Nachwort schrieb Wyss, dass die Gedichtsammlung einen ersten Querschnitt durch die neuere, polnische Lyrik darstelle.
Der Übersetzer war der Delegierte des Roten Kreuzes, Emil (Nikolaus) Bösch. Die Verlagsgründung von Laure Wyss und die Herausgabe der übersetzten Gedichte waren ein sichtbares Zeichen heftiger, leidenschaftlicher Gefühle zwischen Herausgeberin und Übersetzer. Laure Wyss erwartete ein Kind. Der Vater ihres Kinder war verheiratet, er war später als Anwalt und Nationalrat (1909-1992) in St. Gallen tätig. Ihre Hoffnung auf ein gemeinsames Leben hatte sich jedoch schon bald zerschlagen und es folgten erbitterte Kämpfe um das Sorgerecht für das Kind.

 

 

Wie war es wirklich?

Wie war es? War es wirklich so? Das schrieb sich Laure Wyss auf die Fahnen, das wollte sie herausfinden, mit Leidenschaft, Neugier und Empathie für die Menschen. Was würde Laure Wyss wünschen, was sie den Menschen, den Frauen heute hinterlassen hat, was sie ihnen bedeutet, wenn die Festreden vorbei sind? Die brillante Biografie gibt Antworten und lässt nachvollziehen, was Laure Wyss in ihrem Leben wichtig war. Selbstredend, dass in der heutigen Medienwelt, mehr denn je von wirtschaftlichen Standpunkten und Gewinnmaximierung geprägt, die Zeit eines anwaltschaftlichen Journalismus, für den Laure Wyss kämpfte und einstand, vorbei zu sein scheint. Umso wichtiger ist es, auf diese Medienpionierin aufmerksam zu machen, die ihre Unabhängigkeit mit einem hohen Preis bezahlte.

 

 

1970 als Mitgründerin des Tages-Anzeiger-Magazins, das sich rasch einen generationenübergreifenden Platz erobert hatte und dem Medienkonzern neue Leserschichten erschloss, obwohl das Projekt von der Direktion zunächst sehr skeptisch beobachtet wurde, war Laure Wyss’ Weg von Anfang an nicht einfach vorgezeichnet.
Mit ihren mutigen und provokativen Fragen an die gesellschaftliche Situation der Frauen machte sie Furore und das Magazin zu einem weitbeachteten Forum, das auch neuen Stimmen und jungen Schreibern wie Niklaus Meienberg oder Peter Bichsel eine Plattform bot. Als Moderatorin eines Magazins für Frauen am Schweizer Fernsehen setzte sie ihre engagierte Aufklärungsarbeit fort.

 


Literarische Erfolge

Nach der Pensionierung beschloss sie, sich fortan literarisch zu betätigen, mit ihrem Buch «Mutters Geburtstag», das 1978 ein Erfolg und jetzt wieder neu aufgelegt wurde, machte sie ihr Leben selbst zum Thema. Für ihr schriftstellerisches Werk (u.a. «Weggehen ehe das Meer zufriert») erhielt sie zahlreiche Auszeichnungen, u.a. das Max-Frisch-Werkjahr, den Grossen Literaturpreis des Kantons Bern und die Goldene Ehrenmedaille des Kantons Zürich.

Der Limmat-Verlag publiziert neben der lesenswerten Biografie von Barbara Kopp auch ein «Lesebuch» von Laure Wyss mit Erzählungen, Fragmenten und Gedichten sowie unveröffentlichten Texten.

 

Gelebte Zeitgeschichte

Zu fast gleicher Zeit ist eine Biografie im NZZ LibroVerlag Zürich (siehe auch Literatur & Kunst, Archiv) über den Historiker und Germanisten Karl Schmid (1907-1974) erschienen, mit dem Laure Wyss mehr als zwanzig Jahre lang in wechselvoller Beziehung stand, der zudem ein Freund aus Gymnasialzeiten von Ernst Zietschmann war. Schmid, langjährig verheiratet mit der Kabarettistin Elsie Attenhofer, konnte oder wollte sich mit der Geliebten Laure Wyss nur treffen, wenn seine Frau abwesend war. In der Biografie von Thomas Sprecher spielt Laure Wyss keine Rolle und wird nicht erwähnt. Dennoch war sie eine wichtige Person für den damaligen Rektor der ETH, Militärstrategen, Publizisten und Schriftsteller. In der Biografie von Barbara Kopp sind Laure Wyss’ Notizen zu ihrem langjährigen Vertrauten zu lesen, wie ambivalent und auch zuweilen belastend sie diese Beziehung empfand. Denn es gab auch eine andere Seite der Laure Wyss, die verletzliche, die sie hinter ihrem burschikosen Auftreten zu verbergen suchte. Ihre Aufzeichnungen, nun erstmals zugänglich, sind ein Stück gelebter Zeitgeschichte. Sie lebte, worüber sie schrieb. Ihre Biografie zeigt ein exemplarisches Frauenleben und zugleich ein reales Stück Schweizer Medien- und Mentalitätsgeschichte seit dem Zweiten Weltkrieg.

 

 

 

Barbara Kopp
Laure Wyss. Leidenschaften einer Unangepassten.
Limmat Verlag Zürich 2013.
352 S., CHF 44.

ISBN 978-3-85791-697-7

 

Barbara Kopp, geboren 1964, studierte in Zürich Germanistik und Geschichte und arbeitete als Journalistin für Printmedien und das Schweizer Fernsehen. Heute ist sie Dozentin u.a. an der Schweizer Journalistenschule MAZ und leitet journalistische Schreibwerkstätten. Im Limmat Verlag veröffentlichte sie die Biografie ‚Die Unbeirrbare. Wie Gertrud Heinzelmann den Papst und die Schweiz das Fürchten lehrte‘.

 

Laure Wyss. Lesebuch.
Hrsg. von Hans Baumann
Und Elisabeth Kaestli.
Limmat Verlag Zürich 2013.
CHF 32.

ISBN 978-3-85791-699-1

www.limmatverlag.ch

 

Auszug:

 

SEELAND UND DAS END DER WELT

 

Plötzlich wölbte sich der Himmel der Kindheit über mir. Ich konnte ihn wahrnehmen in seiner fernen Bläue, er war licht und unbelastend. Er war einfach da.

A. hatte ihn inzwischen vergessen. Sie hatte immer das Gefühl gehabt, sie sei ihm entlaufen, unter ihm weggerannt und sei ihm untreu geworden. Zu viel Ungerades, zu viele Quersprünge habe es gegeben, dachte sie, und so viel Ungereimtes lasse sich nicht anknüpfen an die Tage im Lichte des Sees, an die Wärme eines Kindersommers und die Spiele auf der Laube der Grossmutter.

Jetzt aber war sie für einmal zurückgelehrt, war über die Matte gegangen, an den Haselbüschen vorbei und hatte sich auf die Bank gesetzt am «End der Welt». So hiess das Gasthaus. Es war aber ihr Geheimnis, dass hier wirklich das Ende der Welt war, nämlich alles erreichbare Glück; man musste hier ankommen, um in Vergangenem lesen zu können. Man war geborgen unter den Bäumen am End der Welt. Von hier gings nicht weiter. Nur ein Feldweg führte zurück. Die Holztische waren kräftig gebaut. «Santé», sagte die Serviertochter und stellte die Karaffe mit Rotwein hin. Es war an der Zeit, sich mit dem Mädchen A. auseinanderzusetzen und seinen Fahrten auf dem Velo durchs Juratal. Bitte genau nachdenken, und lass dir nicht zu viel durch die Maschen gehen.

 

 

«Die Beidlers – Im Schatten des Wagner-Clans»

 

Von Verena Naegele und Sibylle Ehrismann

 

Richard Wagner und sein 200. Geburtstag sind 2013 omnipräsent, sein «erster Enkel», der Schweizer Franz Wilhelm Beidler (1901-1981) hingegen ist in Vergessenheit geraten. Eine neue Publikation beleuchtet nun endlich dessen bemerkenswerte Lebensgeschichte und deckt bislang unveröffentlichte Tatsachen über die Familie in Bayreuth auf. Im Mittelpunkt des Buches steht Franz Wilhelm Beidler, der sich als Publizist und langjähriger Sekretär des Schweizerischen Schriftstellerverbandes (1943-1971) einen Namen gemacht hat.

 

Seine Mutter, Isolde von Bülow, war die erste, nicht legitimierte, uneheliche Tochter Richard und Cosima Wagners. 1900 heiratete sie den Schweizer Dirigenten Franz Philipp Beidler, ein Jahr später wurde in Bayreuth Franz Wilhelm geboren. 1914 strengte Isolde einen Vaterschafts-Prozess an, um als rechtmässige Tochter Wagners anerkannt zu werden, verlor diesen aber gegen das mächtige Wagner-Imperium in Bayreuth. Franz Wilhelm Beidler ging 1921 nach Berlin, heiratete die Jüdin Ellen Gottschalk und erlebte als aktiver Sozialist die wechselvollen Zeiten der Weimarer Republik. 1934 musste er emigrieren, fand in Zürich seine zweite Heimat und blieb der Stadt bis zu seinem Tod treu.

Das Buch entwirft ein sozial- und kulturgeschichtliches Zeitbild im Spannungsfeld Schweiz – Deutschland. Die genaueren Hintergründe der Wagner-Affäre und die weiteren Lebensgeschichten des Schweizer Wagner-Zweiges wurden bisher noch nie gründlich erforscht, und so ist die einschlägige Literatur von Spekulationen und Halbwahrheiten geprägt. Erstmals werden nun in diesem Buch aufgrund brisanter Schweizer Quellen und umfangreichen Archiv-Recherchen der Autorinnen neue Erkenntnisse zum Familienzwist veröffentlicht, die Geschichte bis zu Franz Wilhelm Beidlers Tod 1981 weitererzählt und somit ein spannendes Lebensbild geschaffen.

Lesen Sie hier exklusiv das erste Kapitel der aufsehenerregenden Publikation, zu der Nike Wagner das Vorwort verfasste.

 

 

Kampf um den Namen Richard Wagners

Der 1901 in Bayreuth geborene Franz Wilhelm Beidler war eine schillernde Persönlichkeit. Auf der einen Seite war da seine Abstammung von Cosima Liszt und Richard Wagner, deren erster Enkel er als Sohn von Isolde Wagner war. Beidler hat zeitlebens auf diese direkte Verwandtschaft mit Wagner verwiesen, ohne sie juristisch beweisen zu können. Auf der anderen Seite war die radikale Abkehr vom reaktionär/konservativ-völkischen Bayreuther Geist der 1920er Jahre als Jurastudent in Berlin, wo er die revolutionäre Musikpolitik der Weimarer Republik als aktiver Sozialdemokrat miterlebte. Kommt dazu, dass der junge Beidler noch während des Jurastudiums in Berlin eine »Genossin« und Jüdin heiratete, die Nationalökonomin Ellen A. Gottschalk. Mit ihr emigrierte er nach der Machtübernahme durch die Nazis 1933 über Paris in die Schweiz, besaß Beidler doch durch seinen Vater, den aus St. Gallen stammenden Dirigenten Franz Philipp Beidler, das Schweizer Bürgerrecht. In dieser Zeit des politischen Umbruchs publizierte er in Zeitungen und im Radio zahlreiche Artikel und Sendungen zu den Bayreuther Festspielen, zu Cosima Wagner und zu Richard Wagners Werk. Dabei wurde stets explizit erwähnt, dass der Autor der Enkel Richard Wagners sei. Zudem war bekannt, dass Beidler an einer Biographie über seine Großmutter Cosima arbeitete, ein Projekt, das er jedoch zeitlebens nicht vollenden konnte.
Mit diesem publizistischen Rückhalt bewarb sich Franz Wilhelm Beidler nach seiner Emigration in die Schweiz 1936 um eine Mitgliedschaft im Schweizer Schriftstellerverein, welche ihm schließlich auch gewährt wurde. 1943 meldete er sich als Jurist für die freigewordene Stelle als Sekretär beim Schweizer Schriftstellerverein.Trotz der Bedenken, die im damaligen Vorstand wegen Beidlers Bayreuther Herkunft laut wurden, wählte man ihn aus einer ganze Reihe geeigneter Kandidaten.

 

Als Sekretär sollte Beidler die Geschicke des Schriftstellervereins in der schwierigen Kriegs- und Nachkriegszeit und bis weit in die 1960er Jahre im Hintergrund prägen. Dass er sich in dieser Funktion als profilierter Kenner des künstlerischen Urheberrechts einen Namen machte und damit wichtige rechtliche Grundlagen für den Schriftstellerberuf in der Schweiz und in Europa mitgestaltete, kann durchaus auch im Zusammenhang mit seinen familiären Wurzeln in Bayreuth gesehen werden.

Als Jugendlicher bekam er in »Haus Wahnfried«, das Richard Wagner in Bayreuth erbauen ließ und das Cosima mit ihren Angehörigen nach dessen Tod weiterhin bewohnte, die Rechtsstreitigkeiten um die Aufführungsrechte von Wagners letztem Werk, dem bis zum Ablauf der Urheberrechtsfrist 1913 allein Bayreuth vorbehaltenen Bühnenweihfestspiel »Parsifal«, sehr direkt mit.
Den Namen »Wagner« konnte Beidler nicht tragen, da er der Spross der ältesten Wagner-Tochter Isolde und deren Ehemann, des Schweizer Kapellmeisters Franz Philipp Beidler, war. Isolde war 1865 zu einem Zeitpunkt geboren worden, als Cosima noch mit dem Dirigenten Hans von Bülow verheiratet war und Isolde daher dessen Namen trug. Weil Franz Wilhelm, beziehungsweise seiner Mutter Isolde, die rechtmäßige Abstammung von Richard Wagner – und damit die ihm und seiner Mutter eigentlich gebührende Erbbeteiligung in Bayreuth – verweigert wurde, ging Isolde mit einer Vaterschaftsklage vor Gericht. Am 17. April 1914 begann in Bayreuth ein denkwürdiger Prozess, der in der Presse hohe Wellen warf und das Schicksal mehrerer Mitglieder der Familie Richard Wagners nachhaltig bestimmte. Die Familie Wagner war berühmt, nicht nur wegen des illustren Komponisten Richard Wagner und wegen Franz Liszt, den durch seine Tochter Cosima ebenfalls familiäre Beziehungen mit Bayreuth verbanden, sondern auch wegen der Bayreuther Festspiele. Unter der Führung von Cosima Wagner und ihrem einzigen Sohn Siegfried hatten die Festspiele internationales Ansehen gewonnen.

Im Mittelpunkt der gerichtlichen Auseinandersetzung stand die Frage, ob Isolde Beidler, als eine Geborene von Bülow, die Tochter Richard Wagners aus der Liaison mit seiner späteren Frau Cosima sei oder nicht; und damit einhergehend, ob Isoldes Sohn Franz Wilhelm Beidler der Enkel Richard Wagners sei oder nicht. Ein Artikel in den Münchner Neuesten Nachrichten vermittelt aus damaliger Sicht einen guten Einblick in die Faktenlage: »Vor der Zivilkammer des Landgerichts Bayreuth hat in der Klage der Frau Isolde Beidler gegen ihre Mutter, Frau Cosima Wagner, Termin stattgefunden. Es handelt sich um die Frage, ob Isolde Beidler eine Tochter des Kapellmeisters v. Bülow oder eine Tochter Richard Wagners ist. Der Anwalt der Frau Beidler, Justizrat Dr. Dispeker (München) führte vor Gericht aus, Isolde Beidler sei am 10.April 1865 geboren, zu einer Zeit da Frau Cosima Wagner noch mit Bülow vermählt war; die Ehe Bülows ist erst 1870 geschieden worden. Auch Eva Wagner (*1867), jetzt Frau Chamberlain, und Siegfried Wagner (*1869) wurden geboren, solange die Ehe Cosimas mit Bülow noch bestand. Isolde ist ebenso wie Eva und Siegfried im Hause Wagner als Wagners Kind bezeichnet worden; der Vater hat sie auch als sein Kind angedichtet. Briefe ihres Großvaters Franz Liszt [des Vaters von Cosima] bezeichnen sie ebenfalls als Fräulein Isolde Wagner. Im Hause Wahnfried galten Isolde, Eva und Siegfried in gleicher Weise als Wagners Kinder. Als Wagner im Jahre 1883 starb, ist die amtliche Todesanzeige in Bayreuth von Oberbürgermeister Muncker gezeichnet worden; es werden in dieser Todesanzeige genannt die Witwe Cosima mit ihren drei Kindern aus Wagners Ehe: Isolde, Eva und Siegfried.«
So weit die verworreneAusgangslage der Familienverhältnisse Wagners und seiner Nachkommen. Dann führt der Artikel in den Münchner Neuesten Nachrichten zum Prozess weiter aus: »Die Klägerin habe niemals geglaubt, dass die Frage, ob sie eine Tochter Wagners sei oder nicht, jemals angestritten werde. Als Zerwürfnisse zwischen Siegfried Wagner und [Isoldes Mann] Kapellmeister Beidler entstanden, begann eine Entfremdung zwischen Isolde und ihrer Mutter Cosima Wagner. In den letzten Jahren wurde Frau Isolde jeder Besuch verweigert. Am 30. Juni 1913 kam ein Brief von Justizrat Troll an Beidler mit der Adresse: ›An Frau Isolde Beidler, geborene v. Bülow‹. Dieser Brief sei im Auftrage von Siegfried Wagner geschrieben. Damit sei eine Frage angeschnitten worden, die im Interesse der Frau Cosima Wagner besser nicht aufgeführt worden wäre. Die Klägerin hat sich an ihre Mutter gewandt, um durch diese die strittige Frage entscheiden zu lassen, erhielt jedoch nur eine diktierte Antwort, lediglich von Frau Cosima Wagner unterschrieben, in der mitgeteilt wurde, Frau Beidler habe eine Lage geschaffen, welche die gerichtliche Entscheidung fordere.« Damit war die delikate Situation entstanden, dass die Tochter Isolde die Mutter Cosima verklagen musste, um die Identität ihres Vaters juristisch zu klären. Der Artikel endet mit einem entscheidenden Zusatz: »Justizrat Dispeker begründete die Klage und bot Beweis dafür, dass Isolde nicht die Tochter Bülows, sondern Wagners sei. … Er fügte hinzu, wenn Isolde Wagner nicht als Tochter Wagners anerkannt werden sollte, so könne auch Siegfried Wagner nicht als legitimiert gelten, da er ebenfalls außerehelich geboren ist und die Ehe Richard Wagners mit Frau Cosima geschlossen wurde, noch bevor die Scheidung von Bülow Rechtskraft erhalten hatte. … Justizrat Dr. Dispeker bejahte die Zulässigkeit der Klage Isolde Beidlers, die auch ideelle Beweggründe habe, mehr als ihr Bruder, ihre Abstammung festgestellt zu wissen, da es sich um die Rechte ihres Sohnes [Franz Wilhelm] und eventuell um die Annahme ihres Mädchennamens handle.«
Es war eine beispiellose Klage, eigentlich eine rein juristische Angelegenheit, um Name und Erbfolge gerichtlich festzulegen. Isolde, die erstgeborene Tochter Richard Wagners, wollte ihre Abstammung rechtlich geklärt wissen, um den gleichen Namen tragen zu können wie ihr berühmter Bruder und Leiter der Bayreuther Festspiele, Siegfried Wagner. Allein die Klage führte Isolde nicht nur für sich selbst; es ging ihr auch um ihren damals 13-jährigen Sohn Franz Wilhelm Beidler und um dessen rechtliche Anerkennung als erster Enkel Richard Wagners. In einer Zeit, als DNA-Analysen zur Feststellung von Vaterschaften noch nicht existierten, mussten Paragraphen und deren Auslegung über eine solchermaßen brisant erscheinende Vaterschaft entscheiden, zumal der mutmaßliche Kindsvater längst tot war. In diesem Fall ein delikates Unterfangen, gab es doch drei bisher als Wagners Kinder bezeichnete Nachkommen, Isolde, Eva und Siegfried, die jedoch alle drei während der Ehe von Cosima mit Hans von Bülow geboren waren. Sohn Siegfried aber trug trotzdem seit Geburt den Namen »Wagner« und war seit 1906 Leiter der von seinem Vater initiierten Bayreuther Festspiele. Daher auch der Zusatz in der Anklageschrift, wonach bei Abwendung der Klage auch Siegfried nicht als legitimiert gelten dürfe und seinen Namen »Wagner« und seine »Erbfolgeprivilegien« aufgeben müsste.
Es hing ein mehrfaches Damoklesschwert über der Familie Wagner, die mit diesem Prozess elementar in der Öffentlichkeit ausgestellt war. Sollte Isolde juristisch als Kind Wagners anerkannt werden, dann wäre deren Sohn Franz Wilhelm Beidler legitimer erster und einziger Enkel Richard Wagners und damit potentieller späterer Leiter der Bayreuther Festspiele. Sollte Isolde Beidler juristisch jedoch nicht als Kind Wagners anerkannt werden, dann drohte Wagners Sohn Siegfried laut Anklageschrift die Aberkennung seines Namens und seines Status. Die Bayreuther Festspiele würden den Wagner’schen Thronerben verlieren – ein Imageschaden und Skandal ungeheuren Ausmaßes. Aber nicht nur das, für Franz Wilhelm Beidler, den Sohn Isolde Beidlers aus der Ehe mit dem Schweizer Kapellmeister Franz Philipp, ging es um seine Wurzeln: War er nun ein legitimer Enkel Richard Wagners oder nicht?
Kaum verwunderlich also, dass mit der Vaterschaftsklage Isoldes eine öffentliche Schlammschlacht großen Stils losgetreten wurde; dies umso mehr, als der Antrag der Partei von Cosima Wagner und Sohn Siegfried auf Ausschluss der Öffentlichkeit abgelehnt worden war. Innerhalb der rund drei Monate dauernden gerichtlichen Auseinandersetzung wurden in den europäischen Zeitungen mehr als 700 Artikel zum Thema publiziert, was das Ausmaß der Diskussion erahnen lässt. Schließlich drehte sich der Prozess um die Frage, ob Cosima Wagner zur Zeit ihrer Ehe mit Hans von Bülow eine außereheliche Beziehung zu Richard Wagner unterhalten und damit gleichzeitig mit zwei Männern intimen Umgang gepflegt hatte.

»Die Vorgeschichte der Wagner’schen Ehe, zwischen 1864 und 1870, wird damit in Bayreuth verhandelt«, brachte die Badische Presse den Sachverhalt auf den Punkt. Eine Freude für Boulevardgelüste, ein »peinlicher Prozess« für die seriöse Presse und eine große Belastung für die Betroffenen; darunter auch für den pubertierenden Franz Wilhelm Beidler, für den es um nicht weniger als um seine Zukunft ging. »Ein Kampf um Richard Wagners Namen« titelte denn auch vielsagend die Frankfurter Rundschau.
Die historischen Hintergründe und gegenseitigen Beschuldigungen der Parteien »Wagner« und »Beidler« schaukelten sich mit zunehmender Prozessdauer hoch und wurden genüsslich in der Öffentlichkeit diskutiert. So berichteten die Zeitungen nach der zweiten gerichtlichen Anhörung nicht ohne Ironie, dass Beweis erbracht werden müsse, ob während der Empfängniszeit Isoldes, zwischen dem 12. Juni und dem 12. Oktober 1864, »die Beklagte [Cosima Wagner] und Hans von Bülow in häuslicher Gemeinschaft gelebt haben« und ob »innerhalb dieser Zeit zwischen der Beklagten und Hans von Bülow keine eheliche Beiwohnung erfolgt ist«. Cosima Wagner ließ verlauten, dass sie bei einer entsprechenden Anhörung vor Gericht die Aussage verweigern würde. Nicht verwunderlich, dass dies für viele Zeitungen »Ein stinkender Prozess «um die» Ausbreitung der Bettlaken Richard Wagners«war, zudem man nur sagen könne: »Pfui Teufel!«
Auch der junge Franz Wilhelm wurde in die hitzige Debatte einbezogen, weil Isolde wollte, »dass festgestellt werde, dass ihr jetzt 13 Jahre alter Sohn ein direkter Abkömmling Richard Wagners sei«, wie es in einigen Artikeln hieß. Die Berliner Börsenzeitung akzentuierte den Sachverhalt noch mit der Anekdote, dass der Wagner-Biograph Carl Friedrich Glasenapp 1904 an Isolde geschrieben habe: »Vor mir steht auf dem Tisch ›Euer Bubi‹, ein freudiger, leibhafter Bürge der Zukunft, der einzige bis jetzt, so lange sich für Siegfried die Rechte [Frau] noch nicht gefunden hat.« Mit »Bubi« war Franz Wilhelm gemeint, der zum Rivalen und gleichzeitig Nachfolger Siegfried Wagners als Festspielleiter aufgebaut und stilisiert wurde. Der Schweizer Enkel Wagners wurde im üblen Skandalprozess 1914 zum Zünglein an der Waage gemacht und die Nachfolgeregelung der Bayreuther Festspiele als »Erbfolgekrieg« aufgebauscht. Immer wieder wird in Presseartikeln die Wahnfried-Familie Wagner auch an ihren moralischen Anspruch erinnert, den sie mit dem Bühnenweihfestspiel »Parsifal« in Bayreuth verkündeten und den sie nun mit dem öffentlich geführten schmutzigen Prozess mit Füßen traten. Auf der einen Seite zelebrieren die Festspiele den »Parsifal«, in dem der Titelheld der körperlichen »Sünde« entsagt, um die Welt zu erlösen.Auf der anderen Seite werden die sexuellen Eskapaden der Prinzipalin von Bayreuth öffentlich ausgebreitet und verhandelt, so der Tenor in der Presse.
Im Lauf des Prozesses tauchten die wildesten Gerüchte auch zu finanziellen Aspekten auf: Von einer Rente Wagners für jedes der Kinder in Höhe von 30’000 Mark war da die Rede, von exorbitanten Geldforderungen Isoldes, die finanziell in Schwierigkeiten stecken würde. Ende Mai 1914 spitzte sich die Affäre zu, als der nach dem Tod Wagners gefällte Beschluss des Amtsgerichtes Bayreuth vom 17. März 1883 publik gemacht wurde. Dieser hielt fest, dass einzig Siegfried als Sohn Richard Wagners und Cosimas zu gelten habe und dass sich damit »einzig Cosima und Siegfried den Nachlass Wagners zu gleichen Teilen zu teilen hätten«. Der Nachlass Wagners bestand unter anderem aus dem Wohnhaus »Wahnfried«, dem Festspielhaus, sämtlichen Autographen und beweglichen Gütern sowie dem Vermögen. Veröffentlicht wurde der Gerichtsbeschluss von 1883 im Auftrag der Wagner-Familie in der München-Bayreuther Abendpost mit einer fast flehentlichen Ergänzung: »Demnach, so erklärt Frau Cosima Wagner, ist der ganze jetzige Streit um das Erbe Richard Wagners umsonst.« Es sollte damit die »Ehrenrettung der Frau Cosima Wagner und ihres Sohnes Siegfried bewerkstelligt werden«, wie die Frankfurter Zeitung argumentierte. Doch so einfach war die Sachlage nicht, wie wir noch zeigen werden.
Fast täglich berichtete die Presse über den Sensationsprozess und verlustierte sich mit bissigen Karikaturen zum Thema. Da war etwa das »Bayreuther Blumenorakel«, eine Karikatur im ULK, die Cosima Wagner zeigt, wie sie nach dem bewährten »Blümchenzählen« Blütenblätter zupft und dazu abwechselnd die Namen »Wagner? – Bülow? – Wagner?« etc. murmelt. Oder der bösartige Artikel »Unter der Guillotine« in der Deutschen Monats-Zeitung, die verkündete: »Siegfried hat’s kontraktlich, dass er der einzig halbwegs Legitime des toten Richard ist.«

Am 1. Juni druckte die satirische Wochenzeitschrift Simplicissimus die ganzseitige Karikatur »Der Streit im Hause Wagner« ab, die Isolde in der Pose einer Walküre mit Schwert zeigt. Darunter prangte die Bildunterschrift: »Wagner darf ich nicht heißen / Bülow möcht ich nicht sein / doch Beidler muss ich mich nennen!« Immer heftiger wurden die Angriffe, auch von Haus Wahnfried an die Adresse Isolde Beidlers und deren Schweizer Ehemann, Franz Philipp Beidler: »Zu den Zerwürfnissen im Hause Wagner« teilte Siegfried Wagner dem Mitarbeiter eines Augsburger Blattes mit: »Mein Schwager, Franz Philipp Beidler, der Gatte Isoldens, hat 1906 während der Festspielzeit unsere Sache im Stiche gelassen …: Als während der Festspielzeit Dr. Muck plötzlich am Tage einer angesetzten ›Parsifal‹-Vorstellung erkrankte, lehnte Beidler trotz inständigen Bittens ab, diese Aufführung zu dirigieren. Wäre nicht Kapellmeister Balling hochherzig eingesprungen, dann hätte die Aufführung abgesetzt werden müssen. Von diesem Tage rührt das Zerwürfnis, rührt aber auch die Erkrankung meiner Mutter her. … Bayreuth und Isoldens Gatte! … Es fehlte das seelische Band, das innere Einssein.«
Damit griff nun Siegfried den Vater von Franz Wilhelm Beidler frontal an. Nach Siegfrieds Lesart war »das innere Einssein« mit der »Bayreuther Sache« bei den Beidlers nicht gegeben. Siegfried, unverheiratet, 45 Jahre alt und kinderlos, bangte offensichtlich um das Wagner-Erbe. Zwar hatte sein Angriff auf Beidler nichts mit dem Vaterschaftsprozess zu tun, sollte aber signalisieren, dass weder der Schweizer Kapellmeister noch dessen Sohn und Wagner-Enkel Franz Wilhelm Bayreuth-tauglich waren.

 

Um diesen Sachverhalt zu unterstreichen und letztlich um zu verhindern, dass Siegfried Wagners Nachfolger allenfalls »Beidler« heißen könnte, kündigte er fast gleichzeitig an, eine Stiftung errichten zu wollen: »Alles, was in Bayreuth Richard Wagners Erbe ist, also Festspielhaus mit den dazugehörigen Grundstücken, alle Gegenstände, die zu Festspielhaus und Wirtschaftsbetrieb gehören, das Haus Wahnfried mit allen seinen handschriftlichen Schätzen, allen seinen Andenken und Erinnerungen Wagners, und der sehr beträchtliche Festspielfonds [sic!], dies alles ist von meiner Mutter und mir dem deutschen Volk als ewige Stiftung bestimmt. … Das Bayreuth Richard Wagners, so haben wir beschlossen, gehört nicht uns, es gehört dem deutschen Volk.«

Dass diese Idee nicht nur gegen die Schwester Isolde gerichtet war, sondern – vor allen Dingen – gegen deren Schweizer Ehemann und deren Kind, um »Bayreuth« vor diesen zu retten, scheint klar. Franz Wilhelm Beidler hat in späteren Jahren seine Meinung zu Siegfrieds Manöver dezidiert geäußert: »Diese Stiftung war nichts anderes als ein ganz faules Ablenkungsmanöver, als im Beidler-Prozess die gesamte Presse mit verschwindenden Ausnahmen außerordentlich scharf mit Wahnfried ins Gericht ging.« Es sei ein Musterbeispiel »der alle Begriffe übersteigendenVerlogenheit der Bayreuther«, denn man habe diese Stiftung »nie ernstlich geplant«. Seine Aussage beweist Beidler mit Cosimas Testament vom 13.August 1913, in dem tatsächlich »nicht nur nicht von einer ›Stiftung‹ die Rede« ist, »sondern alles … rein privatrechtlich auf den einzigen Erben Siegfried übertragen« wird.
Mit der Urteilsverkündung fand der ganze Spuk am 18. Juni 1914 seinen Abschluss. Auch hiervon waren die Zeitungen voll, allerdings durchwegs mit derselben kleinen Notiz: »Aus Bayreuth wird gemeldet: In der Klagesache der Frau Hofkapellmeister Isolde Beidler gegen ihre Mutter Frau Cosima Wagner wegen Feststellung der Vaterschaft Richard Wagners verkündete die Zivilkammer des Landgerichts Bayreuth folgendes Endurteil: Die Klage wird abgewiesen, die Klägerin hat die Kosten des Rechtsstreites zu tragen. Die Urteilsbegründung wurde nicht verlesen.« Das Gericht bezog sich in seinem Urteil auf rein formale Aspekte nach dem Grundsatz »pater est, quem nuptiae demonstrant«, da Isolde Beidler in der Ehe von Cosima Wagner mit Hans von Bülow geboren sei, habe sie auch als Kind Bülows zu gelten. Da jedoch Siegfried Wagners Abstammung nicht Gegenstand der Verhandlung war, blieb die genetische Wahrheit über ihn ungeklärt. Ein »Pyrrhussiegfried«, wie «Die  Nationalzeitung», Berlin unter dem gleichnamigen Titel festhielt, denn Siegfried Wagner habe den Prozess moralisch verloren,»die Theorie, die sich in dem gestrigen Urteil versinnbildlicht, ist grauer als grau«.
Die meisten Zeitungen votierten gegen Wahnfried, und auch die Presseangriffe gingen weiter. So machte der Artikel »Der Erbfolgestreit im Hause Wagner ist nun auch schon auf die Bühne gelangt« die Runde: »Im Frankfurter Opernhaus gibt man jetzt, frei nach Reinhardt, Offenbachs ›Schöne Helena‹. Kalchas gibt Menelaus Rätsel auf. Kalchas fragt: ›Was ist das? Es ist nicht meine Schwester … und nicht mein Bruder … und doch das einzige Kind meiner Eltern?‹ Keines der Rätsel macht Menelaos so wenig Kopfzerbrechen wie dieses. Denn ohne Besinnen antwortet er sofort: ›Siegfried Wagner.‹«

Einer der wenigen Fürsprecher war Christian von Ehrenfels, dessen Kommentar in der Zeitung Bohemia die Argumente der Bayreuther Familie Wagner spiegelte: »Hätten Siegfried Wagner und seine Mutter die ungesetzlichen Ansprüche der Frau Isolde Beidler auf das Miteigentum im Hause Wahnfried, im Festspielhause und am Festspielfonds, bloß um den Peinlichkeiten eines Prozesses zu entgehen, anerkannt, so hätten sie damit nicht nur die Realisierung des Stiftungsprojekts ernstlich gefährdet, sondern auch die gesamte Institution der Bayreuther Festspiele der Bedrohung durch die persönlichen Aspirationen des Kapellmeisters Franz Beidler ausgefolgt.«

Der Simplicissimus brachte das Urteil mit einer Karikatur auf den Punkt: »Nach dem Vorbild berühmter Männer, die zur Erholung Bäume fällen, zersägt Siegfried den Stammbaum des Hauses Wagner.« Isolde Beidler war für immer ihrer Herkunft und des Namens »Wagner« beraubt, und dies galt auch für ihren Sohn, den Schweizer Franz Wilhelm Beidler.
Es war letztlich der von Isolde 1914 angestrengte Prozess, der die Wagner’sche Erbfolge in Bayreuth rechtlich bindend festlegte und bis heute bestimmt. Erst in diesem Prozess wurde endgültig und offensichtlich, dass die Bayreuther Festspiele nur von einem rechtmäßigen Erben Richard Wagners würdig geleitet werden können. Für den 13-jährigen Franz Wilhelm Beidler, dem genetischen ersten Enkel Richard Wagners, bedeutete dieses Urteil ein nachhaltiges, sein Leben direkt und indirekt bestimmendes Erlebnis und Resultat. Wiewohl am 16. Oktober 1901 in Bayreuth geboren und dort im Bewusstsein aufgewachsen, ein »Wagner-Enkel« zu sein, waren die Türen in Wahnfried zugeschlagen, durfte er seine Abstammung offiziell nie leben und sich nie aktiv an den Geschicken der Wagner-Hochburg Bayreuth beteiligen. Ein Wagner sein, aber in einer anderen Weise leben, als es in Wahnfried geschah, das war seine einzige Möglichkeit. Denn diese andere Lebens- und Denkweise durchsetzen und öffentlich machen, Bayreuth und die Festspiele zu dem machen, wie er es für richtig hielt, das durfte und konnte er nie. Stattdessen wirkte er, der sprachgewandte Weltenkenner, viele Jahre lang in Zürich und lenkte als Jurist, Sozialist und Kulturmensch mit konsequenter Gesinnungshaltung die nach dem Krieg besonders wechselvollen Geschicke des Schweizer Schriftstellervereins. Die Bayreuther Festspiele besuchte er trotz Einladung seitens der Wahnfried-Familie nie mehr.
Das vernichtende Gerichtsurteil von 1914 kostete Mutter Isolde ihre Lebenskraft; zu sehr war sie in ihrem Selbstverständnis als Wagner-Kind getroffen, zu sehr hatte sie ihre Mitte verloren. Von ihrer Familie wurde sie fortan so gut wie totgeschwiegen, als ob sie nie existiert hätte. Fünf Jahre nach dem Urteil starb sie 1919 erbärmlich und qualvoll in München an einer Lungentuberkulose, die ihr schon im Vorfeld und während des Prozesses schwer zu schaffen gemacht hatte. Cosima Wagner wurde der Tod ihrer Tochter von der übrigen Wahnfried-Familie zehn Jahre lang verschwiegen, und wenn sie nach Isolde fragte, beruhigte man sie mit den Worten, diese weile noch in Davos im Sanatorium »Zauberberg«. Franz Wilhelm Beidler seinerseits war zum Zeitpunkt des Todes seiner Mutter noch nicht volljährig und musste seinen Weg selber finden.
Wie konnte es zu dieser Katastrophe kommen, zu diesem Bruch in der Familie Wagner, obwohl doch innerfamiliär unbestritten war und bis heute ist, dass Isolde eine Tochter Wagners war? Wie haben sich die Geschicke der Wahnfried-Familie weiterentwickelt und wie das Leben von Franz Wilhelm Beidler? Welches sind die Anknüpfungspunkte, wo entstanden Divergenzen und Reibungen zwischen ihnen? Der Prozess war und ist Dreh- und Angelpunkt für das Leben und Wirken Franz Wilhelm Beidlers und für die Geschichte der Bayreuther Festspiele, er ist aber auch das Ergebnis einer verworrenen juristischen und familiären Lage, die bis auf Richard Wagner zurückgeht. Im Prozess kamen Fragen zur Sprache wie die genetische Abstammung Isoldes und der rechtliche Status Siegfrieds, der wie seine Schwestern vor der Scheidung Cosimas und Hans von Bülows geboren wurde, aber trotzdem den Namen »Wagner« trug. Letztlich ging es auch um die Art der Weiterführung der Bayreuther Festspiele und damit um die Wagner-Rezeption, die mit dem Prozessurteil von 1914 für Jahrzehnte verändert wurde.
Der »Fall Beidler«, der 1914 eskalierte, war auch elementar schuld daran, wie sich das Bild von Richard und Cosima Wagner in der Öffentlichkeit in den Folgejahren aus der Realität wegentwickelte und verklärt wurde. Dies gilt für Wagners Haltung gegenüber seinen Kindern Isolde, Eva und Siegfried, es gilt für das Bild der Luzerner Jahre Wagners in Tribschen, dem Geburtsort von Eva und Siegfried und dem Ort der Eheschließung von Cosima und Richard. Tribschen wird bis heute gemeinhin als Ort der Seligkeit und Idylle wahrgenommen, was so nicht stimmt. Es setzt sich fort mit dem Aufbau der Festspiele in Bayreuth, wie sie Cosima nach allgemeiner Lesart im Sinn Wagners als Hort von dessen Werken weitergeführt habe. Diesem Bild einer auf Wagner zurückgehenden »Erbmonarchie Bayreuth« fiel letztlich auch der Vater von Franz Wilhelm, der Schweizer Musiker und Dirigent Franz Philipp Beidler, zum Opfer. Er wird bis heute in der Literatur als faul, minderbegabt, dem Bayreuther Geist nicht gewachsen und einzig das Bayreuther Erbe anstrebender »Hochstapler« dargestellt – eine Einschätzung, die dessen Talent und Fähigkeiten nicht gerecht wird. Der Prozess von 1914 würgte aber auch jegliche Diskussion um Inhalt und Programm der Bayreuther Festspiele ab, die in Cosimas sanktionierter Form als Wagner-bewahrende Festspiele verankert blieben und einzig im Sinne eines monarchischen Prinzips an den legitimen Wagner-Erben Siegfried und dessen Nachfahren übergeben werden durften. Es war damit auch der Ausgangspunkt für die verheerende Entwicklung der Festspiele nach dem Ersten Weltkrieg hin zu den Wagner-Hitler-Festspielen im aufdämmernden Nationalsozialismus.

Leidtragender dieser Entwicklung war nicht zuletzt Wagners erster Enkel Franz Wilhelm Beidler. Seine an der revolutionären Seite Wagners geschärfte Sicht zu den Bayreuther Festspielen und ihrer Weiterentwicklung wurde von den Wagner-Experten stets marginalisiert und die bedenkenswerte Stiftungsidee für die Bayreuther Festspiele nach dem Zweiten Weltkrieg, die er auf dem Vorschlag Siegfrieds und Cosimas von 1914 aufbaute, verworfen. Bestandteil der Entwicklung nach dem Prozess von 1914 war auch das verklärte Bild Cosimas als »Gralshüterin und Herrin« Bayreuths. Beidler, der sich zur Aufgabe gemacht hatte, dieses Bild in einer umfassenden Biographie seiner Großmutter zu berichtigen, scheiterte letztlich auch daran, dass ihm die Einsicht und der Gebrauch von Quellen wie den Tagebüchern Cosimas, dem Braunen Buch – einem Tagebuch Richards – und der Richard-Briefe verwehrt wurde. So hatten die hagiographisch verfälschenden ersten Cosima-Biographien von Richard Du Moulin Eckhardt und Max Millenkovich-Morold jahrzehntelang unwidersprochen Bestand und dienten als Grundlage der öffentlichen Meinung.
Es gilt im Folgenden nachzuzeichnen, wie es zu dieser Sicht kommen konnte, worauf diese aufbaute und welch wichtige Rolle Richard Wagner dabei spielte. Die Geburt und Herkunft Isoldes, die im Prozess 1914 von einer so elementaren Bedeutung war, wird daher ebenso beleuchtet wie diejenige ihrer beider Geschwister Eva und Siegfried, die mit Isoldes Entwicklung zusammenhingen und damit gleichzeitig die Sicht auf das Denken Richard Wagners schärfen. Das Wirken und die Verdienste von Isoldes Ehemann Franz Philipp Beidler werden zum ersten Mal in der Literatur überhaupt nachgezeichnet, womit seine Rolle im Streit um die Festspiele eine neue Beurteilung erhält. Damit wird das Leben und Wirken von Richard Wagners erstem Enkel Franz Wilhelm Beidler in das ihn stark prägende Umfeld integriert und sein »Scheitern« an der »Causa Wagner« in seiner ganzen Bandbreite beleuchtet. Das typische Schicksal einer im patriarchalen 19. Jahrhundert rechtlosen Frau, Isolde, setzte sich fort im Lebensplan eines Mannes, ihres Sohnes Franz Wilhelm Beidler. Dessen Sozialisation kann nur im Kontext von Isoldes Schicksal wahrgenommen werden, ihr Lebensglück wurde für die Vision Richard Wagners und dessen einzigem männlichen Nachkommen, Siegfried, geopfert. Franz Wilhelm Beidler blieb einerseits dieser Konstellation verbunden, fand andererseits aber in bewundernswerter Weise seinen eigenen, an der Familie Wagner geschärften und von dieser abgegrenzten Weg, den er mit Konsequenz und Akribie bis an sein Lebensende 1981 beschritt.

 

(Auszug 1. Kapitel mit freundlicher Genehmigung des Verlages)

 

Die Ausstellung zum Buch:
Aufrecht und konsequent – Richard Wagners Schweizer Enkel und Bayreuth
Ein Lebensbild von Franz Wilhelm Beidler

 

16. April – 7. September 2013

Stadtarchiv Zürich, Neumarkt 4
Mo– Fr, 8 bis 18 Uhr, Sa 10 bis 16 Uhr
Eintritt frei

Kuratorinnen/Autorinnen: Verena Naegele, Sibylle Ehrismann

 

Die Ausstellung wird zudem während den Festspielen 2014 in Bayreuth zu sehen sein.

 

 

Verena Naegele
Sibylle Ehrismann
Die Beidlers –
Im Schatten des Wagner-Clans
rüffer & rub Sachbuchverlag Zürich 2013
Hardcover, 352 S., div. Abb.
CHF 38. € 30.80.
ISBN 978-3-907625-66-8.

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