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«Literatur-Nobelpreis für Swetlana Alexijewitsch»

Von Ingrid Isermann

 

Die weissrussische Schriftstellerin Swetlana Alexijewitsch empfindet ihren Literatur-Nobelpreis als Verpflichtung zum weiteren Einsatz für Demokratie und Menschenrechte: «Ich habe das Gefühl, eine Verantwortung zu tragen, enttäuscht oder erschöpft sein geht nicht mehr».

Alexijewitsch nennt es ihr Anliegen, Romane aus den wahren Geschichten von Menschen zu schreiben. «Es ist der Versuch, die Zeit zu erfassen, sie festzuhalten, etwas aus dem Chaos herauszuholen, in dem wir leben». Sie mache mit ihren Interviews aber keine journalistische Arbeit: «Ich sammle das Material wie ein Journalist, aber ich arbeite damit als Literatin». Im Oktober 2013 wurde ihr der Friedenspreis des Deutschen Buchhandels verliehen.

 

Alexijewitsch berichtete, sie dürfe ihre Bücher nach wie vor nicht in ihrem Heimatland veröffentlichen. Sie erschienen aber in Russland. «Eine Zeitlang gab es sie nur unter dem Ladentisch, aber jetzt kann man sie oft auch so bekommen. Und die Menschen lesen sie auch».
Die Autorin, 1948 als Tochter einer Ukrainerin und eines Weissrussen im westukrainischen Iwano-Frankiwsk geboren, zog später mit den Eltern nach Weissrussland, wo diese als Dorflehrer arbeiteten. In Minsk studierte sie Journalistik an der Universität Minsk und war als Zeitschriftenredaktorin tätig. Wegen der schwierigen Bedingungen in ihrer Heimat lebte sie zehn Jahre lang im Ausland, unter anderem in Deutschland. Das habe ihren Blick geweitet, sagte sie. «Aber ich habe auch begriffen, dass man Demokratie nicht einfach einführen kann wie Schweizer Schokolade». Der Prozess brauche gerade in einem lange diktatorisch regierten Land sehr viel Zeit. Alexijewitsch hat einen weissrussischen Pass und schreibt ihre Werke auf Russisch.
Die 67-Jährige erzählte, Weissrusslands umstrittener Präsident Alexander Lukaschenko habe ihr einige Stunden nach der Verkündung des Nobelpreises in Stockholm persönlich gratuliert: «Das war ein bisschen komisch». Der russische Präsident Wladimir Putin und Regierungschef Dimitri Medwedew hätten sich dagegen nicht gemeldet. «Ich hatte gesagt, dass sie die Ukraine besetzt haben, dass es eine Okkupation war, und da war die Liebe von Putin und Medwedew natürlich hin», erklärte Alexijewitsch.

 

 

Swetlana Alexijewitsch widmete sich in ihren Büchern vorwiegend heiklen und tabuisierten Themen wie dem Afghanistan-Krieg, interviewte und befragte ehemalige Afghanistan-Kämpfer und Mütter gefallener Soldaten. In ihrem Buch «Die Zinkjungen» (1989, dt. 1992) entlarvte sie den angeblich heroischen Feldzug, sodass 1992 ein Prozess gegen die engagierte Autorin angestrengt wurde, dem sie nur aufgrund ausländischer Intervention entgehen konnte. Zu einem ihrer wichtigsten Bücher gehört auch «Tschernobyl. Eine Chronik der Zukunft» (1997) über die Atomreaktorkatastrophe 1986, wo ein Viertel des weissrussischen Staatsgebietes verstrahlt wurde wie auch die letzte Publikation «Der Krieg hat kein weibliches Gesicht», Suhrkamp 2015.

 

 

Für ihr umfangreichstes Buch «Secondhand-Zeit. Leben auf den Trümmern des Sozialismus» (2013) reiste Alexijewitsch über ein Jahrzehnt durch das Gebiet der ehemaligen Sowjetunion und führte ausführliche Gespräche mit Frontveteranen und Dissidentenkindern, früheren ranghohen Militärs und jungen Werbemanagerinnen, mit Altkommunisten, Rentnern, armenischen Flüchtlingen und tadschikischen Gastarbeitern. Quer durch die Generationen hindurch dominieren Angst, Gewalt und Traumata. Der Homo sovieticus mit seiner Sehnsucht nach imperialer Grösse habe nie zu existieren aufgehört, heisst in ihrem letzten epochalen Werk «Secondhand-Zeit». Putin erweist sich in solcher Lesart lediglich als Vollstrecker des Volkswillens. Von Zukunftshoffnung ist kaum die Rede, ideologische Repression und die Verteilungskämpfe der jüngeren Zeit dominieren die oft tragischen Familiengeschichten der russischen Gesellschaft. Alexijewitschs respektvolle Empathie und ihr sensibles Gespür, zuhören zu können, haben diesen Menschen nun in ihren Werken, die  eine ganze Epoche der jüngeren russischen Geschichte einfängt, eine kraftvolle Stimme der Humanität gegeben, um gehört zu werden. Ein Weckruf, den wir nicht überhören sollten.
Swetlana Alexijewitsch, 1948 in der Ukraine geboren und in Weissrussland aufgewachsen, lebt heute in Minsk. Ihre Werke, in ihrer Heimat verboten, wurden in mehr als 30 Sprachen übersetzt. Sie wurde vielfach ausgezeichnet, 1998 mit dem Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung und 2013 mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. 2015 erhielt sie den Nobelpreis für Literatur.

 

 

Swetlana Alexijewitsch

Secondhand-Zeit.

Leben auf den Trümmern des Sozialismus

Aus dem Russischen von Ganna-Maria Braungardt

Suhrkamp 2015, Broschur, TB 4572

569 S., CHF 17.90. € 11.99 (D). € 12.40 (A).

ISBN: 978-3-518-46572-1

 

 

Gut zwanzig Jahre sind vergangen seit dem Zusammenbruch des Sowjetimperiums, die Russen entdeckten die Welt, und die Welt entdeckte die Russen. Inzwischen aber gilt Stalin wieder als grosser Staatsmann, die sozialistische Vergangenheit wird immer öfter, vor allem von jungen Menschen, nostalgisch verklärt.
Russland, so Swetlana Alexijewitsch, lebt in einer Zeit des »Second-hand«, der gebrauchten Ideen und Worte. Die Reporterin befragt Menschen, die sich von der Geschichte überrollt, gedemütigt, betrogen fühlen. Sie spricht mit Frauen, die in der Roten Armee gekämpft haben, mit Soldaten, Gulag-Häftlingen, Stalinisten. «Historiker sehen nur die Fakten, die Gefühle bleiben draussen …, ich aber sehe die Welt mit den Augen der Menschenforscherin».
Wer das Russland von heute verstehen will, muss dieses Buch lesen. Swetlana Alexijewitsch formt aus den erschütternden Erfahrungen von Menschen, die zwischen Neuanfang und Nostalgie schwanken, den Lebensroman einer noch nicht vergangenen Epoche.

 

 

«Astrid Lindgren: Die Menschheit hat den Verstand verloren»

 

Die Kriegstagebücher von 1939-1945: Ein einzigartiges Zeitdokument von Astrid Lindgren


Astrid Lindgren hat unsere Kindheit geprägt. Mit Pippi Langstrumpf und Wir Kinder aus Bullerbü hat sie unseren Blick auf die Welt verändert. Ihre Geschichten handeln von Mut, Hoffnung, Liebe und Widerstand. Noch bevor diese Bücher entstanden, schrieb sie ihre Gedanken über das dunkelste Kapitel des 20. Jahrhunderts nieder: den Zweiten Weltkrieg.

 

Nachdenklich und betroffen, aber auch mit dem so unverwechselbaren Tonfall stellt Astrid Lindgren in ihren Tagebüchern wichtige Fragen, die heute wieder von erschreckender Aktualität sind: Was ist gut und was ist böse? Was tun, wenn Fremdenfeindlichkeit und Rassismus das Denken und Handeln der Menschen bestimmen? Wie kann jeder Einzelne von uns Stellung beziehen? Neben dem Kriegsgeschehen erzählt sie von ihrem Familienleben und den ersten Schreibversuchen: 1944 schenkt sie ihrer siebenjährigen Tochter Karin das Manuskript von Pippi Langstrumpf zum Geburtstag. Das persönliche Zeitdokument einer sehr klugen Frau, die schon immer den Blick für das große Ganze hatte.

 

Der Weltenbrand

«Ich hasste Hitler aus tiefstem Herzen, und ich spürte eine tiefe Wut über den Nationalsozialismus. Und dieses Gefühl – das war meine erste starke politische Überzeugung». Astrid Lindgren lebt im neutralen Schweden, politisch unbedarft und ausgelastet als Mutter, Hausfrau, Sekretärin. Doch sie spürt sofort, dass dieser Krieg einen Weltenbrand entfesseln wird. Sie beginnt ihre Kriegstagebücher. Der erste Eintrag am 1. September 1939 lautet: «Oh! Heute hat der Krieg begonnen. Niemand wollte es glauben. Gestern Nachmittag sassen wir im Vasapark, die Kinder spielten um uns herum, und wir schimpften ganz gemütlich auf Hitler und waren uns einig, dass es wohl keinen Krieg geben würde! Gott bewahre unseren armen vom Wahnsinn heimgesuchten Planeten».

In ihren Aufzeichnungen schildert sie alltägliche Sorgen wie die Angst vor Lebensmittelrationierungen. Doch langsam erwacht die politische Astrid: Sie klebt Zeitungsausschnitte ein, will dokumentieren, bewahren und verstehen, warum die Welt zerfällt.

 

Kurz darauf hat Lindgren Zugang zu geheimen Informationen, denn sie arbeitet inzwischen bei der staatlichen „Briefzensur“. Dort filtert sie private Post auf militärisch relevante Hinweise.

Bereits 1941 weiss sie von Deportationen: «Ich las heute einen traurigen Brief, ein Dokument der Zeitgeschichte. Ein jüdischer Flüchtling, der gerade in Schweden angekommen ist, schreibt, dass Juden von Wien nach Polen deportiert werden. 1000 am Tag», schreibt sie am 27. März 1941. Die Zeitungsauschnitte, die sie über die Jahre einklebt, beweisen, dass auch in Schweden jeder wissen konnte, was mit den Juden geschah.

 

Mehr Angst vor Sowjetrussen als vor Hitler

Doch auch wenn Lindgren Hitler verachtet und die Nazis fürchtet, noch grössere Angst hat sie als Schwedin vor den Sowjetrussen. «Die Russen haben in den vergangenen Tagen Litauen, Lettland und Estland besetzt. Ich sage lieber den Rest meines Lebens ‚Heil Hitler‘, als den Rest meines Lebens die Russen bei uns zu haben. Etwas Entsetzlicheres kann man sich nicht vorstellen», heißt es am 18. Juni 1940. Sie schreibt auch: «Der Nationalsozialismus und der Bolschewismus – sie sind ungefähr wie zwei Dinosaurier, die miteinander kämpfen. Als ob Armageddon bevorstünde!».

 

Eine Anwältin der Menschen

Drei Jahrzehnte später verarbeitet Lindgren ihre Erfahrungen literarisch in «Die Brüder Löwenherz». Da steht der kleine Knirps machtlos wie die neutralen Schweden zwischen zwei bösen Mächten. Das Astrid Lindgrens Werk ausmacht, findet in den Tagebüchern schon seinen ersten Ausdruck: genaue Beobachtungen, geprägt von tiefer Mitmenschlichkeit. Ein Foto vom Austausch von Kriegsgefangenen habe sie nur wegen des Gesichts des Soldaten eingeklebt. «Ich finde, es drückt alle Soldatensehnsüchte der Welt aus», sagt sie im Herbst 1943. Parteipolitik habe sie nie interessiert, ihr sei es immer darum gegangen, wie sich Menschen fühlen. «Ich wollte eine Anwältin der Menschen sein».

 

Wie Pippi Langstrumpf entstand

Pippi Langstrumpf ist Astrid Lindgrens Antwort auf den Zweiten Weltkrieg. Eine hellsichtige, warmherzige und tapfere Astrid Lindgren zeigt sich in diesen Tagebüchern. Sie dokumentiert das Weltgeschehen. Was sie im Innersten bewegt, deutet sie nur an, seien es diskret angetönte Eheprobleme oder ihre ersten literarischen Versuche. Ihr erstes Kinderbuch «Pippi Langstrumpf» entsteht 1944, als sie krank zuhause bleiben musste. Anhand der Kriegstagebücher kann man sagen: Dieses starke, freie, alle Autoritäten anzweifelnde Mädchen, das sich immer für die Schwachen einsetzt, ist Astrid Lindgrens humanistische Antwort für eine gerechte, friedfertige Welt und für die Rechte der Kinder.

 

 

Astrid Lindgren

Kriegstagebücher 1939-1945

Ullstein Verlag 2015

Hardcover, Halbleinenband
576 Seiten
Krigsdagböcker 1939–1945
Aus dem Schwedischen übersetzt von

Angelika Kutsch, Gabriele Haefs.

CHF 27.50. € 24 (D). € 24.70 (A)
ISBN-13 9783550081217

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