FRONTPAGE

Literatur-Nobelpreisträger Tomas Tranströmer: «Eine metaphysische Poetik im Auge des Taifuns»

Von Ingrid Isermann

Auf ihn waren sie nicht vorbereitet, die Buchläden, als der schwedische Lyriker Tomas Tranströmer am 6. Oktober 2011 als Literatur-Nobelpreisträger feststand. Überraschung? Nicht für Insider, aber da Lyrik auch hierzulande kaum Schlagzeilen macht, wurde der Name des neuen Literatur-Nobelpreises erst jetzt in den Medien genannt und seine Publikationen rasch nachbestellt. Das Nobelpreiskomitee gab seine Entscheidung mit der Begründung bekannt, dass Tomas Tranströmer«..uns in komprimierten, erhellenden Bildern neue Wege zum Wirklichen weist.»

 

«Überdrüssig aller, die mit Worten, Worten, aber keiner Sprache daherkommen», heisst es in einem der Gedichte Tranströmers: «Aus dem März `79» (1980).

Sein zuletzt 2004 veröffentlicher Gedichtband «Das grosse Rätsel» (Edition Akzente, Hanser Verlag, 2005) versammelt fünf Gedichte und die puristischere Gedichtform, Haikus mit 17 Silben. Die Haikus enstanden bereits 1959, als Tranströmer seinen Freund Åke Nordin im Jugendgefängnis Hällby bei Eskilstuna besuchte, wo dieser als Psychologe arbeitete. Erst 2001 erschienen die Haikus in Schweden bei der Edition Edda, Uppsala.

 

Haiku

Falsch buchstabierte Leben –

die Schönheit lebt fort als

Tätowierungen.

*

Horch, das Rauschen von Regen.

Ich flüstere ein Geheimnis

um hineinzukommen.

*

 

Fünf Gedichte und eine Handvoll Haikus: «Es ist, als würde jeder Dreizeiler das Himmelsgewölbe neu erfinden. Tranströmer hat eine diebstahlsichere Fähigkeit, unerwartete Räume zu schaffen – stille Explosionen aus Freude und Trauer, Nischen für Verwunderung und Zuversicht», so der schwedische Autor Aris Fioretos über Tranströmers Œuvre, das zwölf Gedichtbände umfasst. Seine Lyrik zeichnet die Verdichtung metaphysischer Sprachbilder aus. Neben internationalen Preisen erhielt er 1981 den Petrarca-Preis.

 

 

November

Wenn der Büttel sich langweilt, wird er gefährlich.

Der brennende Himmel zieht sich

zusammen.

Klopfzeichen sind zu hören von Zelle zu Zelle

und der Raum strömt herauf aus dem

Bodenfrost.

Manche Steine leuchten wie Vollmonde.

Fassaden

 

I

Am Ende des Weges seh ich die Macht und sie ähnelt einer Zwiebel mit überlappenden Gesichtern die eins nach dem anderen abgehn…
II

Die Theater leeren sich. Es ist Mitternacht.

Buchstaben flammen auf den Fassaden.

Das Rätsel der unbeantworteten Briefe sinkt durch das kalte Glitzern.

 

 
Tomas Tranströmer wurde am 15. April in Stockholm geboren, wo er auch heute noch lebt. Nach dem Abitur absolvierte Tranströmer ein Studium der Psychologie an der Universität Stockholm, das er 1956 abschloss. Weitere vier Jahre blieb er dort als wissenschaftlicher Mitarbeiter, bevor er auf eine Stelle als Psychologe an die Jugendstrafanstalt Roxtuna wechselte.
1954 debütierte Tranströmer als 23-Jähriger mit dem Buch ‚17 dikter’ (17 Gedichte). Er experimentierte mit Blankversen, bevorzugte aber später freie Rhythmen. In verschiedenen Büchern wie in ‚Hemligheter på vägen’ (1958) und ‚Klanger och spår’ (1966), verarbeitete Tranströmer Erlebnisse seiner zahlreichen Auslandsreisen nach Spanien, auf den Balkan, nach Afrika und in die USA. Seine Texte entstanden auch immer wieder als Resultat einer Konfrontation mit anderen Künsten, so etwa sein poetisches Porträt Edvard Griegs oder sein Gedicht ‚Ein Mensch aus Benin’, das von einem afrikanischen Kunstwerk im Wiener Museum für Völkerkunde inspiriert wurde.

 
1965 zog er nach Västerås, etwa 100 km westlich von Stockholm, wo er lange lebte und mit den Jahren sehr geschätzt wurde, sodass die Stadt 1997 einen nach ihm benannten Traströmer-Preis für Literatur begründete. Ab 1980 bis zum Ruhestand nahm Tranströmer eine Stelle als Arbeitspsychologe beim nationalen schwedischen Arbeitsamt an. Nach der Pensionierung zog er mit seiner Frau Monica Bladh, mit der er zwei Töchter hat, zurück nach Stockholm.
Im November 1990 erlitt Tranströmer einen Schlaganfall, der ihn halbseitig lähmte und eine Aphasie zur Folge hatte. Nach längerer Rehabilitation war er wieder in der Lage, zu schreiben; seine Frau Monica steht ihm seither bei der Bearbeitung von Textentwürfen zur Seite. Seine Gedichte wurden nach dem Schlaganfall noch prägnanter und kürzer und thematisieren nicht selten das Verhältnis des Dichters zur Sprache. Sein 1996 veröffentlichtes Buch ‚Sorgegondolen’ (Die Trauergondel) verkaufte sich auf dem kleinen schwedischen Buchmarkt in einer Auflage von 30.000 Exemplaren. ‚Den stora gåtan’ (Das grosse Rätsel, 2005) befasst sich teilweise mit dem Thema des Todes, seinen Vorzeichen und Erfahrungen.
Mit dem US-Dichter Robert Blyine verband Tranströmer eine enge Künstlerfreundschaft; beide übersetzten gegenseitig werkgetreu in die jeweilige Sprache des anderen und nahmen auch Gedichte voneinander in eigene Veröffentlichungen auf. Der Bonniers Verlag, Stockholm, gab 2001 zum 70. Geburtstag Tranströmers ein Buch mit der Korrespondenz der beiden Dichter aus den Jahren 1964 bis 1990 heraus. Auch die Dichterin Nelly Sachs übersetzte Gedichte von Tranströmer aus dem Schwedischen ins Deutsche. Zum 80. Geburtstag des schwedischen Lyrikers ist der Nobelpreis für Literatur hoch verdient willkommen. Seit 1993 war Tranströmer jährlich für den Preis nominiert worden. Wir gratulieren!

 

 

Tomas Tranströmer

Das große Rätsel

Gedichte.

Aus dem Schwedischen von Hanns Grössel.
Flexibler Einband, 80 Seiten, Edition Akzente, Hanser Verlag München Wien 2005.

CHF 19.90. 12.90 € (D). 13.30 € (A).

ISBN 978-3-446-20582-9.

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