FRONTPAGE

«Lügner und Heilige»

Von Maile Meloy

Als die schöne Yvette den Flieger Teddy Santerre in den 40er-Jahren heiratet, ahnt sie nicht, welch turbulente Familiengeschichte sie damit ins Rollen bringt.

 

1. Kapitel

 

Sie wurden während des Krieges getraut, in der alten Missionskirche in Santa Barbara, eines Morgens nach der Messe. Teddy war feierlich gestimmt; er nahm die heilige Messe sehr ernst. Yvette, die einen Hut mit Schleier und ein elfenbeinfarbenes Kleid trug, das kein Brautkleid war, wurde durch den Gedanken abgelenkt, dass sie in Kalifornien war, nicht von ihrem Vater zum Altar geführt wurde und im Begriff war, ihr Leben und ihren Namen zu ändern. »Ich, Yvette Grenier, nehme dich, Theodore Santerre …« Es klang alles so förmlich und sonderbar, als spräche ein anderer diese Worte, bis sie überrascht feststellte, dass sie es war.

Die Hochzeit fand in aller Eile statt, damit Teddy sich einschiffen konnte, aber zwei Tage später gingen sie zu einer Tanzveranstaltung im Strandclub, wo Yvette an der Bar seinen Geschwaderkommandanten kennenlernte.

»Sie können diese Frau doch nicht schon jetzt allein lassen«, sagte der Offizier, während er Yvette betrachtete.

Sie hatte das elfenbeinfarbene Kleid an, in dem sie getraut worden war, da es lange gedauert hatte, es zu nähen, und sie es nicht nur das eine Mal tragen wollte. Sie wusste, dass es ihr gut stand – es betonte ihre schlanke Figur und die Art, wie ihr dunkles Haar sich an den Schultern nach innen rollte –, und sie errötete, weil der Offizier sie so ansah.

Teddy sagte: »Sir?«

Der Offizier lachte, schüttelte ihm ein weiteres Mal die Hand und gratulierte zur Hochzeit, und erst dann brachte Teddy ein Lächeln zustande. Beide dachten, der Kommandant hätte das nur im Scherz gesagt, aber er meinte es ernst, denn er beorderte Teddy zu einem Geschwadertraining vor Ort, damit er noch einige Monate bei Yvette bleiben konnte. Das Marine Corps brachte das junge Paar mit den übrigen Offizieren im Biltmore unter – die Gäste waren alle aus Angst vor Bombardierungen ins Landesinnere geflüchtet, und sie gingen zu Cocktailpartys und Tanztees und waren jede Nacht zusammen. Als Teddy schließlich aufbrach, um gegen die Japaner zu kämpfen, war Yvette mit Margot schwanger.

Sie berichtete ihrer Familie nicht sofort von dem Baby.

Ihre Angehörigen lebten in Kanada, sie anzurufen war zu teuer, und sie wollte ohnehin nicht hören, was sie dazu sagen würden. Ihr Vater und ihre Brüder hatten erklärt, sie sei verrückt, diesen Flieger zu heiraten – er war Amerikaner, auch wenn er einen kanadischen Namen hatte, und er sprach kein Französisch. Bei seinem Sold würden sie arm wie Kirchenmäuse sein, und Teddy würde es glatt fertigbringen, getötet zu werden und Yvette mittellos in Kalifornien zurückzulassen – womöglich noch mit einem Kind. Yvette fand das alles sehr unfair. Sie konnte es ihrem Vater nicht recht machen, sofern sie nicht immer und ewig bei ihm blieb, und das konnte sie nicht.

Als Teddy nun draußen im Pazifik war und im Krieg kämpfte, versuchte sie, Hitlers grässliches Buch zu lesen, um das Ganze zu verstehen. Doch das Buch machte sie nur wütend, und sie konnte nicht begreifen, was die Japaner damit zu tun hatten, und so legte sie es weg. Am glücklichsten war sie, wenn Teddy auf Urlaub nach Hause kam und sie tanzen gehen konnten und danach die ganze Nacht wachblieben, im Bett in der kleinen gemieteten Wohnung, in die sie nach der Zeit im Biltmore gezogen war. Teddy scherzte, Sex mache sie redselig, statt schläfrig wie normale Menschen, aber er hörte trotzdem zu, betrachtete sie und lächelte im Dunkeln. Manchmal küsste er sie mitten im Satz, wenn sie ihm alles erzählte, was sie während seiner Abwesenheit bewegt hatte.

 

 

Und dann war der Krieg endlich vorbei, und Teddy kam für immer heim. Die kleine Margot war inzwischen zwei, und das neue Baby, Clarissa, war knapp ein Jahr alt.

Teddy trat eine Stelle bei North American an, wo er Flugzeugteile verkaufte, und baute mit einem Veteranendarlehen ein Haus in Hermosa Beach. Wenn er das Schreien des Babys nicht mehr ertrug, schob er den Stubenwagen hinaus auf die hintere Veranda und lotste Yvette zurück ins Bett.

Da sie nun ein eigenes Haus hatten, konnten sie Leute einladen, und Yvette lernte, für größere Gesellschaften zu kochen: John-Wayne-Eier und Bloody Marys zum Mittagsimbiss. Sie nähte sich neue Kleider, und sie veranstalteten sogar Tanzabende. Die Einladungen begannen nachmittags um fünf Uhr mit Cocktails, und anschließend wurde bis zwei oder drei Uhr früh getanzt, wobei Yvette sich gelegentlich dabei ertappte, wie sie Those wedding bells are breaking up that old gang of mine sang.

Teddy hätte sie bei diesen Partys am liebsten nicht aus den Augen gelassen, aber nur, weil sie so lange getrennt gewesen waren. Yvette war glücklich. Teddy blieb in der Reserve, damit er einmal im Monat fliegen konnte. Er liebte diese Wochenenden im Flugzeug, außerdem war das zusätzliche Geld eine Hilfe, da die Mädchen schneller aus ihren Sachen herauswuchsen, als Yvette neue nähen konnte.

 

 

 

Dann wurde Teddy nach Korea einberufen, und ihnen wurde klar, was für ein Fehler die Reserve gewesen war. Zuerst dachte Yvette, es müsse sich um einen Irrtum handeln, um eine bürokratische Verwechslung. Teddy hatte schließlich Familie – Margot war sieben und Clarissa sechs. Clarissa war ihm wie aus dem Gesicht geschnitten und beobachtete ihn ständig, starrte ihn unverwandt an. Wenn Teddy sie dabei ertappte, lachte er, und sie lachte ebenfalls. Yvette verstand nicht, wie das Marine Corps ihn auffordern konnte, sie erneut zu verlassen. Aber es war kein Irrtum, und so brachte sie ihn mit den Mädchen zum Zug.

Am Bahnhof scherzten zwei junge Marineinfanteristen aus dem Zugfenster heraus mit der Menschenmenge, schnitten weinerliche Grimassen und sagten: »Ihr dürft uns nicht mitnehmen, wir wollen hierbleiben.«

Clarissa begann zu weinen. »Warum nehmen sie die mit?«, fragte sie. »Sie wollen doch hierbleiben!«

Yvette sagte, dass die Männer nur Spaß machten und in Wahrheit gar nicht dableiben wollten, aber das verstand Clarissa nicht. Auf der Rückfahrt warf sie sich im Plymouth auf den Boden und heulte in einem fort. Dieser leidenschaftliche Gefühlsausbruch überraschte Yvette. Sie dachte, ihre Tochter könnte noch krank werden, wenn sie auf dem Boden des Wagens so weiterbrüllte. Sie selbst hatte keine Zeit zum Weinen, sie war zu sehr damit beschäftigt, sich um Clarissa zu kümmern.

Mit zwei Kindern allein zu sein, war schwerer als damals zu Beginn ihrer Ehe, als die anderen Ehefrauen ebenfalls auf ihre Männer gewartet hatten. Es gab mehr zu tun, aber es war auch einsamer. Allein konnte Yvette keine Feste geben, und sie wurde von niemandem eingeladen. Eine alleinstehende Frau stellte eine Belastung dar, ein Risiko. Sie kannte keine der Frauen, deren Männer in Korea waren, näher, da alle jünger waren. Als Rita, ihre einzige ledige Freundin, heiratete, konnte Yvette nicht zu der Trauung gehen, weil diese in einer protestantischen Kirche stattfand. Yvettes Fernbleiben verletzte Rita, und dann wurde auch sie zu einer vielbeschäftigten Ehefrau, und Yvette sah sie nicht mehr.

Eines Tages, als Teddy noch in Korea war, ging Yvette mit Margot und Clarissa an den Strand. Während die Mädchen im Wasser planschten, kam ein Mann und setzte sich zu ihr. Sie wollte ihn schon bitten, zu gehen, aber er war höflich, und Yvette brauchte ein wenig Unterhaltung, und so sprachen sie über die Mädchen. Er sagte, er sei Fotograf, und bot an, für ihren Mann ein Foto von ihnen zu machen; er sagte, das sei das Mindeste, was er für einen Mann tun könne, der im Krieg sei. Und so kam er mit einem großen Reflexschirm und einer Kamera auf einem Stativ ins Haus und baute seine Ausrüstung im Wohnzimmer auf. Yvette mixte ihm einen Highball, und da die Ginger-Ale-Flasche nun einmal offen war, mixte sie sich auch einen. Auf leeren Magen stieg er ihr direkt in den Kopf. Es war drei Uhr nachmittags an einem Sonnabend, und sie hatte die Mädchen für das Foto feingemacht, aber der Fotograf schien es nicht eilig zu haben. Er hatte ein markantes Gesicht, helle grüne Augen und sah mit der khaki-farbenen Hose und dem gebügelten Hemd aus, als wäre er selbst Soldat. Sie sprachen über die Lage in Korea, und er erzählte einen anzüglichen Witz über Kriegsbräute. Er bat um einen zweiten Drink, und sie mixte ihm einen, doch da kam Clarissa herein und verkündete, dass sie ihr schönes Kleid nicht eine Minute länger anbehalten werde. Also gruppierte der Fotograf alle drei am Sofa und machte sich an seinem Blitzlicht zu schaffen.

Clarissa setzte sich auf die Couch, und Margot stellte sich hinter sie, die Hände auf den Schultern ihrer Schwester.

Clarissa hasste es, von Margot angefasst zu werden, und ihre Locken begannen sich bereits aufzulösen. Yvette zog Clarissa den Rocksaum über die Knie, damit diese bedeckt waren. Margot, an der alles an seinem Platz war, lächelte unbefangen in die Kamera. Yvette dachte, ihr eigenes Lächeln könnte leicht beschwipst wirken, presste die Hand auf ihre Lippen und versuchte, ihren Mund anders auszurichten, ohne den Lippenstift zu verschmieren. Dann lächelten alle und wurden von einem grellen Blitz geblendet. Der Fotograf machte noch einige weitere Aufnahmen und meinte, jetzt habe er alles, machte jedoch keine Anstalten aufzubrechen. Er griff wieder nach seinem Drink, und Yvette ließ die Mädchen nach draußen gehen.

 

 

Obwohl sie nur wenig Geld hatte, fragte sie, ob er wirklich keine Bezahlung annehmen wolle, aber er weigerte sich.

»Ein Mann mit einer so schönen Frau will doch eine Erinnerung an sie haben«, sagte er.

Yvette sagte nichts.

»Und mit so hübschen kleinen Mädchen«, sagte er.

Yvette räumte ein, dass die Kinder süß seien. Dann wurde der Fotograf ernst.

»Sie sind«, sagte er, »die schönste Frau, die ich je gesehen habe.«

Sie lachte und versuchte das Lächeln abzuschütteln, das der Whiskey auf ihrem Gesicht zurückgelassen hatte, um die Stirn runzeln und den Mann wegschicken zu können.

»Ich arbeite mit Mannequins«, sagte er, noch immer ernst. »Ich kenne mich mit schönen Frauen aus. Aber Ihre Schönheit ist ein Strahlen, das von innen kommt.«

Sie wollte sagen, dass das Strahlen vom Whiskey kam, befürchtete jedoch, es könnte kokett wirken. Sie dachte an ihren Vater, der ihrer Mutter nicht erlaubt hatte, einkaufen zu gehen, ohne Yvette mitzunehmen, für den Fall, dass sie sich irgendwo mit Männern traf. Aber für ihren Vater hatte es keine Kriege gegeben, nur die Weltwirtschaftskrise und die Familie in einfacheren Verhältnissen in einem kleineren Haus. Und nun war Teddy wieder fort, und dieser merkwürdige Mann wollte einfach nicht gehen.

Yvette stand auf zum Zeichen, dass der Fotograf gehen sollte. Doch plötzlich hatte er den Arm um ihre Taille gelegt und seine Lippen auf ihre gepresst. Er küsste sie so heftig, dass sie sich, als sie sich ihm entwand, an seinen Zähnen die Lippe aufriss. Dann schickte sie ihn weg, samt seiner Kamera und seinem Blitzlicht, und tat etwas, was sie als Gastgeberin noch nie getan hatte: Sie schloss die Haustür, bevor er die Einfahrt halb hinunter war. Dann machte sie sie wieder auf, um nach den Mädchen zu schauen, und sah, wie der Fotograf, mit rotem Kopf und wütend, in seinen Wagen stieg und wegfuhr.

Sie wusste nicht, wie sie Teddy sagen sollte, was vorgefallen war. Sie versuchte es schriftlich, aber sie traf nie den richtigen Ton, zerriss die Briefe und fing wieder von vorne an.

Der Fotograf kam mit den Abzügen, als Yvette allein im Haus war, und diesmal öffnete sie die Tür nur einen Spaltbreit. Er benahm sich, als wäre nichts vorgefallen, doch sie blieb ihm gegenüber kühl und nötigte ihn, den Umschlag so zu drehen, dass er durch den Türspalt passte. Es war besser, die Bilder zu behalten, damit sie nicht sonstwo kursierten. Bei dem Gedanken an die Fotos war sie schon die ganze Woche rot geworden.

»Ich hole Ihnen einen Scheck«, sagte sie, als er den Umschlag losließ.

»Ich will keinen …«, sagte er.

Sie machte die Tür zu und schloss sie ab, holte ihre Handtasche, klappte sie ungeschickt auf, spürte, wie ihr Herz klopfte. Teddys Name war zusammen mit ihrem auf die Schecks gedruckt. Sie hatte keine Ahnung, wie viel sie dem Mann geben sollte. Zehn Dollar? Sie stellte den Scheck über fünfzehn aus.

»Ich will keinen Scheck«, sagte er, als sie die Tür wieder öffnete. Er stand noch genau so da wie vorher, die eine Hand am Türrahmen. Sie dachte, dass er lässig wirken wollte, aber seine Stimme klang zornig, und er würdigte den Scheck, den sie ihm hinhielt, keines Blickes. »Ich wollte Ihnen bloß eine Freude machen, das ist alles«, sagte er. »Ich wollte nur etwas für Sie tun.«

»Danke«, sagte sie.

»Ich bin kein schlechter Kerl«, sagte er. »Ich hatte gedacht, wir könnten einander das Leben ein wenig angenehmer machen, mehr nicht. Das passiert nämlich nicht oft.«

»Ich bin verheiratet«, sagte sie und begann die Tür zu schließen, aber er drückte von außen mit der flachen Hand dagegen.

»Eins möchte ich noch wissen«, sagte er. »Ist es bloß, weil Sie verheiratet sind, oder hat es was mit mir zu tun?«

Sie machte die Tür gegen den Druck seiner Hand zu, schloss sie ab und legte die Kette vor. Sie lehnte sich an die Tür, bis ihr Herz langsamer schlug. Als sie den Umschlag öffnete, hinterließen ihre Finger einen feuchten Abdruck darauf. Die Fotos waren gut, große Abzüge auf schwerem Papier. Die Mädchen sahen genau so aus, wie sie waren: Clarissa die Unordentlichkeit in Person und Margot eine perfekte kleine Nonne. Yvette hatte ein wirres Lächeln im Gesicht, die Augen zu weit aufgerissen, aber vielleicht fiel es nur auf, wenn man wusste, dass sie nachmittags Alkohol getrunken hatte.

Sie schickte Teddy die Abzüge nicht. Wenn er anrufen konnte, sprach sie mit ihm, erwähnte aber nichts von den Fotos, weil die Mädchen im Zimmer waren. Sonst gab es niemanden, dem sie es hätte erzählen können. Mit ihren Familienangehörigen hatte sie sich nie ausgesöhnt, weil sie es ihnen nicht verzieh, dass sie Teddy ablehnten. Ihre ältere Schwester Adele war unglücklich verheiratet, dazu in Kanada und keine Hilfe.

Wochen vergingen. Jede Nacht lag sie wach und dachte an den Kuss des Fotografen und das Blut an ihrer Lippe beim Blick in den Spiegel, und ihr kam in den Sinn, zur Beichte zu gehen. Seit Teddys Abreise war sie nicht mehr zur Messe gegangen; es war zu mühsam, Clarissa in ein Sonntagskleid zu bekommen. Doch nun dachte sie, wenn sie einfach sagen würde, was vorgefallen war, dann würde sie sich bestimmt besser fühlen, und so ging sie allein in eine Kirche in der Stadt, wo weder Teddy noch sie den Priester kannten.

Der Geruch war überwältigend, nach Kerzen und Blumen und gewachstem Holz. Es war der Geruch aller Sonntage ihrer Kindheit, der alten Damen, die mit ihr Französisch sprachen, des Priesters, der Lateinisch sprach, der Sünden, die ihr einfielen: Ich habe meiner Mutter Widerworte gegeben. Ich habe mit meiner Schwester gestritten. Ich habe meine Seite des Zimmers nicht aufgeräumt, als ich aus der Schule kam.

Vor dem Beichtstuhl sprach sie ein kurzes Gebet, ging dann hinein, gefolgt von all den aus den Fingern gesogenen Sünden ihrer Kindheit, und das kleine Fenster wurde aufgeschoben.

»Segne mich, Vater, denn ich habe gesündigt«, sagte sie.

»Meine letzte Beichte war vor sechs Monaten.« Seit sechs Monaten war Teddy nun schon im Einsatz.

»Was hast du zu bekennen, mein Kind?«, fragte die Stimme.

»Ich …« Sie merkte, dass sie keine Ahnung hatte, was sie sagen sollte. Es musste eine Beichte sein, keine Beschuldigung des Fotografen. »Ich habe einen Mann in Versuchung geführt«, sagte sie.

»In welcher Weise?«

»Mein Mann ist in Korea. Ein Fotograf kam, um ein Foto von meiner Familie zu machen, für meinen Mann.«

»Und?«, fragte der Priester, als sie nicht weitersprach.

»Wir haben im Haus etwas zusammen getrunken, meine Kinder waren auch da, es war mitten am Nachmittag, und dann hat er mich geküsst.«

»Vor deinen Kindern?«

»Die Kinder waren draußen.«

»Hat er dich nur geküsst?«

»Er hatte die Arme um mich gelegt. Ich habe mich gewehrt und mir an seinen Zähnen die Lippe aufgerissen.«

Es begann wie eine Beschuldigung zu klingen. »Aber ich habe ihn in Versuchung geführt, Vater«, sagte sie. »Ich habe mit ihm geflirtet. Ich hätte ihn nicht ins Haus kommen lassen dürfen.«

»Was hast du getan, nachdem er dich geküsst hatte?«

»Ich habe ihn weggeschickt.«

»Auf der Stelle?«

»Auf der Stelle«, bestätigte sie.

»Hast du es deinem Mann gesagt?«

»Ich habe versucht, es ihm zu schreiben, aber es klingt immer missverständlich, und ich habe Angst, dass mein Mann die Sache falsch auslegt.«

»Ist dein Mann eifersüchtig?«

»Ich habe ihm noch nie Anlass dazu gegeben.« Sie dachte daran, wie ihr Vater sie auf seinen Schoß gezogen hatte, um ihr nach jedem Einkaufsbummel mit ihrer Mutter Fragen zu stellen. Sie wusste stets, was ihre Mutter gekauft hatte, und da sie schon in den entsprechenden Abteilungen– Haushaltswaren, Bettwäsche, Hüte – gewesen war, konnte sie sie ihm beschreiben, selbst wenn sie in Wahrheit den ganzen Tag lesend in der Buchhandlung im Mezzanin verbracht hatte.

»Du hast Angst, du könntest ihm jetzt einen Anlass liefern«, sagte der Priester.

»Er kämpft für unser Land, und ich habe einem Mann gestattet, mich zu küssen.«

»Aber du hast dich gewehrt«, sagte der Priester. »Du hast getan, was du konntest.«

»Ja«, sagte sie dankbar. Die Last der vergangenen Wochen fiel von ihrem Herzen ab. Es hörte sich an, als würde er ihre Partei ergreifen.

»Du hattest Glück, dass der Mann nicht mehr getan hat«, sagte er.

»Ich weiß«, sagte sie, froh und erleichtert.

»Du musst es deinem Mann sagen«, verkündete der Priester dann, und die Last senkte sich wieder auf ihr Herz. »Zwischen Mann und Frau ist eine Unterlassungssünde ebenso verwerfl ich wie zwischen Priester und Beichtendem.«

»Ja, Vater.« Ihr Moment der Hoffnung war närrisch gewesen, selbstsüchtig.

»Vielleicht wäre es klüger, keine Männer ins Haus zu lassen«, sagte er.

»Ja.«

»Bete zehn Ave Maria und zehn Vaterunser, und sprich auch ein Gebet für mich«, sagte er.

Sie kniete sich in eine der vorderen Bankreihen, um die ihr auferlegte Buße zu tun. Als sie den Priester aus dem Beichtstuhl kommen hörte, unterbrach sie das Vaterunser, um über die Schulter einen Blick auf ihn zu werfen. Er war groß und von beträchtlicher Körperfülle, trug die Kutte der Dominikaner, und sein schwarzes Haar wurde bereits grau. Sie sah, wie sein Blick über die Bankreihen glitt, bis er an ihr hängen blieb, bevor er wegschaute. Sie beendete ihre Buße und sprach ein Gebet für ihn und ging danach hinaus in den klaren, blauen Tag in dem Bewusstsein, eine schwerere Last zu tragen als beim Hineingehen, weil sie nun überzeugt war, dass sie Teddy sagen musste, was sie getan hatte.

Teddy kam auf Urlaub nach Hause, bevor sie Zeit hatte, einen Brief zu schreiben, der den richtigen Ton getroffen hatte, und so schob sie es auf, ihm alles zu erzählen; sie wollte das schöne Gefühl nicht ruinieren, ihn daheim zu haben. Es war kurz vor Weihnachten, sie gaben eine Party, und alle Ehepaare kamen. Yvette trug orangefarbene paillettenbesetzte Kugeln als Ohrringe und ein neues weißes Cocktailkleid, Teddy machte Martinis mit Perlzwiebeln, und alle tanzten. Die Mädchen blieben zum ersten Mal zur Christmette auf, und es war wunderschön mit den Lichtern und dem Chor. An Silvester gingen sie auf den Offiziersball, wo eine große Tanzkapelle spielte, und kamen erst um halb vier Uhr morgens nach Hause, obwohl Teddy früh aufstehen und wieder nach Korea musste. Sie hatte so getan, als müsste er nicht wieder weg, aber als sie ihre Schuhe und ihr Kleid auszog, war ihr klar, dass ertatsächlich fortging und dass sie es ihm sagen musste. Sie betrachtete sich prüfend im Unterrock, um festzustellen, ob sie zu betrunken aussah, und dann ging sie ins Schlafzimmer.

»Ich muss dir etwas sagen, bevor du gehst«, sagte sie. Sie holte den Umschlag aus dem Nachttisch, zog die Fotos heraus und legte sie aufs Bett.

Teddy setzte sich, um die Fotos anzuschauen. Er sagte:

»Meine Güte. Wie hübsch du bist.«

Sie dachte einen Moment daran, es dabei zu belassen; er war nicht wütend, und er fand, dass sie hübsch war.

Aber sie fuhr fort. »Da war dieser Fotograf«, sagte sie. »Ich bin ihm am Strand begegnet, als ich mit den Mädchen schwimmen war, und er bot an, uns für dich zu fotografieren, weil du fort warst.«

Teddy biss die Zähne zusammen, blickte zu ihr hoch und wartete.

Yvette musste weiterreden, sonst würde sie es nie über sich bringen. »Er kam her und machte das Foto, und dann wollte er einfach nicht gehen und hat versucht, mich zu küssen.«

Einen Moment lang herrschte Stille.

»Hat er dich geküsst?«, fragte Teddy.

»Ich habe mich sofort gewehrt.«

»Wie hat er dich geküsst?«

»Was weiß ich«, sagte sie. »Er hat mich gepackt und mich geküsst, und dann konnte ich mich losreißen.«

»Er hat dich also auch angefasst?« Teddys Blick war hart und gespannt.

»Nur, um mich festzuhalten.«

»Wo hat er dich angefasst?«, fragte Teddy in einem Ton, der wie eine Drohung klang.

»Was weiß ich!«, sagte sie. »Um die Taille.«

Teddy blickte erneut auf das Foto und studierte es.

Dann sah er wieder zu ihr hoch. »Warst du betrunken?«, fragte er.

Sie hielt inne, versuchte zu antworten.

»Du warst betrunken«, sagte Teddy; sein Ton war scharf und militärisch, aber leise genug, um die Kinder nicht aufzuwecken.

»Ich hatte nur einen Drink. Ich habe ihm einen Drink gemacht und mir selbst auch einen. Aber ich habe ihn

nicht zurückgeküsst, ich wollte nicht, dass er mich küsst.

Ich habe gesagt, er soll gehen. Ich habe ihn weggeschickt.«

Teddy schob die Fotos bedächtig zusammen. »Wie hast du die Abzüge bekommen?«, fragte er, während er sie auf dem Umschlag auf dem Bett zu einem ordentlichen Stapel zurechtklopfte.

»Er hat sie hergebracht. Ich habe ihn aber nicht ins Haus gelassen.«

»Aber du hast die Fotos entgegengenommen.«

»Ich wollte nicht, dass dieser Mann sie hat.« Ihre Stimme klang verzweifelt, und sie versuchte, sie unter Kontrolle zu bringen. »Sie waren für dich

»Hast du ihn bezahlt?«

»Er wollte nichts dafür.«

Teddy steckte die Fotos in den Umschlag und betrachtete ihn.

Bei den Mädchen bestand Yvette darauf, dass sie sich an die Regel ihrer eigenen Mutter hielten und nicht im Streit zu Bett gingen. Wenn sie sich stritten, mussten sie sich vor dem Schlafengehen wieder vertragen. Doch Teddy wusch sich und ging ohne ein Wort zu Bett. Er war ihr gegenüber noch nie kurz angebunden gewesen, und jetzt wirkte er so unversöhnlich.

»Teddy«, sagte sie, als sie sich ins Bett legte und das Licht ausknipste. »Du gehst bald wieder. Sei nicht böse.

Ich liebe nur dich. Ich will diesen Mann nie mehr sehen.«

Teddy rollte sich zu ihr herum und stützte sich auf den Ellbogen. Als sich Yvettes Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, sah sie, dass er sie ernst betrachtete. Dann schlief er mit ihr, aber er war zornig, sie spürte es an seinem Körper, und am Ende starrte er finster über ihren Kopf hinweg. Inzwischen begann die Sonne aufzugehen.

Er stopfte den Umschlag in seinen Seesack und war weg, noch bevor es im Zimmer richtig hell war.

 

Dieser Einsatz war schwierig für sie; sie schrieb Teddy viele Briefe und erhielt selbst keinen. Er rief an, um sich kurz zu melden, stellte jedoch keine Fragen – die Anrufe dauerten nie lange. Die Kämpfe wurden heftiger, und Teddys Geschwader verlor Flugzeuge. Er flog eine C-2, die nicht für Sturzflüge konstruiert war, aber sie lernten, mit ihr im Sturzflug anzugreifen, um die am Boden kämpfenden Männer zu unterstützen. Wieder und wieder stieg er auf und warf Bomben über den dunklen Bergen ab, aus denen die Bodentruppen beschossen wurden.

Als er zurückkam, hatte sein Gehör durch die Sturzflüge gelitten, und sein Gleichgewichtssinn war gestört.

Manchmal musste er sich plötzlich an Yvettes Arm festhalten, wenn er über eine Bordsteinkante oder eine Türschwelle trat, um nicht hinzufallen. Er hatte Männer aus geringer Höhe getötet, und dass er die Menschen sah, die er tötete, veränderte ihn. Er sprach nicht so darüber, als ob es ihn verändert hätte, doch Yvette merkte genau, dass es der Fall war. Korea war nicht wie der letzte Krieg. Die Kampfeinsätze waren härter, als sie im Pazifik für ihn gewesen waren, und auch wenn er die Gründe für den Krieg einleuchtend fand, so gab es nicht allzu viele, die seine Meinung teilten.

Sie sprachen nicht mehr über den Fotografen, doch die Tatsache, dass es ihn gab, hatte sich in ihre Ehe eingeschlichen, und Yvette wusste nicht, wie sie sie wieder loswerden sollte. Sie dachte, dass der Priester Unrecht gehabt hatte, ihr zu sagen, sie müsse es Teddy erzählen. Ihre Mutter hatte recht gehabt, ihren Vater in dem Glauben zu lassen, sie sei mit Yvette zusammen Haushaltswaren, Bettwäsche und Hüte einkaufen gewesen. Ihre Mutter hatte tatsächlich in

diesen Abteilungen eingekauft, jedoch alleine, und was war daran so schlimm? Sie klebte die Zeitungsausschnitte über Teddy in Alben und machte Aufnahmen von den Kindern, um die Bilder des Fotografen in ihrem Kopf zu ersetzen. Sie wusste nicht, wo Teddy den Umschlag aufbewahrte oder ob er ihn noch hatte, sie wusste nur, dass er ein anderer Mensch geworden war, nicht so hart wie in jener Nacht, aber dafür mit einem militärischen Unterton in der Stimme und mehr Argwohn in den Augen. Er verließ die Reserve und nahm wieder seine Stelle bei North American an, und sie richteten sich miteinander in einem Leben ein, das einem Waffenstillstand glich.

 

Maile Meloy

Lügner und Heilige

Roman

Aus dem Amerikanischen von

Ursula-Maria Mössner

302 S., geb. Kein & Aber Zürich 2011

CHF 28.90. 19.90 Euro

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Literatur