FRONTPAGE

Lutz Seiler: «Der proletarische Zauberberg»

Von Elke Schmitter

 

Dies ist kein appetitliches Buch, und es spielt nicht unter noblen, kosmopolitischen Moribunden; sein gastronomisches Angebot ist schmal, seine Kulissen sind armselig und verwanzt, sein Personal ist proletarischen Temperaments – und doch ist «Kruso» das erste würdige Gegenstück der deutschen Literatur zu Thomas Manns «Zauberberg», dem Lebensroman des jungen Hans Castorp am Vorabend des Ersten Weltkrieges, in dem die alte Welt in einer Orgie aus Dummheit, aus Hass und Gewalt zugrunde geht, während seine Figuren, fernab von historischen Geschehen, mit Husten, Liebeleien und philosophischem Gezänk beschäftigt sind. Nur dass hier, in Lutz Seilers «Kruso», die Deutsche Demokratische Republik (DDR) und mit ihr die Welt des Kalten Krieges lautlos in sich zusammenfällt – sie schmilzt, sie gammelt, sie bröckelt dahin wie die Materie in diesem Roman, aber beinahe unmerklich oder jedenfalls unbemerkt, im Rücken der Protagonisten dieser grossen Erzählung über das Ende der letzten Welt.

 

Dies, Leser, ist kein appetitliches Buch. Es handelt von der Auflösung von Speiseresten im Spülwasser und von Leichen im Meer, von Kadavern an der Luft und von Unrat in geschlossenen Räumen; es handelt von der Auflösung von Materie, von innerer Zeit und äußeren Grenzen und schließlich von der Auflösung eines Staates in einem langsamen Zerfallsprozess, der dem Aufweichen, Verflocken und Zerfasern  eben der Speisereste im Spülwasser gleicht, wie es der Held des Romans, ein nicht ganz schlichter junger Mann namens Ed, an seinem Arbeitsplatz in einem  Ausflugslokal auf Hiddensee erlebt: Mit allen Sinnen, anfangs von leisem Ekel begleitet, bis die Arbeit als Abwäscher, die frei gewählte tägliche Fron für die Auflösung des Ekels selber sorgt und nichts davon übrig bleibt als das wache Bewußtsein für Details und der helle Gleichmut einer fraglosen Unermüdlichkeit.

«Kruso» ist Lutz Seilers erster Roman. Der 51jährige war bislang Lyriker, Erzähler und Essayist. Mit den Romanen (denn ein zweiter ist schon entworfen) hat es so lange gedauert, weil das Scheitern in diesem Genre, wenn es denn vor Drucklegung eingesehen wird, auch so viel mehr Zeit in Anspruch nimmt als bei den kürzeren Formen der Literatur. An einem Vorläufer zu «Kruso» ist Seiler, wie er im Gespräch erzählt, quälend langsam gescheitert. Sicher nicht an jedem einzelnen Satz, wie man annehmen will, weil bei Seiler der einzelne Satz immer Markanz hat ohne Kraftmeierei, immer direkt gebunden an eine genaue Beobachtung erlebter Realität und mit grosser Zuverlässigkeit melodisch und rhythmisch stimmig ist. Aber doch an der Konstruktion, die bei einem Roman eben halten muss, wie die Treppen und Wände in einem Haus, die man vergisst, wenn man darin wohnt. Eine Falltür, ein unzugängliches Speichereck, ein Blaubartzimmer darf es schon geben – und davon gibt es auch Einiges in Seilers Romandebüt. Man muss nicht jeden Winkel ausleuchten können, aber man darf sich die Stirn eben nicht stossen an der Architektur.

 

 

Hier geht sie auf, die tragikomische Konstruktion. Sie umfasst Sommer und Herbst des Jahres 1989, und sie spielt, nach ihrem Auftakt im Berliner Ostbahnhof, an einem Ort am äussersten Rand der DDR: auf dieser winzigen Insel, «Versteck im See, geheime See, Hiddensee…», ein sagenumwobenes Eiland, bevölkert von trutzigen immer-schon-hier-Gewesenen – «Der Naturalist Gerhart Hauptmann hatte behauptet, auf der Insel hießen alle Mensche Schluck und Jau, eigentlich gäbe es nur diese beiden Familien» – , von Gestrandeten, Aussteigern, Künstlern, Nichtregistrierten – und von «Grenzschützern» selbstverständlich, von Polizei und Staatssicherheit. Denn von hier aus, vom Strand am offenen Meer, wo man an etwa dreissig Tagen im Jahr die dänische Insel Mon am Horizont ausmachen kann, finden auch immer wieder Fluchtversuche statt; hier gilt es, mit Nachtsichtgerät, mit Suchscheinwerfern und Maschinengewehren die realsozialistische Grenze vor ihrer Perforation durch potentielle Ausbrecher und politisch Suizidale zu schützen.

Aus diesem Grund war Hiddensee ein exklusiver Urlaubsort, für ordentliche Ferien nur gesinnungstreuen Bürgern zugänglich, für alle anderen ein ersehntes Tagesziel. Damals wie heute entstiegen Gruppen meeresfroher Ausflügler am Hafen Kloster einem weißlackierten Doppeldecker mit Gedeckverköstigung, flanierten durch das idyllische Dorf und nahmen den Anstieg zur Seilküste auf einem gut zwei Kilometer langen Plattenweg, um dort oben, auf der Terasse des Gasthofs «Zum Klausner», Fisch zu essen oder einen Eisbecher zu verzehren, umtost von Meeresrauschen und dem Wind im landschaftstypischen Mischwald. Und noch heute lässt sich gut nachfühlen, welch berauschendes Gefühl von splendid isolation, von Freiheit und Unbelangbarkeit die Besatzung eines solchen Versorgungsschiffs beseelt haben muss. Ein Haus mit Fachwerk und Veranda, gleichwohl: «Auf den ersten Blick erinnerte es an einen Mississippidampfer, einen gestrandeten Schaufelraddampfer, der versucht hatte, durch den Wald das offene Meer zu erreichen. Ringsum ankerten einige kleinere Blockhütten, die das Mutterschiff wie Rettungsboote umgaben».

 

 

An diesem Ort strandet und landet schliesslich der Held dieses Romans, der Germanistikstudent Ed Bendler aus Halle. Seine Freundin ist fort, sein Kater verschwunden, sein Leben am toten Punkt. Als Unter-unter-unter-Mieter einer Wohnung zum Hof, «ein Kummer aus Moder und Kohle», als letzter Name auf dem Türschild hinter «Stengel, Kolpacki, Augenlos und Rust», machte er vorläufig Schluss mit seiner Existenz, die aus der Würdigung von Brockes, Trakl und anderen Dichtern ihre Daseinsberechtigung fand, verbrannte seine Manuskripte, schraubte die Sicherungen heraus und stellte sie sorgsam auf den Zähler, schob den Schlüssel unter die Matte und ging. Was man von ihm wollte, das konnte er liefern, wollte aber nicht mehr. «Wissen war nicht sein Problem. Und Prüfungen ebenfalls nicht».

Das Leben ist das Problem; die Frage nicht des `wofür?´, sondern `wozu?´. Der begabte Student Edgar Bendler weiss nicht, wohin mit sich in der verwalteten Welt; er ist nicht dafür, er ist nicht dagegen, es ist schlimmer als das: Er gehört nicht dazu. Also macht er sich auf in die Fremde, wie alle Taugenichtse vor ihm, die sich nicht vollends niederschlagen ließen von der Depression der Adoleszenz: Er geht auf Pilgerfahrt, zu jenem legendären Ort, an dem andere Gesetze gelten, so hat er es gehört, an dem die «Märchen und Mythen des Festlands» haften, weil er so unbegreiflich weit fort ist von jeder banalen Realität wie vor gut einem Jahrhundert der «Zauberberg» für alle «Flachlandbewohner», wie man dort oben in den Schweizer Bergen die Kolonnen der Normalität charakterisierte.
Zwei erfolglose Tage bringt Bendler hinter sich mit der Suche nach Arbeit als saisonale Aushilfskraft, zwei Nächte dämmert er unter freiem Himmel dahin, bis er im Küstengebüsch eine Treppe findet, die ihn zum Ort seiner Zuflucht bringt, nach oben, zum Mutterschiff. «Am Ende zählte Ed fast dreihundert Stufen (jede dritte verfault oder zerbrochen), verteilt über verschiedene Abschnitte und Absätze bis auf das fünfzig oder sechzig Meter hohe Kliff». Der Direktor dieses Instituts zur Versorgung von Tagestouristen empfängt ihn freundlich, stellt sibyllinische Fragen und lässt ihn wissen, dass er sich zu bewähren hat in dieser verschworenen Gemeinschaft, «gesund und befreit von der Vergangenheit». Die Bewährung besteht in Zwiebelschälen und Schweigen, «bis Crusoe zurückkehrt», der dann die Entscheidung fällt, ob die Aushilfskraft Eduard Bendler in die Truppe aufgenommen wird. Kruso, den der gebildete Direktor «Crusoe» nennt, ist die Macht hier oben auf dem Kliff; ein Charismatiker, ein Dichter und Sonderling, aber auch ein gewiefter Verschwörer, der die Aussteiger, die Illegalen und die Suchenden auf dieser Insel um sich zu sammeln und zu schützen weiss. Vor seinen Augen muss Ed bestehen, sein Vertrauen muss er gewinnen.

 

 

Wie das geschieht, wie die Verbindung der beiden Jungmänner sich knüpft bis zur Blutsbrüderschaft, ist das eine grosse Thema dieses deutschen Bildungsromans. Nähe stiftet die Literatur mit ihren wilden Expressionisten, ihren gequälten Seelen Rimbaud, Artaud und Trakl, Nähe stiften Verlorenheit und der Verlust einer großen Liebe. Nähe stiftet die Situation, das Leben hart an der Grenze zum Meer, das Freiheit und Todesgefahr bedeutet, und an der Grenze zu vielem, was in diesem Staat verboten oder gefährlich war. Nähe stiftet aber auch ein Ethos, das alle im «Klausner» teilen und das Stolz auf die Arbeit der Hände umschließt, aufs Durchhalten, auf die Erschöpfung nach vollbrachtem Dienst und auf die Entgrenzung im Feiern danach – ein proletarisches Ethos.
Und eben darin findet Ed wieder zu sich zurück. Die niederste Arbeit, die er im «Klausner» verrichtet und der Seiler wenig appetitliche, aber eben grossartige Beschreibungspassagen widmet, das Abspülen des Geschirrs, ist hier keineswegs die erste Stufe einer Karriere. Ed ist zum Tellerwäscher ernannt (und selbst das hat er sich durchs Zwiebelschälen verdienen müssen), um Tellerwäscher zu bleiben, denn hier ist es gleichgültig, was man tut, wenn man es nur tut, wie es getan werden muss. Er findet heraus aus seiner Depression durch die sinnliche Überwältigung von Dampf und üblen Gerüchen, von schmerzenden Füssen und ertaubenden Händen, durch die permanenten links-rechts-Bewegungen durch die Konzentration auf das Unmittelbare und durch das gewissermassen sachliche Vergehen der Zeit. Und erst, als er wieder bei sich ist, als das Dumpf-Depressive der «Müdseligkeit» weicht, kann er das soziale Glück spüren, Teil dieser Truppe zu sein, diesen «Funkenflug einer unfassbaren Brüderlichkeit». Und er kann, inmitten dieser familiären Horde, wieder zu einer Persönlichkeit werden, die handelt und liebt, die schwärmt und reflektiert, die ihrer Witterung vertraut und kämpft.

 

 

«Kruso» ist ein Buch über Ost und West, das beinahe alles unterläuft, was man von einem solchen Roman erwartet. Der Westen ist hier kein Ort der Verheissung, sondern eher eine Gefahr – des Flachdenkens und der Vereinnahmung durch den Konsum. Der Tippelschritt der Bedürfnisse, vom Schokoriegel zum Eigenheim, vom Sportwagen zum Urlaub am Mittelmeer, «kurz angebunden an den Pflock des Augenblicks», wie es bei Nietzsche heißt, ein Leben in diesem Rhythmus ist nicht das Ziel der hier miteinander Verschworenen. Der Westen hat hier überhaupt nur einen, aber besonderen Platz: Er thront unerreichbar auf einem Bord in der Küche und spricht ohne Unterlass; es ist ein altes Radio namens Viola, auf die Frequenz «Deutschlandradio» eingestellt und längst schon ohne funktionierende Tastatur. Und lange schon vor dem Ende allen Geschehens verstummt diese letzte Verbindung nach draussen, ist das Radio zerschlagen von einem im Zorn geworfenen Glas. Nun gibt es keine Nachrichten mehr von anschwellenden Demonstrationen, von Picknicks an offenen Grenzen, vom Ende der alten Welt, nun gibt es nur noch den Osten im letzten Kampf der Selbstverteidigung.
Dieser Osten, wie Seiler ihn auferstehen lässt, ist nicht ohne Brutalität. Ein Jahr vor Eds Ankunft auf Hiddensee haben wilde Schweine den Garten des «Klausner» verwüstet und sich an den Pilzen und «heiligen Kräutern» gütlich getan, die zu orgiastischen Zwecken dort angebaut sind. «Danach», so berichtet Kruso, «fühlten die Schweine sich vollkommen frei, frei von allem. Sie sind etliche Runden geschwommen, rund um die Insel, und haben Gefechtsalarm ausgelöst». Die vermeintlichen Flüchtlinge wurden exekutiert, ihr Blut färbte den Sand. «Koch-Mike hat natürlich versucht, ein bisschen frisches Fleisch für den Klausner abzustauben, aber da führte kein Weg rein; Flüchtlinge werden wie Flüchtlinge behandelt: Es gibt sie nicht, und also gibt es keine Leichen – sie existieren einfach nicht».

 

 

Der Osten der DDR ist brutal, vor allem aber banal. Seine Gedanken sind grau wie seine Uniformen, er ist ein Gefängnis der sturen Planerfüllung, der Abstumpfung und Trostlosigkeit. Der wahre Osten, der Rettung verheißt, wie der russischstämmige Kruso sie für alle Menschen ersehnt, ist ein metaphysisches Gelände, in dem «die verlorene Seite» des Daseins, der Sinn des Lebens gehütet wird. Um diesen Osten kämpfen die Letzten der Truppe auf diesem Zauberberg, während in ihrem Rücken tobt, was Geschichte heißt.
Im Epilog zu Seilers tragikomischen Roman über den Zerfall der alten Welt forscht der Erzähler dem Schicksal seiner Figuren nach. Was ist aus Kruso geworden, der, hochfiebernd und schwerkrank, in einer mythisch-expressionistischen Szene von einem russischen Schiff geborgen und fortgebracht wird? Wohin ist der Abwäscher verschwunden, dessen Zimmer mit den grauen Laken und dem verwanzten Schrank Ed übernommen hatte? Wer registrierte die Leichen, die an der dänischen Küste angespült wurden, die aufgedunsenen Körper der Flüchtlinge, die es nicht geschafft hatten?

Diese Recherche, sagt Seiler heute, war «so schwierig wie interessant. Die DDR-Bürger waren ja nicht tätowiert… Kleidung, vielleicht eine Uhr konnte Hinweise geben, aber da es offiziell keine Flüchtlinge gab, gab es natürlich auch keine Vermisstenanzeigen, keine Personenbeschreibung. Diese Menschen gingen im Grunde viermal verloren: Einmal vor ihrer Flucht, wenn sie alle Spuren verwischten, um niemanden zu belasten. Einmal auf ihrer Flucht. Einmal im Meer. Und schließlich als Tote, die ohne Namen bestattet werden mussten».
In vielen Details gibt Seilers Roman ein realistisches Bild der DDR in den letzten Jahren, aber darin erschöpft sich sein Anspruch nicht. «Kruso» ist auch ein gut durchkomponierter, fesselnder Roman über eine verschworene Truppe sinnsuchender Männer und (sehr weniger) Frauen in einem Augenblick historischer Turbulenz. Vor allem aber ist «Kruso» eine gleichnishafte Erzählung über die Gegenwärtigkeit des Erlebens, über «Lebenszeit und Weltzeit», wie der Philosoph Hans Blumenberg die Spannung zwischen der historischen und der persönlichen Erfahrung nennt. Wie jede große Dichtung gibt «Kruso» mehr Rätsel auf, als sie löst, aber die Rätsel quälen nicht, sondern machen den Leser glücklich.

 

Lutz Seiler, *1963 in Gera, studierte Germanistik in Halle (Saale) und Berlin. Zahlreiche Gedichtbände und Veröffentlichungen. 2007 wurde er für seine Erzählung «Turksib» mit dem Ingeborg Bachmann-Preis ausgezeichnet.  Für seinen Debütroman «Kruso» erhielt Lutz Seiler den Deutschen Buchpreis 2014.

 

 

Lutz Seiler

Kruso

Roman

Suhrkamp Berlin 2014

CHF 32.90. € 22.95

ISBN 978-3-518-4244-7-6

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