FRONTPAGE

«Lyrik aus Brasilien: VERSschmuggel/ transVERSal»

 

 

Neue Lyrik aus Brasilien – in kaum einem anderen Land prallen so viele poetische Vorstellungen aufeinander. Ihre Kraft schöpft die brasilianische Poesie aus unterschiedlichen Quellen, von der Konkreten Poesie der Avantgarde über die afro-brasilianischen Erzähltraditionen und Songwriting bis zur Visuellen Poesie. Der in Berlin lebende brasilianische Dichter Ricardo Domeneck hat einige der spannendsten Autoren Brasiliens unterschiedlicher poetischer Richtungen für den VERSschmuggel ausgewählt.

 

Die Lyrik, die heute im deutschsprachigen Raum entsteht, ist ästhetisch spannend wie schon lange nicht mehr. Beide Kontinente dichterischen Schaffens haben sich bisher kaum wahrnehmen können, weil nur wenige Übersetzungen vorliegen.

Die Literaturwerkstatt Berlin veranstaltet jährlich einen Übersetzungsworkshop, der während des Poesiefestivals stattfindet und zu dem internationale und deutschsprachige Dichterinnen und Dichter eingeladen werden. Vorab werden Interlinearübersetzungen aller Gedichte in die jeweiligen Sprachen in Auftrag gegeben. Auf dieser Materialgrundlage und mit Hilfe eines Dolmetschers zwischen beiden sich gegenseitig übersetzenden Dichtern beginnt dann die Spracharbeit.

Ricardo Aleixo, Dirceu Villa, Jussara Salazar, Horácio Costa, Marcos Siscar und Érica Zíngano arbeiteten gemeinsam mit ihren deutschsprachigen Dichterkollegen Ann Cotten, Gerhard Falkner, Barbara Köhler, Christian Lehnert, Ulf Stolterfoht und Jan Wagner an der Übersetzung ihrer Werke in die andere Sprache – ein Verfahren, das ideal für die Übersetzung ist, da der Dichter direkt in den sprachlichen Transfer mit einbezogen ist, in Koproduktion mit 7Letras (Rio de Janeiro). Wie (ver)wandeln sich, im Prozess des Übersetzens, Sprachbilder und Klangwelten? Beim Übersetzen erleben die DichterInnen Dimensionen der eigenen Sprache neu. Die Reibungen zwischen zwei Sprachen werden erkundet. Die AutorInnen äussern sich selbst zum Erleben der poetischen Welt des anderen und seiner Sprache. Diese Statements sind im Band enthalten wie auch zwei CD’s, auf denen die stimmliche Performance der Gedichte mit- und nachgehört werden kann. Untenstehend die beiden DichterInnen Christian Lehnert und Jussara Salazar. (I.I.)

 

 

Christian Lehnert / Jussara Salazar

 

Jussara Salazar

 

Fünftes Retabel:

Der letzte Reisende verlässt das Haus

 

 

SONNENAUGE DER INQUISITION

sah die Katze auf dem weissen Linnen

die welken Blüten und die lebenden

Blüten

weil die Sonne der Inquisition

alles ausgebreitet sieht

von Gott

bis zur Sinnosigkeit

DEMIURG DIE SONNE DER INQUISITION FÜGT

deine verlorene Seele mit einem Körper zusammen

und das Flusskleid

das Wenige dein

das hohe Schicksal reicht nicht

die Strömung umfängt dich nicht mehr

winkt mit dem Linnen im Wind

nimmt Abschied von der Barke

kleinstes Kieselherz

undankbar

lacht über dich der Strom und vorüber

DIE SONNE DER INQUSITION FÜGT näht verbindet vereint

das Wasser verrinend MIT DEM SCHICKSAL DES KÖNIGS FLUSS

 

 

Jussara Salazar (*1959 im Bundesstaat Pernambuco) lebt als Autorin und Graphikdesignerin in Curitiba. Derzeit promoviert sie n Kommunikation und Semiotik und ist Herausgeberin der Online-Zeitschrift lagioconda (www.lagioconda.art.br). In Jussara Salazars Gedichten offenbart sic eine religiös-mythologische Welt, die von intertextueller Referenz und metaphorischer Sprachlichkeit geprägt ist.

 

 

Veröffentlichungen (Auswahl):

Carpideiras. 7Letras, 2011.

Natalia. Travessa dos Editores, 2004.

Inscritos da casa de Alice. Tipografia do Fundo de Ouro Preto, 1999.

 

 

  

Christian Lehnert

 

Du bist mein Schlaf und meine späte Stunde,

du bist die Gier, von der ich nie gesunde,

ich atme dich und atme, wenn du fehlst,

den Brandgeruch, die Leere, wo du schwelst.

 

 

Du bist die Glashaut, die gefüllt mit Staub

von Zeit spricht – feine Blutung, ungenau.

Du bist, was ich vergass, bist mir verborgen –

nachdem ich nicht mehr bin, der frühe Morgen.

 

(12. April 2009)

 

 

Christian Lehnert (*1969 in Dresden) studierte Religionswissenschaften, Orientalistik und Theologie. Nach Aufenthalten in Israel und Spanien lebt Lehnert heute in Leipzig. Er gilt als Kenner der christlichen, jüdischen und muslimischen Religionen; seine Lyrk kann als diskrete Metaphysik bezeichnet werden. In seinem jüngsten Gedichtband Aufkommender Atem widmet er sich den grossen religiösen Fragen, ohne darüber den Alltag zu vergessen. Für Hans Werner Henzes Konzertoper Phaedra, die 2007 an der Berliner Staatsoper Unter den Linden uraufgeführt wurde, schrieb er das Libretto. Er ist vielfacher Literaturpreisträger.

 

 

Veröffentlichungen (Auswahl):

Aufkommender Atem. Suhrkamp, 2012.

Auf Moränen. Suhrkamp, 2008

Ich werde sehen, schweigen und hören. Suhrkamp, 2004.

 

 

Herausgeber: Aurélie Maurin, Thomas Wohlfahrt
VERSschmuggel/ transVERSal
Brasilianische und deutschsprachige Gedichte mit CD
2013. ISBN: 978-3-88423-431-0
€ 26.80 EUR

 

 

 

Lyrik-Taschenkalender 2014, herausgegeben von Michael Braun

Der Lyrik-Taschenkalender 2014 webt wie sein Vorgänger ein Netz aus Gedichten, poetischen Korrespondenzen und Kommentaren. 17 Dichterinnen und Dichter aus Deutschland, Österreich und der Schweiz waren eingeladen, jeweils zwei Lieblingsgedichte auszuwählen und zu kommentieren. Aus der Schweiz sind Urs Allemann und Christian Uetz dabei. Es finden sich alte Bekannte und auch neue Namen darunter, wie u.a. Ingeborg Bachmann, Marcel Beyer, Clemens Brentano, Inger Christensen, Kurt Drawert, Paul Gerhardt, Wolfgang Hilbig, Barbara Köhler, Ernst Jandl, Silke Scheuermann.

 

 

 

Ron Winkler

Der 27. Septemberkuss

es muss am Downloadshop gewesen sein, wir standen
dort und sahen das Pinkwild sich vermehren
jemand hiess du, du trugst dein unruhiges Kleid
und garantiert spielte auch Product placement eine Rolle.

die Strasse klang nach Flughäfen, die auf Flugzeugen
zu landen begannen.
die Stadt war ein möbilisierter Wellnessverband, die
Sonne schien schwach wie ein Planet und ich
konnte mich nur mehr dunkel an Materie erinnern –
als du mir deine Muskeln zufügtest,
mit dem Visum einer äusserst gültigen Zunge.

die die botanisch geschenkte Rose hieltest du wie etwas
nur Momentanes an ihrem Carrier fest.
küss mich noch einmal, flüsterte ich, Zeit können wir
später immer noch machen.
hier. Einen weichen Wohnsitz

 

 

Wolfgang Hilbig

Matière de la poésie

Das Meer verhüllt von Licht: verhüllt von Helligkeit…

im Sinn von Licht: ein Lilienweiss um nichts zu sein

Als Weiss der Lilien – und Meer um nichts als Meer
zu sein und ohne Mass: und Mond-Abwesenheit –
welch Leuchten das seine lange Überfahrt antritt
und jedes Land vergisst auf nichts bedacht als Ewigkeit –
das Meer: das nicht mehr Tag noch Nacht ist sondern Zeit.

 

 

Christian Uetz

Zoom Nicht

Ich bin etwas nicht. Ich bin es einfach nicht. Das
schmerzt, dass ich es nicht bin, das nervt. Immer
gelingt es mir nicht. Immer kann ich es nicht. Immer
bleibe ich es schuldig. Schuldig? Ja schuldig…
Himmelheilandherrgottsternensacrament nochmals, ich
Bin ich es einfach nicht. Nie bin ich, immer bin ichs nicht.

Und was noch? Alles, was ich an Geist nicht bin. Alles,
was ich an Geist, welcher nicht ist, welcher genau
das ist, was nicht ist, nicht bin. Also alles, was ich an
mir selber nicht bin, weil ich es nicht bin, was ich an
Geist nicht bin. Ich bin nicht mein Geist, der nicht ist.
Ich muss mich auf meinen Geist, der nicht ist, und der
mich ist, verlassen, um als mein Geist, der nicht ist,
und der mich ist, nicht zu sein. Ich muss mich auf
meinen Geist verlassen, auf den ich mich verlasse, wenn
ich mich verlasse, wenn er mich verlässt. Und wenn
ich es nicht kann, kann ich dafür Nicht, das ich nicht
kann, und wenn ich es nicht kann, gehöre ich schon ins
Nicht, das ich nicht höre.
(Auszüge)

 

 

Urs Allemann

am grab

 

gut, dass wir nicht in england leben
und nicht in frankreich, mama.

 

death hat fünf buchstaben, life bloss vier,
vie three, mort one more: four.

 

rejoice, ma: chez nous leben
cinq, tod trois.

 

 

 

Hilde Domin

Nicht müde werden
sondern dem Wunder
leise
wie einem Vogel
die Hand hinhalten

 

 

Michael Braun Hrsg.

Lyrik-Taschenkalender 2014

Verlag das Wunderhorn, Heidelberg 2013

224 S., geb., Leseband
€ 15.80

ISBN 978-3-88423-432-7

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