FRONTPAGE

«Lyrik: VERSschmuggel Poesie aus Schottland und Deutschland»

Von Ingrid Isermann

 

Die Dichtung Schottlands nimmt in der europäischen Literatur eine Sonderstellung ein, indem sie schon früh andere Sprachen und Kulturen der Insel wie Englisch, Schottisch und Gälisch integrierte.

Die geografische wie auch ästhetische Singularität der schottischen Dichtung ist ihr zentrales Thema. Sie steht im Spannungsfeld zwischen kulturellem Import und Export, zwischen Internationalität und Authentizität, zwischen Provinzialismus, Avantgarde, Moderne und Tradition.

 

Das poesiefestival berlin hat im Juni 2014 Dichter Schottlands eingeladen, sich mit ihren deutschsprachigen Kollegen zum Übersetzungsworkshop VERSschmuggel zu treffen. So ist ein intensives Schmuggeln von kulturellen Konnotationen, poetischen Traditionen und Kompositionsverfahren entstanden. Neben dem gedruckten Wort ermöglicht es ein QR-Code, die Dichterstimmen auch zu hören. Der Text erklingt erst in Originalsprache und anschliessend in Übersetzung. So sind das gedruckte Gedicht und sein Klang, Rhythmus und Melodie des Gedichts sinnlich erfahrbar. (Buchgestaltung Friedrich Forstmann, Kassel).

 

Mit Gedichten von Anna Crowe, Ryan van Winkle, Peter Mackay, J.O. Morgan, Don Paterson und Robin Robertson aus Schottland sowie Michael Donhauser, Ulrike Draesner, Odile Kennel, Dagmara Kraus, Björn Kuhligk und Katharina Schultens aus Deutschland.

 

 

 

Robin Robertson

übersetzt von Ulrike Draesner

 

ANNUNCIATION

He has come from the garden, leaving

no shadow, no footprint in the dew.

They hold each other’s gaze at the point

of balance: everything streaming

towards this moment, streaming away.

 

 

A word will set the seed

of life and death,

the over-shadowing of this girl

by a feathered dark.

But not yet: not quite yet.

 

 

How will she remember the silence

of that endless moment?

Or the end, when it all began –

the first of seven joys

before the seven sorrows?

She will remember the aftersong

because she is only human.

One day

she’ll wake with wings, or wake

and find them gone.

 

 

 

 

Verkündigung
nach Fra Angelico

 

Gekommen ist er durch den Garten, kein
Schatten fiel, kein Fuss auf Tau.
Achsen kreuzen ihre Blicke, Linien
Schwebe: alles strömt zu
diesem Augenblick, strömt fort von ihm.

 

Ein Wort wird den Samen ausbringen
für Leben und Tod,
die gefiederte Dunkelheit, die auch dieses
Mädchen überschatten will.
Doch nicht jetzt: nicht schon jetzt.

 

Wie wird sie sich an die Stille
dieses unendlichen Augeblickes erinnern?
Oder an das Ende, als alles seinen Anfang nahm –
die erste der sieben Freuden
vor den sieben Schmerzen?

 

Sie wird sich erinnern an das Lied nach dem Lied
ist sie doch nicht mehr als ein Menschenkind.
Eines Tages
wird sie mit Flügeln erwachen, wird erwachsen
und finden, dass sie verloren sind.

 

 

J.O. Morgan
übersetzt von Katharina Schultens

 

«I live alone. I wanted

to know how it would feel

to offer one’s touch without asking

for any such thing in return».

 

The king looks her over.

The downward twitch of her lips.

Her low-lidded eyes.

 

«Sit there for the rest of the show».

 

Indicating the sea just behind him.

 

 

«And when you think

I may least expect it:

kiss me again».

 

 

 

 

 

«Ich leb allein. Ich wollte
nur wissen, wie es wäre
zu berühren, ohne dabei
Gleiches zu erwarten».

 

Der König musterte sie.
Ihre zuckenden Lippen.
Niedergeschlagene Lider.

 

«Sitz hier bis zum Ende der Vorführung»,

 

er weist auf den Platz neben ihm.

 

 

«Und erst wenn du denkst,
genau jetzt erwartete ich
nichts – küss mich erneut».

 

 
Peter Mackay

übersetzt von Dagmara Kraus

 

IN THE BRITISH MUSEUM
We pass from room to room

taking selfies

in mimic poses

occasionally catching the originals

reflected in the glass

Venus surprised at her bath,

Dionysus and his panther,

Dionysus and his ithyphallic satyrs,

the ram in the thicket from Ur,

Takhebhkeman, the berserker with his teeth,

 

and on those marbles,

buttressed, bruised, ordered, in state,

the hundred horses rearing in terror

bearing their decapitated riders

through walls that are pervious impervious.

 

 

 

Im British Museum 

 

Wir laufen von einem Saal zum anderen,
machen Selfies
in Nachäffposen
und erwischen hier und da die Spiegelung
eines Originals im Glas:
die Venus, im Bade überrascht,
Dionysos und seinen Panther,
Dionysos und seine ithyphallischen Satyrn, den
Schafbock im Dickicht aus Ur, Takhebkhenem,
den Berserker mit seinen Zähnen,

 

und, in Marmor,
gestützt, geprellt, geordnet, aufgebahrt,
die vor Schreck aufgebäumten hundert Pferde,
die geköpfte Reiter tragen,
quer durch Wände, durchlässige, undurchlässig.

 

 

Robin Robertson, geboren 1955 in Scone/Perthshire, 1997 gewann Robertson den Forward Prize für das beste Debüt mit seinem Gedichtband A Painted Field. Ausserdem zwei weitere Preise. Robertson ist auch als Verleger eine Institution der britischen Literatur, u.a. gab er die Werke von Seamus Deane, Anne Carson, J.M. Coetzen heraus.

 

Ulrike Draesner, 1962 geboren in München, lebt als Romanautorin, Lyrikerin und Essayistin in Berlin. Sie studierte Anglistik, Germanistik und Philosophie in München und Oxford. 2002 Preis der Literaturhäuser.

 

J.O. Morgan, geboren 1978 in Edinburgh, lebt auf einer kleinen Farm in den Scottish Borders. 2009 gewann er mit seinem ersten Gedichtband über den jungen Rocky von der Insel Skye den Aldeburgh First Poetry Preis. 2012 folgte die Gedichtsammlung Long Cuts, welche für den Scottish Book Award nominiert wurde und 2014 At Maldon.

Katharina Schultens, geboren 1980 in Kirchen/Sieg, Leonce- und-Lena-Preis 2013. Sie arbeitet seit 2006 an der Humboldt Universität und seit 2012 Geschäftsführerin der School of Analytical Sciences Adlershof. Sie studierte Kulturwissenschaften in Hildesheim, St. Louis und Bologna. Seit 1998 erscheint ihre Lyrik in Zeitschriften und Anthologien. 2014 wurde sie zweite Preisträgerin des lauter niemand-Preis für politische Lyrik IV.

 
Peter Mackay, geboren 1979 Isle of Lewis, schreibt sowohl auf Englisch als auch auf Schottisch-Gälisch. Er lebte in Glasgow, Barcelona, Dublin und Edinburgh und arbeitet derzeit als Dozent an der St. Andrews Universität.  Seine Gedichte sind in diversen Magazinen veröffentlicht, sein Gedichtband Boat House Boat erschien 2014 bei Acair Press.

 

Dagmara Kraus, geboren 1981 in Wroclaw, Polen. Sie studierte in Leipzig, Berlin und Paris Komparatistik und Kunstgeschichte sowie Literarisches Schreiben am Leipziger Literaturinstitut und wurde mit dem Prosanova-Publikumspreis 2008 und GWE-Förderpreis 2010 ausgezeichnet.

 

 

Aurélie Maurin, Thomas Wohlfahrt (Hg.)
VERSschmuggel reVERSible
Poesie aus Schottland und Deutschland

Wunderhorn Verlag Heidelberg 2015

208 Seiten, Klappenbroschur

€ 19,80

ISBN 978-3-88423-503-4

 

Herausgeber
Aurélie Maurin, geboren in Paris,  Studium der Literaturwissenschaft und Linguistik. Sie lebt seit 2000 als freie Übersetzerin, Literaturvermittlerin, Redaktorin und Musikerin in Berlin. Thomas Wohlfahrt ist Gründungsdirektor der Literaturwerkstatt Berlin und Leiter seit 1991. Der promovierte Literatur- und Musikwissenschaftler initiierte und leitete internationale Projekte.

 

 

 

Lyrik-Buchtipps

 

Hier stellen wir Ihnen drei Lyrikerinnen vor: Irene Habalik aus Wien, Ingeborg Kaiser aus Basel, Ruth Werfel aus Zürich. Zauberhafte Gedichte zum Jahresende und zum Jahresanfang.

Irena Habalik, geboren und aufgewachsen in Polen, lebt in Wien, Dolmetsch- und Publizistikstudium.  Mitarbeit bei Amnesty International. Zahlreiche Lyrikveröffentlichungen, u.a. Christine-Busta-Lyrikpreis 2006.

Ingeborg Kaiser, geboren in Neuburg/Donau, seit 1960 in Basel, arbeitete als freie Journalistin, ab 1968 diverse Veröffentlichungen von Prosa, Lyrik und Drama., u.a. Förderpreis ProLitteris 2012. 

Ruth Werfel, geboren in Zürich, stammt aus einer jüdischen Familie mit tschechisch-polnischen Wurzeln. Kulturjournalistin, Autorin, Herausgeberin und Kuratorin. 

 

 

 

Irena Habalik

 

Jemand

tauschte den Hut

gegen
das Buch
und ging
Homer?
Hölderlin?
wollen
die Passanten
wissen
Ein Buch wie
ein Garten
den man
bei sich trägt

 

 

 

Flug über Europa

Da liegst du unten in einem Mirakokon. Bist du
eine Fossilie? Ein erfundener Frass für die Flaxen?
Lichtjahre umspülen dich, dein Bild ein Phantom,
der Name aus drei Silben. Wahrheit oder Dichtung?
Zeus’ hochbetagte Tochter, krumm,
mit welken Brüsten. Jetzt schläft sie eingerollt
wie ein Embryo. Wartet sie auf die Neugeburt?
Jetzt schläft sie, träumt von Göttern, die sie
erretten? Leckt sie sich Wunden, bricht
ins Gelächter? Wäre sie gerne Freiheitskämpferin
eine Landspomeranze?
Träumt sie von Siegen Versäumnissen,
vom Fallen ins Ungewisse?
Ach Europa, in diesem Flugzeug auf 8000
Meter Höhe, wo sich Wolkendichte, Morgenröte,
Sternenfunken zu einem Vers verdichten,
fühle ich dich nahe, du lächelst wie Madonna
von Tschenstochau, du bist jung, schön,
eine Schönheit ohne Vergänglichkeit.
Ich bin aber nur ein Mann, wie du so sanft liegst,
möchte ich dich in die Arme nehmen, liebkosen,
bevor du aufwachst und mir eine runterhaust.

 

 

 

 

Irena Habalik
Aus dem Laub fallen Worte
Collection Montagnola
Ediert von Klaus Isele 2014
125 S., geb., etwa CHF 22.
ISBN 978-3-7357-4161-5

 

 

 

 

Ingeborg Kaiser

krähen

 

du hörst ihre
rufe siehst sie
um winterkronen
kreisen dunkler
als der morgen
das vogelpack das
freie und etwas
schmerzt

 

 

drehe den bleistift
zwischen den händen
lautlos das gestöber
der flocken fallen
aus der nacht
und wärmen

 

 

 

das gedicht
schweigt will
schweigen
ist ein gedicht

 

 

 

da war ein
stern in der
silvesternacht
nicht mehr doch
ein stern

 

 

 

 

 

Ingeborg Kaiser

vom schweigen sprechen
Collection Montagnola
Ediert von Klaus Isele
87 S., geb., CHF 21.40.

ISBN 978-3-7347-6264-2

 

 

 

 

Ruth Werfel

 

 

Der Blick

 

Über die Nasenspitze hinaus

über den Zeitungsrand
über den Horizont
über Land und über Meer
weit, weit hinaus geht der Blick und sieht:
Gräuel, Gemetzel, Gewalt
und es kehrt der Blick
mit erschreckter Miene
so schnell er kann
über die Nasenspitze dorthin zurück
wo sein Ausflug begann

 

 

 

Anderswo

Eine andere Welt
der Zugang
stecknadelgross
dort Freude Farben
Poesie

 

 

 

Auf Vogelschwingen

In Träumen
eingesponnen
das Leben
verschattet
nur selten
auf Vogelschwingen
in die Lüfte hinauf
zur Liebe

 

Ruth Werfel
Mit den Worten geht die Zeit
Collection Montagnola
Ediert von Klaus Isele 2015
115 S., geb., CHF 23.90.
ISBN978-3-7347-6960-3

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