FRONTPAGE

«Lyrikfestival und Lyrik-Taschenkalender 2016»

Von Ingrid Isermann

 

Die skeptische Erkundung der Sprache und die alltägliche Notwendigkeit, Kritik (aus)zuhalten auch über sich selbst, gehören zu den elementaren Voraussetzungen des Gedichteschreibens. Der Lyrik-Taschenkalender 2016 setzt das Gespräch über eidgenössische Dichtung und ihre Möglichkeiten fort. Das Literaturfestival Neonfische im Aargauer Literaturhaus Lenzburg am 21./22. November lädt zu Diskussionen ein.

Mit seinem Vierzeiler hat der melancholische Dichterpfarrer Eduard Mörike die Produktivkraft der Poesie beschrieben. Es ist ein doppelter Zweifel, der Zweifel an der Verlässlichkeit der Wörter wie auch der Zweifel an sich selbst:

 

«Mein Wappen ist nicht adelig/ Mein Leben nicht untadelig – / Und was da wert sei mein Gedicht, / Fürwahr, das weiß ich selber nicht».     (1871)

 

Der Lyrik-Taschenkalender 2016 setzt wie seine kalendarischen Vorgänger das Gespräch über zeitgenössische Dichtung und ihre Möglichkeiten und Grenzen fort. 17 Dichterinnen und Dichter aus Deutschland, Österreich und der Schweiz haben jeweils zwei Lieblingsgedichte deutscher Sprache ausgewählt und kompakt kommentiert. Der Herausgeber stellt seinerseits gemeinsam mit dem Lyriker und Essayisten Henning Ziebritzki alle am Taschenkalender beteiligten Autoren und Kommentatoren mit je einem exemplarischen Gedicht vor.

 

«Das Ziel aller Poesie sei die gesteigerte Gegenwärtigkeit dessen, wovon sie spricht», so lautet ein Aphorismus des Dichters Franz Josef Czernin. Wenn in der Kunst und in der Poesie etwas dargestellt wird so seine Überzeugung, dann geschieht es im Modus der Verwandlung. Im Lyrik-Taschenkalender 2016 finden wir viele Beispiele dieser Kunst der poetischen Verwandlung. Dabei vollzieht sich auch ein Prozess der Selbstbegegnung: Denn die Gedichte «flüstern aus demselben Kern, aus dem auch unsere Fragen kommen» (Katharina Schultens). Der Lyrik-Taschenkalender 2016 webt ein Netz aus Gedichten, poetischen Korrespondenzen und Kommentaren.

 

Jürgen Theobaldy, 1944 in Straßburg geboren, aufgewachsen in Mannheim, lebt heute in Bern. Studium der Literaturwissenschaft an den Universitäten in Heidelberg und Köln, sowie Berlin. Im Wunderhorn Verlag veröffentlichte er 1984 »Midlands/Drinks. Gedichte aus Rom« mit neun Zeichnungen von Joachim Palm, 2000 den Prosaband »In der Ferne zitternde Häuser« in der Reihe ›Edition Künstlerhaus‹, 2013 den Roman »Aus nächster Nähe« und zuletzt den Roman »Rückvergütung«.

 

Henning Ziebritziki, geboren 1961, studierte protestantische Theologie, promovierte 1992 in diesem Fach an der Universität Mainz und arbeitete zunächst als Pfarrer. 2001 wechselte er in die Verlagsbranche. Ziebritzki ist heute als Geschäftsführer und Lektor des Tübinger Verlags Mohr Siebeck tätig. Daneben schreibt er Gedichte und Essays.

 

Herausgeber: Michael Braun, geboren 1958 in Hauenstein/Pfalz, Studium der Germanistik und Politischen Wissenschaft, lebt als Literaturkritiker in Heidelberg. Er veröffentlicht Essays zu Fragen einer zeitgenössischen Poetik. 2007 bis 2011 gibt er den Deutschlandfunk-Lyrikkalender heraus (Wunderhorn), seit 2012 den Lyrik-Taschenkalender.
Judith Zander


und wo kein ausweg ist da bleibt
ein abweg und ein bleistift steht
geschrieben nicht: protect me oh
from what I want oh mund spuck aus
Geh aus mein Herz bloss raus und mach
die herzklappe von aussen zu

 

 

Zuerst war es ein leuchtendes Deckbild auf einer Werbetafel auf dem New Yorker Square im Jahr 1985.
Eine lyrische Miniatur, der Appell eines anonymen Ichs an sich selbst: «Protect Me from what I want!». Mit diesem Lyrismus begann die steile Karriere der amerikanischen Konzeptkünstlerin Jenny Holzer. Ihr Aphorismus wanderte von der Werbetafel auf viele T-Shirts – und wird nun auch zitiert in einem Gedicht der Lyrikerin Judith Zander (geboren 1980 in Berlin). Dieses Gedicht steht in Judith Zanders Gedichtband «manual numerale», der einem extrem nüchternen kalendarischen Bauprinzip verpflichtet ist. Auf der linken Textseite stehen Gedichte, denen rein numerisch ein Kalendertag vorangestellt ist, also eine
nackte Zahl zwischen 1 und 31. Auf der rechten Seite steht eine Monats-Zahl zwischen 1 und 12, und diese Zahlen geben dann die Zeilenzahl des jeweiligen Gedichts vor.

 

All diese Ernüchterungs-Anstrengungen dienen dazu, eine falsche Sentimentalisierung abzuwehren und in den Gedichten selbst eine Goethe-Zeile als poetische Maxime aufzubauen: «kühl bis ins Herz hinan». «Ich dachte lange», so Zander in einem Rundfunkgespräch, «dass so etwas wie Reim ausgereizt sei. Aber jetzt habe ich mir die Aufgabe gestellt, diese alte Form aufzufrischen. Reime zu finden, die es so noch nicht gegeben hat». Dieses Auffrischungsverfahren wendet sie auch auf den frommen Kirchenlied-Dichter Paul Gerhardt an, dessen Emphase sie konterkariert mit den bitterscharfen Sentenzen der Künstlerin Jenny Holzer: «Geh aus, mein Herz, und suche Freud / in dieser lieben Sommerzeit / an deines Gottes Gaben», heisst es in Paul Gerhardts Gedicht. Judith Zander setzt eine liebesskeptische Confessio dagegen. Im Bewusstsein der Ausweglosigkeit des Liebeswunsches bedarf es einiger Selbstschutzmassnahmen. Und dabei hilft auch das Verdikt Jenny Holzers «Protect Me from what I want». Eine deprimierende Botschaft: Man muss sich schützen gegen die Liebe – sie ist ein aussichtsloses Unternehmen.

Kommentar: Michael Braun

 

 

 

Lyrik-Taschenkalender 2016

Herausgeber: Michael Braun
Henning Ahrens, Urs Alleman, Marcel Beyer, Mirko Bonné, Nora Bossong, Paul-Henri Campbell, Franz Josef Czernin, Ulrike Draesner, Dagmara Kraus, Dirk von Petersdorff, Tobias Roth, Katharina Schultens, Jürgen Theobaldy, Gisela Trahms, Martina Weber, Levin Westermann, Judith Zander, Henning Ziebritzki, Martin Zingg.

Wunderhorn Verlag 2015
160 Seiten, € 15,80.

ISBN: 978-3-88423-500-3

 

 

 

NEONFISCHE Aargauer Literaturhaus Lyrikfestival Lenzburg

Lyrik/Poesie im Literaturhaus Lenzburg 


Samstag/Sonntag, 21./22. November   Tagespass: Fr. 25.-/20.-; Einzellesung: Fr. 15.-/12.-

 

Lyriker/innen aus Deutschland, Österreich und der Schweiz begegnen sich in diesem einzigartigen, zweitägigen Lyrikfestival in Werkstattlesungen und Gesprächen über ihre Texte, NEONFISCHE stellt das neueste Schaffen junger Lyriker/innen vor, aber auch Grenzgänger zwischen den Gattungen, die Lieblingsgedichte des Publikums werden von der Schauspielerin Miriam Japp vorgetragen und diskutiert und die Kunst des Anagramms steht im Fokus eines Workshops.

 

Mit Christoph W. Bauer, Sabine Gruber, Sascha Garzetti, Anja Utler, Klaus Merz, Ann Cotten, Markus Hediger, Eva Seck, Wolfram Malte Fues, Ueli Sager, Dieter Zwicky, Werner Morlang, Thomas Brunnschweiler, Nora Bossong, Wolfram Malte Fues, Ingrid Isermann, Kurt Drawert, Heini Gut, Andreas Neeser, Thilo Krause, Anna Isenschmid.

 

 

Impressionen vom Lyrikfestival NEONFISCHE  21.-23. November 2015:

 

«Was soll Lyrik?» 

 

Muss Lyrik etwas sollen? Soll sie verständlich sein? Wenn er seine Gedichte verstünde, so Rolf Hermann, würde er keine mehr schreiben: «schreibnäherung / alles ist oder nicht / und wir transkribieren / kopfstehend / ins ungefähre».  Kurt Drawert, writer-in-residence im Müllerhaus, sinnierte über die heutige Relevanz der Lyrik,  referierte über seinen Aufenthalt in Istanbul und las Prosagedichte von Trennung und Zweisamkeit: Aus: «Der Körper meiner Zeit  … nur im Alleinsein hat Zweisamkeit Bestand, weil sie so fern aller Zerstörungen bleibt. … Und das ist auch,  was bleibt: das Nichts und seine Ewigkeit».

Nora Bossong, einer Riesenameise auf der Spur, rezitierte: «Der Wald ist ein All / für die Riesenameise. / Sie weiss nichts von ihren entfernten Verwandten»Ann Cotten eröffnete mit ihrem Text einen Gruppensex-Genderdiskurs.  Eva Seck  füllte ein Zimmer mit Worten und imaginierte sich als weissen Kieselstein im türkisblauen See, während Anja Utlers sensitive Wahrnehmungen «entgegen zu stehen: eine verflechtung in neun teilen» Landschaften des äusseren und  innereren Universums visualisieren. Sascha Garzetti an eine unerreichbare Liebe: «Vielleicht, dass ich dir / einen Brief schriebe. / Du könntest ihn / zur Seite legen / Ohne ein Wort / darin zu lesen / bloss nachsehen / wo ich ihn aufgab / und mir sagen / wo ich zu Hause bin». Thilo Krause: «Wir sitzen und hüten Wörter wie Schafe. / Wen kümmert’s, dass sich Regen verdichtet / dass Regen sich aufmacht wie ein Kranker zum Haus. / Zu sterben bleibt Zeit, zu zählen ob an jeder Hand / die Finger noch für einen Reim genügen». Klaus Merz las Kürzest-Gedichte vor, die ganz verschieden interpretiert wurden.

 

Und das ist wohl das Merkmal der Lyrik: nicht nur eindeutig ist sie, sondern vieldeutig, mehrdeutig im besten Sinn. Der Metaphern und Allegorien in lyrischen Texten sind viele, vom lyrischen Ich ausgehend bis zum fernen Du, bis zu den Sternen und zurück; Fragmente einer Sprache der Liebe, wie es Roland Barthes, der Deuter kultureller Mythen und Moden, nannte. Lyrik ist das Assoziative, das sich in Kreisen und Labyrinthen bewegend auf verschiedenen Ebenen verdichtet.

 

Bei den eingesandten Lieblingsgedichten, konzertiert von der Schauspielerin Miriam Japp vorgetragen, machten Bertolt Brechts programmatische «Legende von der Entstehung des Buches Taoteking auf dem Weg des Laotse in die Emigration« und Mascha Kalékos gegensätzliches Gedicht «Sozusagen grundlos vergnügt» das Rennen um die Publikumsgunst. Oskar Pastiors «Wollflauschmantel» verstörte mit seiner «differenz am trivial», kaum als Kalauer zu verstehen: «sooft man an den köpfen dreht / also das differenz am trivial / das widersteht im regelfall».

Es ist dem Aargauer Literaturhaus, unter der kundigen Leitung von Bettina Spoerri, für dieses fabelhafte Lyrikfestival ein Kränzlein zu winden, das Menschen von nah und fern zusammenbrachte, um der Lyrik sprich des Zusammen-Seins willen.
Ingrid Isermann

 

 

 

Programm

 

Samstag, 21. November 10.15 – 18 Uhr

10.15 – 12 Uhr Annagrammieren

 

Werkstattgespräch und -lesung:

mit Andreas Neeser, Markus Hediger, Thilo Krause. Moderation: Martin Zingg

 

 

14.30 – 16 Uhr Lesung und Gespräch junge Lyriker/innen:

mit Eva Seck und Sascha Garzetti (Neuerscheinungen). Moderation: Martin Zingg
16.30 – 18 Uhr Lesung und Gespräch:

mit Sabine Gruber, Klaus Merz, Nora Bossong. Moderation: Martin Zingg

 

 

 

Sonntag, 22. November 10.15 – 18 Uhr

 

10.15 – 11.45 Uhr Werkstätten:

Werkstattgespräch und -lesung mit Christoph W. Bauer, Nora Bossong, Ann Cotten. Moderation: Christine Lötscher

 

 

Werkstattgespräch und -lesung:

mit Markus Hediger, Ingrid Isermann, Anja Utler, Wolfram Malte Fues. Moderation: Bettina Spoerri

 

 

Werkstattgespräch und -lesung:

mit Sabine Gruber, Sascha Garzetti, Thilo Krause. Moderation: Manfred Papst
13.00 – 14.30 Uhr Matinée im Festsaal:

mit Rolf Hermann, Wolfram M. Fues, Ann Cotten, Kurt Drewert, Klaus Merz. Moderation: Christine Lötscher

 

 

14.45 – 16 Uhr Gespräch:

Dieter Zwicky im Gespräch mit Bettina Spoerri. Werner Morlang ist nach schwerer Krankheit kurz zuvor verstorben.

 

 

14.45-16 Uhr Lesung ‚Lieblingsgedichte‘

Miriam Japp liest Lieblingsgedichte des Publikums, Autor/innen diskutieren;

mit Klaus Merz, Anja Utler, Rolf Hermann. Moderation: Manfred Papst

 

 

16.30 – 18 Uhr Werkstätten;

Werkstattgespräch und -lesung mit Andreas Neeser, Eva Seck, Christoph W. Bauer.

Moderation: Manfred Papst

Werkstattgespräch und -lesung:

mit Ingrid Isermann, Rolf Hermann, Kurt Drawert. Moderation: Christine Lötscher

 

Moderationen: Martin Zingg, Christine Lötscher, Manfred Papst, Bettina Spoerri

 

www.aargauer-literaturhaus.ch 

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