FRONTPAGE

«Martin Kubaczek: Palais Rotenstern. Gedichte»

Von Ingrid Isermann

 

 

Die Geschichten eines Hauses – von den Deportationen in der einst jüdischen Vorstadt bis zu Asylanten und Migranten, die hier nun Zuflucht finden, von den Studenten in der WG, von Hoffesten, Neonazis und den letzten alten Bewohnerinnen.

Hinzu kommt der neue Besitzer, für den das Haus Spekulationsobjekt ist, in das er nichts mehr investiert.
 Auch der Erzähler wohnt im gleichen Haus, in einem kleinen, hofseitigen Anbau. Er pflegt den Garten und die Grünpflanzen im Hof, übersprüht Hakenkreuze auf den Altpapier-Containern und flickt sein Dach gegen den langsam einsickernden Regen.
 Seine Begegnungen, Szenen und Dialoge mit den Bewohnern des Hauses und der Nachbarschaft verzeichnet er zu knappen lyrischen Notaten.

 

Ob vom Obdachlosen, der sich ein Nest unter der Kellerstiege einrichtet, vom joggenden Trafikanten oder von der einst bekannten Kunstpfeiferin die Rede ist, sein Blick auf die alltägliche Situation verleiht nicht nur der Person Kontur, sondern macht sie auch in ihrem sozialen Umfeld, als Teil ihrer Geschichte sichtbar.

 

 

 

KUNSTPFEIFERIN 

 

 

Ich bin ein Mann, hab mich Janette genannt
grosszügig, üppig, dominant, habe getanzt
Janette genannt, großzügig, dominant, habe
für Schah und Scheiche in Arabien
mit weißer Robe, Zigarettenspitz, ich war

 

begehrt, ein Star, mit langen Beinen, auf Fotos
gut zu sehen, ging auf Tournee, bin aufgetreten
behandschuht bis zum Arm, André hat mich
für seine Show entdeckt, ich konnte ganze

 

Symphonien pfeifen, wurde in fünfzig Ländern
gesehen und übertragen, hier um die Ecke
bin ich mit Josephine Baker aufgetreten
im Varieté Pigalle, Zirkusgasse, Nachtcafé

 

Wiegt sich, nachdenklich, im Vorübergehen
mit Perücke, goldener Schmuck, die großen Brüste
wie sie mich anblickt, abwägend, ob einer wie ich
verstehe, die Braue, die sie fragend hebt.

 

 

KAPITAL

 

Ist er Foucault-Übersetzer? Hegel-Dissertant?
Liest er Marx? Zigarette in einer Hand
steht im Laden vor der Schreckbilderwand
bedient mit der anderen, nimmt Geld

 

entgegen, reicht es hinab, da sitzt
hinter Stapeln von Zeitungen und Illustrierten
eine ältere Dame, Frau oder Tante, nimmt
legt in die klingelnde, rasselnde Kassenlade,

 

reicht ihm Retouren, während er rasch
einen Zug nimmt, inhaliert, den Rauch
zur Decke ausbläst, greift nach Waren
zieht Laden auf, dreht und bewegt sich

 

aus den Hüften, tanzt, choreographiert
den Warentausch, prüft und studiert
wendet sich dem Nächsten zu, fragend
die gehobene Braue, gerunzelt die Stirn.

 

Beim Joggen kommt er mir entgegen
leicht vorgebeugt, die hohlen Wangen
das lange Haar zurückgestreift in Strähnen
fixiert auf einen Punkt am Ende der Allee.

 

Die dicken Brillengläser, will mich nicht
kennen, denkt irgendwie entlegen, joggt
verfolgt Gedanken auf seinen Wegen
raucht Gauloise ist anzunehmen.

 

 

FADENKREUZ

 

Er ruft nach mir, wie macht man ein Foto?
Zieht heraus ein zerknittertes Papier, entfaltet
die Kopie von einem Pass: Asyl, lese ich, und: Syrer.
Zeigt mir das Geld für den Apparat, haben Sie Zeit?

 

Die junge Frau mit Kopftuch setzt sich nieder
Ich stelle die Sitzhöhe ein, sie hält die Münzen bereit
Vorhang zu, bis das Gesicht sich so fügt
in die Graphik, im Oval ein Fadenkreuz

 

Für Augen und Mund, nicht lächeln, nur
von vorne hinsehen, Brillen mit dicker Fassung
gehören weg, ist das Foto für einen Pass? Nein
Dann passt es, mit Kopftuch wäre es schlecht

 

Meine Schwester, sagt er stolz, und manchmal
übersetzt sie, aus dem Apparat kommen die Bilder
Sie lernen Arabisch hier, jetzt fahren sie wieder
dass er Tischler sei, aber es gäbe keine Arbeit.

 

In der U-Bahn tauschen wir Telefonnummern aus
Ein älterer Herr reicht mir wortlos seinen Füller
Ich verstehe das als Zeichen der Anerkennung
Wie alt sie sei? Siebente Klasse. Und er?

 

Zählt ab an den Fingern: Dreiundvierzig!
Sie schlägt und boxt ihn. Er schaut verwundert
Deine Tochter bin ich! Ruft sie
Ein Engel schickt dich, lachen wir.

 

 

Martin Kubaczek, geb. 1954 in Wien, studierte Violine an der Musikakademie Wien sowie Germanistik und Philosophie. Von 1990 bis 2007 war er mehrfach Lektor, Dozent und Gastprofessor in Tokio und Nagoya, Japan. Zurzeit lebt er als Schriftsteller, Literaturvermittler und Violinist in Wien.

Zuletzt erschienen «Sorge. Ein Traum» (2009), «Die Knie meiner Mutter und mein Vater im Krieg» (2011) und in der Edition Korrespondenzen «Nebeneffekte» (2015).

 

 

Martin Kubaczek
Palais Rotenstern
Porträts, Skizzen, Begegnungen
Edition Korrespondenzen, Wien 2018
Originalausgabe
 105 Seiten,
Hardcover, Fadenheftung, Lesezeichen
€ 18,00
ISBN 978-3-902951-29-8

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